Читать книгу Der Betroffenheitskult - Cora Stephan - Страница 12
Die Toskanafraktion
ОглавлениеWas man der Regierung 1990 noch verzeihen mochte — wer hatte schon Übung in Sachen deutscher Vereinigung? —, das verübelte eine beträchtliche Anzahl bundesdeutscher Wählerinnen und Wähler der Opposition, den Grünen, die prompt aus dem Bundestag herausgestraft wurden, und der Sozialdemokratie. Zwar hatten die Bundesdeutschen längst, mit Oskar Lafontaine, die «Steuerlüge» der Regierung erkannt, die tat, als ob sich die «blühenden Landschaften» im Osten aus der Portokasse des Westens bezahlen ließen. Aber die SPD ließ, außer geschmäcklerischem Ressentiment, auch kein Konzept für die Ausgestaltung der deutschen Einheit erkennen. Dabei hatten sich sogar jene Teilhaber der hedonistischen Mittelschicht mit der Wiedervereinigung sehr rasch abgefunden, die anfangs noch gehofft hatten, die Bürger der DDR würden den für die Bundesbürger weit bequemeren «Dritten Weg» gehen, statt auf die Verwirklichung des Wiedervereinigungsgebots des Grundgesetzes zu pochen. Sie, die nationale Gefühle wahrlich nicht beflügelten, waren realistischer als die an Leipzig und Dresden desinteressierten und lieber den Insignien des frisch gelernten Lebensstils hinterherweinenden Genossen. Nach 1989 wirkte die SPD, als ob sie nur auf das nahe westeuropäische Urlaubsgebiet fixierte, baguette- und mozarellaverzehrende Seidenhemdträger und Pfeifenraucher aus der Weißwein- bzw. Toskanafraktion aufzubieten hätte. Denn der eben noch als «Enkelgeneration» gefeierte neue Politikertypus, der, mit allen Wassern symbolischer Politik gewaschen, im Dreivierteltakt Glaubwürdigkeit, Nachdenklichkeit, Neue Werte und «Streitkultur» absonderte, erwies sich erkennbar als den neuen größeren Problemen ebenso wenig gewachsen wie die Regierung.
Dabei war er unter Schmerzen geboren worden: Jene hedonistische Wende, die Björn Engholm und Oskar Lafontaine nachgerade verkörperten, wurde erst seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre von einer noch zehn Jahre zuvor an die proletarischen Stammwähler geketteten und damit von Marginalisierung bedrohten sozialdemokratischen Altpartei vollzogen. Was hatte die Sozialdemokratie mit ihrem Kalkül auf die hedonistische Schicht unter den Wählern übersehen?
Denn eigentlich schauen die Westdeutschen mittleren Alters im Schnitt doch immer noch so aus wie jene nachdenklichen Pfeifenraucher und Weißweintrinker der «Toskanafraktion». Sie pflegen, an der Stelle von Pflicht, Leistung, Treue oder Heimatverbundenheit, die von Wahlforschern so genannten «fortschrittlich-gesellschaftskritischen Freiheits- und Entfaltungswerte wie Selbstverwirklichung und freie Meinungsäußerung».11 Ihrer postmateriellen Ausrichtung tragen Enkel-Bemerkungen Rechnung, die «Pflicht» in das Reich von Sekundärtugend und KZ verweisen und «Musse» dem progressiven Habitus zuschlagen. Der neue Mittelstand fand und findet Selbstverwirklichung und gute Gefühle beim «Freizeit» genannten Privatleben wichtiger als Arbeit und Pflicht. In diese Welt passen beide prima: der so unorthodox wirkende Saarländer Lafontaine, der der Dürrenmatt-Witwe Charlotte Kerr munter von «Fressen, Saufen, Vö...» (wie die Bild-Zeitung schrieb) als von primärer Lebensbedeutung erzählte, wie auch der «nachdenkliche» Björn Engholm, der jederzeit glaubwürdig versicherte, wie es bis dato Spezialität von Rita Süssmuth war, dass er sich von der Politik nicht «verbiegen» lassen wolle und auch mal die Pflicht Pflicht sein lasse, des nachdenklichen Spaziergangs durch irgendeine schöne meerumschlungene Landschaft wegen. Tatsächlich hatte die SPD eher spät den wichtigen Veränderungen Rechnung getragen, die sich seit dem Ende der 70er Jahre aus dem bundesrepublikanischen Wählerverhalten ablesen ließen. Wir kennen alle das Ergebnis: Das Segment der Nicht- und der Wechselwähler nimmt zu, die Bindung an Parteien und deren Verknüpfung mit konfessionellen oder sozialen Milieus nimmt ab. Die «postmateriellen» Werteorientierungen der größer gewordenen «neuen Mittelschicht» schienen nahezulegen, dass sie der direkten, unmittelbaren politischen Beteiligung einen besonders hohen Stellenwert zumaß und der repräsentativen Demokratie skeptisch gegenüberstand. Hier waren sicherlich jene zu finden, die Hans Magnus Enzensberger applaudierten, als er 1987 von einem «Zurückwachsen» der Politik in die Gesellschaft sprach.
