Читать книгу Der Betroffenheitskult - Cora Stephan - Страница 4
Prolog Zeitenwende, Epochenende
ОглавлениеDies ist eine Bilanz — eine Bilanz politischer Orientierungssuche in der Zeitspanne zwischen zwei Zäsuren der bundesrepublikanischen Geschichte: 1968, das Jahr des «Aufbruchs», 1989, das Jahr der «Wende». Mit 1989 ist die Epoche von 1968 zu Ende gegangen — denn 1989 hat sich das Lebensgefühl, für das «1968» steht, als für die Analyse neuer Lagen untauglich erwiesen.
Mit dem Tag der deutschen Einheit ist nicht nur die DDR untergegangen, sondern auch ihr Antipode, die alte Bundesrepublik — ein Land, dessen Existenz im Nachhinein so märchenhaft wie unwirklich erscheint. Eine Bundesrepublik Deutschland, die es sich im Schutz des Eisernen Vorhangs zwischen Betroffenheitskult und Lebenswelt bequem gemacht hatte, deren Bürger, sympathisch und weltfremd, beträchtlichen Wohlstand mit hoher Moral zu verbinden gelernt hatten und deren Politiker sich am liebsten zwischen Provinz und Europa aufhielten — also im Niemandsland.
1968 und 1989 bezeichnen auch für mich Tage, die die Welt erschütterten. 1968 — das war noch euphorischer Ausbruch aus einer Zeit der lähmenden, fressenden Stille, und schon, mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag, Abschied von der Illusion, das Reich der Freiheit liege nur wenige Atemzüge entfernt. 1989 — auch das war Aus- und Aufbruch, dem ein Abschied folgte: von Illusionen, die man sich im bundesrepublikanischen Winkel lange Zeit hat machen können. Die Wünsche an die Zukunft werden bescheidener sein.
Warum «1968» und die Weltsicht, für die es steht, für das Begreifen von 1989 und die Folgen nicht taugen, ist Thema dieses Buches, dieser «Bilanz», was, recht betrachtet, ein etwas zu großes Wort ist für den Versuch, die politischen Orientierungen Revue passieren zu lassen, die in den letzten zwanzig Jahren gesucht, gefunden und verworfen wurden. Die Sündenbock-Theorie, wonach die «Alt-68er» schuld daran seien, dass niemand im Westen des geteilten Deutschlands mehr so recht an die Wiedervereinigung geglaubt hatte, teile ich dabei nicht — obwohl man dafür ebenso Belege ins Feld führen kann wie für die schön ungerechte Selbstbezichtigung Patrick Süskinds aus dem Jahr 1990: «Die eigentlichen Greise sind wir, wir 40jährigen Kinder der Bundesrepublik. Uns hat das Erdbeben kalt erwischt. (...) Uns treffen die Erschütterungen im denkbar ungünstigsten Moment, denn wir befinden uns in einem Lebensabschnitt, in dem der Mensch geneigt ist, eine Pause einzulegen ...»
Eine Pause, die ich hiermit für absolut legitim erklären möchte: Denn meine Generation hat eine nicht unbeträchtliche Phantasie an das Verständnis neuer Lagen verschwendet, wie sie sich aus den seit den 60er Jahren beschleunigten Modernisierungsprozessen in der Bundesrepublik Deutschland entwickelten; an soziale und politische Experimente aller Art, die Ersatz für verlorengegangene Orientierungen schaffen sollten und die selbst in ihrem Scheitern noch zwei positive Effekte für sich verbuchen können. Solche positiven Effekte erkenne ich einmal in der Selbstbefähigung einer ganzen Generation, auch ohne Herkommen, Zwänge, Vorbilder und Regeln neue, komplexere Lebensentscheidungen treffen zu können. Zum anderen im paradoxen Prozess einer Aneignung der Bonner Republik auf dem Wege ihrer Infragestellung. Wer die westdeutsche Demokratie so angegriffen und verworfen hat wie der sich politisch definierende Teil dieser Generation, weiß, meistens jedenfalls, am Ende dieses Prozesses (und, natürlich, um Jahre gereift) um so besser, warum er die nicht immer ganz ansehnliche und etwas beschwerliche Demokratie den großen menschheitsbeglückenden Utopien vorzieht. Der Partei der Grünen haben wir doch wenigstens dieses zu verdanken: dass sie solcherlei Lernprozesse öffentlich und damit nachvollziehbar gemacht hat.
