Читать книгу Der Betroffenheitskult - Cora Stephan - Страница 8

Politikverdrossenheit

Оглавление

Wer heute über Mangel an politischer Führung klagt, muss hinzufügen, dass just diese Ware in den hedonistischen 80ern nicht sonderlich nachgefragt war, weshalb es uns nicht wundern sollte, dass die damit einhergehenden Kompetenzen verschwunden sind. Zwar ist, wie gesagt, «die Gesellschaft» keine Ersatzkategorie für «die Politik». Aber ansonsten besteht zu Überheblichkeit kein Anlaß: Wir haben hierzulande vielleicht nicht die Politiker, die wir verdienen, wohl aber solche, die ihr Ohr dem Raunen des Zeitgeistes besonders eifrig geöffnet haben — ein Fortschritt (oder nicht?) gegenüber starrsinniger Prinzipienreiterei und konventioneller Unbeweglichkeit.

Natürlich ist das ungerecht, dieses dauernde Schimpfen auf die politische Klasse, die nörgelige Politik- und Parteienverdrossenheit von Bürgern, Wählern und Meinungsbildnern, dieses allgemeine Naserümpfen über all das, was zuvor noch als erstaunlich zivil, modern und «realistisch» durchgehen mochte. Worüber wird geklagt? Hatte der aufgeklärte westdeutsche Mensch nicht längst gelernt, den Wahlkampf der Parteien als branchenüblichen Theaterdonner zu durchschauen, die Profilierungsdebatten und Hahnenkämpfe nicht weiter ernst zu nehmen und auch politische Phrasendrescherei noch als Teil jener Demokratie westlichen Zuschnitts zu lesen, deren Nachteile groß, deren Vorteile aber noch größer sind? Woher heute die Erregung über das Menschlich-Allzumenschliche auch bei Politikern, woher der saubermännische Eifer beim Enttarnen eines Rotlicht-Lafontaine oder eines Streibl-Amigos und eines Putzfrauen-Krauses?

Nein, die Skandalaufdeckerei, jede Woche neu, ist öd und blöd — und, ehrlich gesagt: Die politische Klasse hatte schon schlimmere Verdachtsmomente gegen die junge Nachkriegsdemokratie auszuräumen. Die allzu bereitwillige Integration vieler Nazis nicht nur in die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft, was verdienstvoll war, sondern auch in die höheren Ränge der Politik - von Globke bis Filbinger —, hält noch heute bei vielen Nachkriegsgeborenen ein luxurierendes Misstrauen in die bundesdeutsche Demokratie wach. Ein Effekt, über den man auch, was den Osten Deutschlands betrifft, immer mal wieder nachdenken sollte.

Im Unterschied zu dem bisschen Bereicherungslust und Amtsmissbrauch, über die wir heute reden, war die Parteispendenaffäre, zum Beispiel, nicht nur eine Angelegenheit weit höherer Beträge, sondern auch produktiver Anlass zur Selbstbelehrung von Politik und Publikum über das, was in der Demokratie lässlich und was skandalös ist. Heute bestätigen die Histörchen über eine neuerliche Vorteilsnahme lediglich das grassierende Ennui: Wie verächtlich sie doch ist, die politische Kaste, die sich aus minderen Beständen rekrutieren muss, weil ein Mensch von Verstand und Niveau sich auf das «schmutzige Geschäft» Politik nicht einlassen würde! Die Empörung über die «Selbstbedienungsmentalität» der Parlamentarier und die Cliquen- und Klientelwirtschaft der Kommunalpolitiker sollte nicht vergessen machen, dass Führungskräfte in der Wirtschaft des Zigfache dessen verdienen, was der Oberbürgermeister, sagen wir mal: Frankfurts am Main, nach Hause trägt — der übt sein Amt unter schwierigeren Bedingungen aus zumeist und selten mit weniger Kompetenz.