Haben die Strategen der SPD mit ihren «weichen» Themen, mit Frauenfreundlichkeit und Pfeifengemütlichkeit, aufs falsche Ross gesetzt — in der ja verzeihlichen Annahme, es werde schon alles so weitergehen im Schneewittchensarg, im Wohlstandsland Bundesrepublik in seiner weltpolitischen Nische, bis 1989 wohl abgeschirmt vom Rest der Welt dank fehlender außenpolitischer Souveränität und vor allem dank dem Eisernen Vorhang, durch den es jetzt so kalt zu wehen beginnt? Das wäre sicher bitter. Für die SPD gestaltete sich nämlich die Zuwendung zu jenem in seiner wachsenden Bedeutung spät erkannten Wählersegment besonders schwierig: Sie musste ihre proletarischen Stammwähler enttäuschen, jene knorrigen Eichen aus dem Holz der deutschen Arbeiterbewegung, die ihren Bebel noch präsent hatten und in Lebensstil und politischen Orientierungen konventionell bis konservativ waren und denen der ordnungsliebende Jochen Vogel weit näher stand als der undurchsichtige Genießer Oskar Lafontaine. Wie zum Hohn verkünden Wahlforscher heute die wiederum neue Erkenntnis, dass die neuen Mittelschichten mit ihren unzuverlässigen Neigungen denn doch keinen Ersatz für die «verprellten Kernwählersegmente»12 böten und dass alte Milieuorientierungen durchaus weiterwirkten — auch, übrigens, die Einteilung der Welt der Politik und der Gesinnung nach links und rechts.
Pech für den alten Tanker SPD, dass er die erste Kurve zu spät gekriegt und die Gegenbewegung seit 1989 erst langsam in Angriff nimmt — das Schicksal teilt er mit der CDU. Denn die wachsende Politikverdrossenheit der Wähler hängt womöglich mit einer ganz realistischen Einsicht zusammen: Die neuen «Dienstleistungsparteien» mit ihren Politmanagern an der Spitze anstelle der Horte strenger Weltanschauungen unter beinharten Parteiführern sind Schönwetterkonstrukte und gut für Zeiten, in denen noch was zu verteilen ist. Für wachsenden Problemdruck sind sie nicht geschaffen. Dem aber ist die heute etwas größere Bundesrepublik, ist das neue Gesamtdeutschland zunehmend ausgesetzt. Auch ist die soziale Kohäsion aufgrund denn doch weitgehend ähnlicher Lebenslagen, die die alte Bundesrepublik so stabil machte, spürbar dahin. Das Land muss nicht nur mit dem keineswegs abnehmenden Ost-West-Gegensatz fertig werden, sondern den wachsenden Migrationsströmen ein Integrationskonzept entgegensetzen, worüber es noch nicht einmal in Andeutungen verfügt.13
Ein kollektives Selbstbewusstsein, eine aufgeklärte «nationale Identität» aber fehlt, die angesichts neuer Herausforderungen ein Minimum an Orientierung bieten könnte. Plötzlich erhoffen sich auch jene «politische Führung», die bis dato den Bedeutungsverlust klassischer politischer Bereiche und das Primat gesellschaftlicher Regelungsversuche eher begrüßt und auf den Appell an nationale Solidarität nichts gegeben haben.14 Ist nach dem Softie gleich schon wieder der starke Mann gefragt? Oder handelt es sich lediglich um jene Konjunkturen des Politischen zwischen Engagement und Abwanderung, die Albert O. Hirschman so meisterlich beschrieben hat?15