Und doch sei zugegeben: Ganz verständlich war das nicht, diese 1989 bei vielen so inniglich vorgeführte neue Anhänglichkeit an einen Staat, den misstrauisch zu kontrollieren in den Szenen der Nation seit den 70er Jahren zum guten Ton gehörte. Es war nicht nur Verlustangst um die endlich doch liebgewonnene Bonner Republik, die den Jubel insbesondere in der 68er-Generation nach dem Fall der Mauer 1989 deutlich dämpfte. Andererseits: es waren nicht nur 68er, die 1989ff. meinten, die westwärts strebenden DDR-Bürger unter den Stichworten «Auschwitz» oder «DM-Nationalismus» warnen zu müssen vor allzu inniger Tuchfühlung mit dem als «soziale Marktwirtschaft» getarnten Kapitalismus westdeutscher Provenienz. Doch wie auch immer: Gemeinsam ist solcherlei Abwehr der Zumutungen von 1989ff., dass die Aussicht auf einen gemeinsamen Nationalstaat nicht mehr in die seit 1968, vor allem aber in den 80er Jahren im Westen gewonnenen Vorstellungen über das Verhältnis von Lebenswelten und Staat, von Bürger und Politiker, von Privatsphäre und Öffentlichkeit passte. Im Satz «Das Private ist politisch» hat Politik sui generis, hat staatliches Handeln, haben nationalstaatliche Optionen das Primat verloren. Das Projekt «Deutsche Einheit» aber ist nichts, was sich sozusagen naturwüchsig aus den Lebenswelten der Bürger entwickeln ließe. Im Gegenteil.
Dies ist eine Bilanz: auch der verschiedenen Versuche, das Private im Verhältnis zum Politischen — und umgekehrt — zu definieren. Der Betroffenheitskult oder, sagen wir es freundlicher, das tagtägliche Engagiertsein, ein moralisches, ein bisweilen sentimentales Verhältnis zur Welt ist insbesondere den «gutwilligen Kreisen» der Bundesrepublik zum Ersatz einer nationalen Identität geworden. Ohne die vermittelnden Instanzen und Distanzen der Politik schien das Wohl und Wehe der Republik vom moralischen Zuschnitt ihrer Bürger selbst abzuhängen — eine Vorstellung, die in der Friedensbewegung Anfang der 80er Jahre einen ihrer Höhepunkte erlebte. Die politische Klasse hat spätestens im vergangenen Jahrzehnt gelernt, auf solcherlei Wünsche und Orientierungen ihrer Klientel Rücksicht zu nehmen. Auch ihre Vertreter beherrschen mittlerweile die Sprache der Betroffenheit, der Glaubwürdigkeit, der Neuen Nachdenklichkeit — einen Gefühlssprech, den man zu jenen Siegen der Geschichte und der Frauenbewegung zählen muss, vor denen es einen, ehrlich gesagt, bisweilen ziemlich gruselt.
Eine «Sittengeschichte» handelt, wie der Name schon sagt, von der Veränderlichkeit politischer Orientierungen, politischer Stimmungen, politischer Sprachbilder, politischer «Kultur». Einiges des heute Marktgängigen aber erinnert an ältere Ware. Gerade der Betroffenheitskult hat enge Verwandte unter älteren deutschen Traditionen, die klassischerweise als «protestantische Innerlichkeit», als «Gemeinschaft versus Gesellschaft» oder auch als Gegensatzpaar «Kultur gegen Zivilisation» abgehandelt werden. Tatsächlich erinnert seit 1989 in dem jetzt etwas größeren Deutschland vieles an alte deutsche Orientierungen — wobei ein angeblicher «Neonationalismus» nicht, so glaube ich, an der Wurzel des Übels rechtsradikaler Gewalt- und Terrorakte liegt. Die Frage lautet vielmehr, ob es nicht neuerdings wieder eine Mischung aus antiwestlichem Ressentiment gerade auch aus dem Osten mit einem faulen Werterelativismus der Westdeutschen ist, die eine alte Formschwäche der Deutschen, was die Demokratie betrifft, Wiederaufleben lässt: Die Verachtung der demokratischen Formen und Regularien. Nach einem Kapitel, das sich mit der Sentimentalisierung der Politik befasst und einem zweiten, das die paradoxen Wirkungen von «1968» würdigt, widme ich mich in einem dritten Kapitel deshalb solcherlei deutschen Traditionen — am Beispiel, unter anderen, von Friedensbewegung und Golfkriegsdebatte.
Eine «Sittengeschichte», der jeder ihren essayistischen Charakter anmerkt — sie ist nach oben, unten und zur Seite hin für Interpretation offen —, muss bekanntlich aus den vorgeführten Fundstücken keine neue Weltsicht meißeln, zumal es Menschen gibt, auf die man hören sollte, die von geschlossenen Weltbildern die Nase gehörig voll haben. Aber ich will nicht leugnen, dass die Anordnung des Materials nicht ohne Wünsche ist. Wenn man will, mag man aus den folgenden Kapiteln ein unzeitgemäßes Plädoyer für die Wiedergewinnung der Dimension des Politischen herauslesen - anstelle der Politisierung des Privaten und der Intimisierung der Politik. Und ein altmodisches Votum für die Demokratie mit ihrem strengen Regelwerk anstelle einer «Demokratisierung», die die Grenzen des Engagements der Bürger längst überschritten hat.