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Gefühl und Härte

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Ist, was noch vor kurzem als Zugewinn an Zivilität erschien, heute also als Trugschluss bloßgestellt, als Illusion aus besseren Tagen; war die gelassene, ausgeruhte Demokratie, die wir in den 80er Jahren zu erblicken glaubten, eine Schönwetterangelegenheit? Und wenn ja — woran liegt das? Am Versagen der politischen Klasse? An postnationalen Illusionen einer prosperierenden Nischengesellschaft? Oder ist in einem fundamentalen Sinn etwas faul im Staat, nämlich die Gesellschaft selbst, ist gar etwas dran an der These von den deutschen Dämonen, die beim ersten Anzeichen der Krise wieder hervorbrächen — vom unentrinnbaren Nationalcharakter der Deutschen, der durch ihre jahrzehntelange friedliche Existenz als erfolgreiche Wirtschaftssubjekte nur überdeckt wurde?

Blicken wir also auf die Gesellschaft, die in wachsendem Maße unzufrieden ist mit ihrer Führungsschicht, die sie sich doch gleichwohl erzogen hat. Dieser Gesellschaft sagen ihre erfolgreichsten Mitglieder, die es ja wissen müssen, gern nach, sie sei eine gefühllose, eiskalte Ellenbogenaffäre, eine Ansammlung egoistischer Narzissten, ohne Bindungen, Verantwortungsgefühl und Blick fürs Gemeinwohl. Diese Anamnese stimmt in einer Hinsicht sicherlich nicht: An Gefühlen mangelt es auch der deutschen Gesellschaft just gar nicht — und auch nicht an der Selbstaufforderung zum moralischen Bekenntnis, zum «kollektiven Aufschrei» (Ulrich Beck).

Das, ein kollektiver Aufschrei, so glaubten die gutwilligen Deutschen in jenem schrecklichen Winter 1992, sei gefragt, als Woche um Woche Brandsätze auf die Unterkünfte von Asylbewerbern geflogen waren, als die Zahl von Gewalttaten rechtsradikaler Jugendlicher in die Höhe schnellte und als das sonst so nervöse und alarmbereite öffentliche Leben wie gelähmt wirkte. Manch kritischem Beobachter im Ausland, aber auch den braven Antinationalisten hierzulande lieferte die nahezu ungehinderte blutige rechtsradikale Eskalation den endgültigen Beweis für das immer schon Befürchtete: mit der deutschen Wiedervereinigung seien die alten Dämonen wieder aufmarschiert, mit der Liquidation der DDR und ihres antifaschistischen Mythos die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert, mit der wiedergewonnenen nationalen Souveränität der Bundesrepublik der alte Größenwahn neu erstanden — «Normalisierung» habe sich durchgesetzt, die wieder an die Oberfläche getrieben habe, was Tabuisierung jahrelang erfolgreich unter der Decke gehalten hatte.16 Deutschland, ein keinesfalls post-, sondern immer wieder prä-, wenn nicht gleich proto-faschistisches Land, dessen Zivilisierung in seinem westlichen Teil nur oberflächlich stattgefunden habe, während der deutsche Charakter unangetastet blieb: Der deutsche Nationalcharakter, von gewalttätiger, xenophober, ja mörderischer Natur? Der Satz «Das wäre unter Honecker nicht passiert», den ein Rabbi im November 1992 in eine erregte Diskussion über Deutschland und den marschierenden Rechtsradikalismus warf, illustriert ein unter kritischen Geistern offenbar weitverbreitetes Gefühl: Man müsse Deutschland beständig unter der Quarantäne einer benevolenten Erziehungsdiktatur halten.

Dass, während das Nazitum marschiert, «der Bürger applaudiert», wie es ein progressives Lied aus jenen Tagen behauptet, aus den Ereignissen von Rostock-Lichtenhagen allgemeine Schlüsse ziehend, als die Zuschauer der Randale wirklich Beifall klatschten — diese Angst begann wieder plausibel zu werden. Eine Angst, die sich aus einer für die Nachgeborenen der Nazizeit traumatischen Vorstellung speist: man könne wieder den richtigen Zeitpunkt verpassen, man könne, wie die eigenen Eltern, bei der Behauptung ertappt werden, von alledem «nichts gewusst» zu haben, man könne wieder einmal als privatisierender Untertan erscheinen, der die Gewalttaten zwar nicht selbst begeht, aber ihnen auch nicht wehrt.

Diese Befürchtungen, geschürt von einem «linken Alarmismus » (Klaus Härtung) und einer aufs Moralisieren spezialisierten politischen Öffentlichkeit, erwiesen sich, so darf man wohl heute sagen, als unbegründet. In den Lichterketten und Sternfahrten um die Weihnachtszeit 1992/93 herum demonstrierten Hunderttausende in Westdeutschland, dass es den «Engagée» der 70er und 80er Jahre noch immer gab. Und auch die Ostdeutschen machten deutlich, dass sie des politischen Flankenschutzes nicht bedurften, der ihnen voll falschen Verständnisses unterstellte, ihre verzweifelte ökonomische Lage und ihr diktaturgewohnter politischer Habitus mache sie kollektiv anfällig für rechtsradikalen Extremismus.

