Читать книгу Der Betroffenheitskult - Cora Stephan - Страница 9
Vom Verschwinden der Pflicht
ОглавлениеDenn schließlich: Wir haben die Politiker, die wir uns erzogen haben. Bei liebevoll-nachsichtigem Blick auf sie müssen wir ihnen zugestehen, dass sie in den 80er Jahren in ihrem zutraulichen Opportunismus und Populismus die erstaunlichsten Lernprozesse vollführt haben. Vor allem ein Bündel urdeutscher Eigenschaften ist vielen von ihnen dabei völlig abhanden gekommen: das, was Oskar Lafontaine einst mit Adorno als «Sekundärtugenden» an Altbundeskanzler Helmut Schmidt verworfen hatte, jene preußische Pflicht- und Ordnungsliebe, mit der man «auch ein KZ betreiben» könne.
Was «sekundär» heißt, ist, natürlich, in der moralischen Hierarchie schon mal abgewertet — und nichts könnte einem wichtigen und wachsenden Teil der Deutschen heute ferner liegen als die Akklamation solcher früher als typisch deutsch geltenden Tugenden wie Pünktlichkeit, Pflicht- und Verantwortungsgefühl, Zuverlässigkeit oder gar Ruhe und Ordnung, Regelorientierung, Vertragstreue. Ganz zu schweigen von der «Haltung» und den «Manieren». Bevor nun darüber zu reden wäre, ob ihr Verschwinden überhaupt zu beklagen ist, wer wieder einmal daran schuld war (die 68er, wer auch sonst!) und ob man überhaupt neu bekräftigen kann, was so deutlich jeglichen bindenden Einfluss verloren hat, sollte man sich noch einmal diese Kulturrevolution vor Augen führen, die das jahrhundertealte Bild dessen, was angeblich deutscher Nationalcharakter ist, so gründlich zerstört hat.5
Die Sekundärtugenden wie Pflicht- und Verantwortungsgefühl haben, jedenfalls was ihre Belobigung in der Öffentlichkeit betrifft, völlig abgewirtschaftet zugunsten von Einstellungen, die der postmateriellen Werterevolution zugeschlagen werden. Von «Pflicht» ist nicht mehr die Rede, seit wichtiger geworden ist, dass man «Lust» auf etwas hat. Von «Verantwortung» redet nicht, wer den Imperativ von der «Selbstverwirklichung» noch im Ohr hat. Statt um «Arbeit» kreisen anerkannte Werte heute um den «Erlebniswert» von Sachen, Ereignissen und Personen.6 Es kommt, mit anderen Worten, weniger darauf an, was man tut oder lässt, sondern wie man sich dabei fühlt.
Erst der Vergleich macht deutlich, wie sehr dieses Lebensgefühl in die Politik eingebrochen ist, in diesen Bereich, der noch den Schein von Öffentlichkeit sui generis reklamiert. Noch in den 60er Jahren galt die Politik als harte, männliche Domäne, als gänzlich unsentimentale Angelegenheit, als Reich, in dem Sachlichkeit regiere, zusammen mit Pflicht, Verantwortung und Ordnung, Tugenden, denen gegenüber als privat wahrgenommene Empfindungen wie Gefühle etc. zurückzustehen hätten. «Das gehört nicht hierhin!» ist ein Satz, der uns, die wir in den 60er Jahren heranwuchsen, in die Disziplin der scharfen Trennungen der Bereiche nahm: Hier war das Reich der Empfindungen, das ganz nahe am Reich der Hausfrau lag, dort war die Domäne des Sachlichen, in der Männer mit harten Zügen um den Mund das Sagen hatten — Gesichtszüge, die sich dem lastenden Gewicht der Welt verdankten und die nur zu Weihnachten weich wurden, wenn ihr Träger in seiner Ausformung als «Vati» zu Hause für wenige Stunden die Zeitung sinken ließ.
Heute würde man diesen Typus womöglich «überkontrolliert» nennen, damals entsprach es der «Haltung» und dem Komment, die Fassung nur dort zu verlieren, wo es ausdrücklich erlaubt war: Auf Karnevalssitzungen, beim Betriebsausflug (aber bitte nicht zu sehr), am Vatertag. Kaum etwas darf man sich als abschreckender vorstellen als diese kontrollierte und gutorganisierte Fröhlichkeit — oder auch die Jovialität, die der Bürger zu solchen Anlässen über Untergebene oder Angehörige der unteren Klassen ergehen ließ. Doppelmoral und Höflichkeit verdeckten in den Kreisen der nivellierten Mittelschicht nur dürftig das geballte Ressentiment derjenigen, denen Hannah Arendt bei ihren Deutschlandbesuchen in den 50er Jahren begegnete: Den zu Unrecht vom Schicksal gestraften Herrenmenschen a.D.