Die Empörung über den Bereicherungswillen öffentlicher Personen ist seltsamerweise weit größer als die Entrüstung über ihre falschen oder fehlenden Entscheidungen. Vor allem aber spielt in den Debatten über den moralischen Zustand unseres Führungspersonals die für den Zustand der Demokratie viel entscheidendere Frage keine Rolle, ob nicht der wahre politische Skandal weniger im Fehlhandeln zu eigenen Gunsten liegt, sondern im Gegenteil: Im Abweichen von den politischen Regeln aus hochmoralischen Gründen, etwa eines vermuteten nationalen Notstands wegen. Das Gespür für die Regeln bleibt unentwickelt, wenn es sich allein auf den verächtlichen Eigennutz bezieht — aber wie schon im 19. Jahrhundert ist auch heute noch dem aufgeklärten Publikum die «Interessiertheit» das Suspekte, nicht aber die Verletzung des Procedere, wenn es, angeblich, um Höheres geht.4

Überdies könnte sich unsere Gesellschaft in dieser Hinsicht ja der Wirksamkeit öffentlicher Kontrolle regelrecht rühmen: Letztlich fliegt bei uns nämlich alles auf, vor allem die kleine Schweinerei. Doch auch das ist ein schwacher Trost, seit uns Aussitzkünstler wie Helmut Kohl oder Manfred Stolpe darüber belehrt haben, dass nur gehen muss, wer dazu von der politischen Klasse und den in ihr obwaltenden Machtverhältnissen gezwungen wird. Mit den jüngsten Demissionen von Regierungsmitgliedern haben wir letztlich gar nichts über die Maßstäbe erfahren, an denen hierzulande Verhalten gemessen wird — weshalb das Publikum zu viel Wohlanständigkeit lieber nicht nachfragen sollte. Die kleinen Sünden der Politiker sind das Spielmaterial, mit denen ihr politischer Gegner sie gegebenenfalls aus dem Geschäft räumen kann, begleitet vom Beifall der Öffentlichkeit. Solcherlei Säuberungsaktionen ändern nichts an der Qualität unserer Politik und befriedigen auch ein verärgertes Publikum nur kurzfristig.

Dass Politiker nicht tun, was und wie sie sollen, ist unübersehbar. Doch das an den Stammtischen der Nation gepflogene gesunde Volksempfinden der postmodernen Art, wie es in den Meinungsblättern kolportiert wird, drückt sich vor der unangenehmen Erkenntnis, dass wir noch immer das politische Personal haben, was «die Gesellschaft» der 80er Jahre nachgefragt hat — eine Gesellschaft, die sich viel auf ihre postnationale Identität eingebildet hatte, auf ihr auf- wie abgeklärtes kosmopolitisches Selbstverständnis, auf ihre Distanz zu allem, was früher einmal als besonders deutsch galt und mit den Vokabeln Pflicht, Fleiß und Ordnung bezeichnet ist. Dass Politiker heute verkünden, sie hätten «Lust» auf Politik und seien ganz heiß auf die Macht und «verliebt ins Gelingen» — dieses postmoderne Geschwätz haben wir, die Wähler, ihnen beigebracht. Oder hat irgendwer noch bis vor kurzem von ihnen gefordert, sie sollten, verdammt noch eins, einfach mal ihre Pflicht tun und nicht soviel herumreden?

Was Wunder also, dass uns eine gelehrige politische Klasse, in Bedrängnis geraten, heute beim Anspruch packt und den Wählern die avancierten Sprüche von gestern zurückspielt: Man dürfe nicht alles der Politik anlasten und ihr überlassen, man solle nicht alle Erwartungen an den demokratischen Staat und seine Institutionen richten, auch die Gesellschaft sei gefragt. Da das natürlich — irgendwie! — immer auch richtig ist, zuckt die mündige Bürgerin getroffen zusammen. Wer will sich schon bei obrigkeitsstaatlichen Sehnsüchten ertappen lassen?

Die These, dass die «Basis» bestimme, wo‘s lang geht, und nicht «die da oben», war richtig und wichtig beim Erwerb staatsbürgerlicher Kompetenzen, die heute uns aufgeklärte Bürger so auszeichnen. Sie entstammt überdies einer Zeit, als die Grenzen zwischen staatlichem Handeln, politischem Gestalten und gesellschaftlicher Selbstverpflichtung zu verschwimmen schienen. Es käme heute hingegen darauf an, die jeweiligen Aufgabenbereiche wieder deutlich voneinander zu scheiden: Tatsächlich brauchen wir alle drei Ebenen. Da indes politisches Handeln und Gestalten so eklatant ausbleiben, macht der Verweis auf «die Gesellschaft» misstrauisch. Heute, behaupte ich, hat die These von der Dominanz des Lebensweltlichen gegenüber dem im klassischen Sinn Politischen eine Funktionsveränderung erfahren — von einer progressiven Behauptung des mündigen Bürgers gegen den Obrigkeitsstaat ist diese These zum Entlastungsangriff der politischen Klasse auf den verdrossenen Bürger geworden.

Der Betroffenheitskult

Подняться наверх