Deutschland, nach Mölln, überschlug sich vielmehr im Nachweis des Gegenteils. Die Lichterketten, Schweigemärsche ohne politische Parole, ermöglichten auch denjenigen die Demonstration guten Willens, die sich bei politischen Manifestationen herkömmlichen Stils ungern eingereiht hätten. Anzeigenkampagnen gewichtiger Wirtschaftsunternehmen von lokaler, re-gionaler bis übernationaler Bedeutung verkündeten ein trutziges «Mit uns nicht!», und die Künstler, Rockmusiker und Sportler durften schon gar nicht fehlen, da es gegen das Böse ging. Selbst Taxifahrer mobilisierten zur Sternfahrt, Motto: «Mein Freund ist Ausländer». Im Fernsehen und im Hörfunk wurde die Botschaft stündlich verbreitet: Ausländerfeindlichkeit ist moralisch out.

Damit war keine Kleinigkeit gelungen: Die öffentliche Kontrolle hatte jeglichen (womöglich von einem gewissen Verständnis begleiteten) Zusammenhang zwischen rechtsradikaler Randale und einem «Asylproblem», den die Politiker der Regierungsparteien zugelassen hatten, getilgt und die Problematik unter dem Rubrum «Ausländerfeindlichkeit» tabuiert.

Mit Asylbewerbern haben viele Deutsche vielleicht, mit «Ausländern» aber haben insbesondere die tonangebenden westdeutschen Mittelschichten gar kein Problem. Der Haken dabei: Eine vernünftige Debatte über die Grenzen der Zuwanderung nach Deutschland wurde damit ebenso erfolg- wie folgenreich tabuiert, mitsamt jenem Teil der deutschen Bevölkerung, der sich nicht nur zu Unrecht von den neuen globalen Entwicklungen bedroht und überfordert fühlt. Dieser Teil scheint, zum Schaden der Demokratie, nur bei der extrem Rechten Anwaltschaft zu finden.

Dass Öffentlichkeit in Deutschland sich so massenhaft bewegen lässt, wenn die Politik versagt, ist unzweifelhaft zu begrüßen — auch wenn es nicht wenige Kritiker sind, die das Lichterkettenfieber, das damals in jeder mittleren Großstadt ausbrach, für die typisch deutsche apolitische Hysterie halten.17 Der «kollektive Aufschrei» hatte etwas Unangemessenes. Zum einen waren die Kerzenumzüge prägendes Merkmal der Wendezeit der DDR gewesen, also ein Demonstrationsmittel unter den Bedingungen einer Diktatur. Demokratie, so möchte man doch annehmen, verfügt über andere Mittel, größere gesellschaftliche Konfliktlagen zu klären. War es denn wirklich «wieder so weit», dass man in Deutschland nun schon für das Selbstverständliche auf die Straße gehen musste, für eine zivile Form des Zusammenlebens ohne Mord und Totschlag? Tatsächlich verlangt man im Normalfall von Bürgern einer Demokratie nicht, dass sie ein Bekenntnis zum Gewaltverzicht ablegen, man setzt voraus, dass sie in ihrer Mehrzahl weder Mörder noch Totschläger noch deren Anhänger sind. Gilt das für die Bundesrepublik Deutschland nicht?

Den massenhaften Lichterketten lagen nicht nur engagierte Journalisten und Werbemanager zugrunde, sondern auch Annahmen über den deutschen Nationalcharakter. Denn nur, wer in den rechtsradikalen Gewaltaktivitäten die reine Emanation des deutschen (faschistischen) Charakters erblicken will oder zumindest die Spitze eines entsprechenden Eisbergs, erwartet das massenhafte Bekenntnis. Jedem anderen hätte ausgereicht, wenn die demokratischen Institutionen und das rechtsstaatliche Empfinden der politischen Klasse funktioniert hätten.

Just an diesen Ressourcen aber herrschte Mangel. Und insofern wäre es nicht verwunderlich, wenn in vielen Kerzenträgern bald der gerechte Zorn emporgestiegen wäre: Während Rundfunk und Fernsehen alltäglich das Böse in «uns», in «den» Deutschen schlechthin exorzierten und die sowieso schon Überzeugten mit Abmahnungen und herzzerreißenden Appellen Prominenter traktierten, während Bundespräsident Richard von Weizsäcker in der ihm eigenen vereinnahmenden Art nach Mölln von Mexiko aus die verwirrten Bürger beschied: «Ich glaube, es ist eine Sache der Gesellschaft im Ganzen. Wir dürfen nicht als Bürger auf die Politik allein verweisen » — während also der obsolet geglaubte hässliche Deutsche unser treuer Wegbegleiter wurde, war längst deutlich geworden, dass, umgekehrt, Politik und staatliche Institutionen eklatant versagt hatten — eine Tatsache, nebenbei bemerkt, die für das zarte Pflänzchen deutsche Demokratie entschieden gefährlicher ist, als es fundamentalistische Inhaftnahme des deutschen Charakters erahnen lässt.

Während der Bürger Gefühl demonstrierte und glaubte, zur Liebe auch zu wildfremden Menschen aufgerufen zu sein, wo es doch vor allem darum ging, einen zwar nicht konflikt-, aber doch gewaltfreien Umgang miteinander zu installieren, entzog sich der Rechtsstaat seiner vornehmsten Aufgabe: Das Monopol auf Gewalt an sich zu ziehen und durchzusetzen.

Der Betroffenheitskult

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