Alte deutsche Politikverdrossenheit hatte sich am Desaster des Dritten Reichs neu aufgeladen und sich mit den Insignien kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit verbündet. Zum neuen-alten guten Ton gehörte ein entwickeltes Gespür dafür, was wann statthaft war. Während uns heute ein gutes Gespräch über das Wetter, also das, was man mit Fug «Konversation» nennen könnte, schwerlich noch gelingen dürfte, die Meinungen über Politik und Zeitgeschehen aber jederzeit abfragbar sind, war es damals in gutbürgerlichen Haushalten höchst unstatthaft, beim Essen über Politik oder das Geschäft zu reden — und wildfremden Menschen hätte man niemals die politische Meinung offeriert, man hätte ihnen ja auf die weltanschaulichen Zehen treten können.
Wie segensreich solcherlei Grenzziehungen sein können, wie wichtig und legitim sie im übrigen sind, wenn es in einer Gesellschaft darum geht, sich wieder zu «fassen», «Haltung» zu gewinnen, musste den Nachgeborenen entgehen. Meine Generation kämpfte einen unerbittlichen Kampf gegen die Verlogenheit der Formen und die Unbiegsamkeit der Regeln und attackierte gnadenlos auch Feinheiten im menschlichen Umgang, die man der Zivilisiertheit hätte zuschlagen können, wären sie nicht von den «falschen» Leuten verteidigt worden.
Viele Kategorien des Umgangs, die selbst nach zwei Jahrzehnten des Beziehungsgesprächs noch als «ehrlicher» und damit auch als moralisch unanfechtbar erscheinen, verdanken sich nicht nur der postmateriellen Werterevolution, sondern der jüngeren deutschen Geschichte, die den Generationsbruch der 60er Jahre so besonders tief werden ließ. Das Erlebnis eines lähmenden wie aggressiven, eines «lauten» Schweigens der Eltern einte die rebellierende Jugend von 1968, die hinter der Wortkargheit der gerade vom Ärmelhochkrempeln und Aufbauen heimgekehrten Elterngeneration nichts als Schuld mutmaßte. Hier liegt, zumindest in Westdeutschland, eine der Wurzeln des tabubrechenden Redezwangs der Nachgeborenen — den Hinweis auf die zivilisierende Wirkung des Schweigens, auf die gebotene Rücksichtnahme auf den anderen, deuteten wir regelmäßig als Verschleierungstaktik. Denn hinter den um Fassung und Haltung bemühten Vätern witterten wir den nationalsozialistischen Massenmörder oder wenigstens den Mitläufer - eine Kategorie Mensch, für die die moralisch hochgestimmte Jugend noch nie und nirgends viel Verständnis aufgebracht hat. Das übergroße Misstrauen gegen alles, was «Normalität» für sich reklamiert, ebenso wie das Urvertrauen in das gute, das offene Gespräch, die Forderungen nach «Identität» und «Authentizität» resultieren aus diesem Verdacht: Hinter der zivilisierten Fassade lauere das Monster, weshalb dem Biedermann die Charaktermaske vom Gesicht gerissen gehöre.
Die rebellierende Jugend damals reklamierte die Gefühle gegen den Sachzwang, die subjektive Betroffenheit gegen die «Scheinobjektivität», etwas, das höchstens noch vom «verdinglichten» Bewusstsein ins Feld geführt wurde. Dieser Feldzug gegen die Sekundärtugenden hat überreich Früchte getragen — zumal gewichtige Verbündete hinzukamen. In der Frauenbewegung der 70er Jahre spielte die Subjektivität als erkenntnisleitende Kategorie eine womöglich noch größere Rolle: Hier wurde vehement ein Politikverständnis attackiert, das in seinem säuberlichen Schubkastendenken von «Das gehört hier (jetzt) nicht hin!» insbesondere die noch nicht so prima abgerichtete subjektive und moralische Perspektive der Frauen diskriminierte. Mit persönlicher Betroffenheit wurde gegen das «Objektive», «Sachliche», Gefühlsferne der Politik argumentiert. Mit durchschlagendem Erfolg: Betroffenheitskult und Gefühlssprech haben ihre Entstehungsgeschichte weit überlebt.
Die Parole, dass «das Private politisch» sei, stammt aus dieser Zeit, als die neuen Bedürfnisse noch gegen die alten Grenzziehungen und Kompetenzverteilungen durchgesetzt werden mussten. Damit war zunächst das heute Selbstverständliche gemeint: dass das Private nicht nur mindestens die gleiche Dignität habe wie das Politische, dass es nicht nur das «bloß Besondere» gegenüber dem Allgemeinen repräsentiere, sondern dass in dem der Politik vorgelagerten Bereich vitale Entscheidungen getroffen werden (von der Familiengröße zur Waschmittelwahl), die man heute unter die Rahmenbedingungen der Politik zählen würde und von denen sie abhängig wie abgeleitet ist.
In dem Bereich, den man politische Kultur nennt, aber hat diese These auf umgekehrte Weise reüssiert: Hier wurden die Kategorien des Privatlebens der Sphäre der Politik übergestülpt, möchte man fast von einer Privatisierung, von einer Eingemeindung des Politischen reden. «Symbolische» Politik, «weiche» Themen und ein wolkiger Gefühlssprech haben die alten Sekundärtugenden verdrängt. Wer das begrüßt, muss auch die Verluste benennen.