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Kapitel 7
ОглавлениеDie Tapferkeit der Kelten erklärt sich durch ihren ausgeprägten Unsterblichkeitsglauben und den Glauben an die Seelenwanderung.
– Caesar, de Bello Gallico, VI 14 –
Lieber hätte Tilla die Asche ihrer Mutter zu einem heiligen Ort der Kraft irgendwo in der Nähe gebracht, am liebsten zum Elfenstein. Sie wusste, ihre Mutter hatte den Elfenstein geliebt, aber der Friedwald im Südharz war eine wirklich schöne Alternative. So folgte Tilla der Bundesstraße nach Bad Sachsa in gedrückter Stimmung. Sie fühlte sich unendlich allein.
Es hatte sie gleichzeitig verstört und mit Ärger erfüllt, als sie einige Tage zuvor erfuhr, dass ihre Mutter ihre eigene Beerdigung bis hin zur Auswahl des Baumes, an dessen Wurzeln ihre Asche beigesetzt werden sollte, selbst vororganisiert und bezahlt hatte. Astrid Volkers, mit der ihre Mutter zusammen aufgewachsen war, hatte sie über diesen Umstand informiert. Seither fragte sich Tilla unaufhörlich, ob ihre Mutter ihren Tod geahnt oder womöglich doch geplant hatte?
»Nein!«, schrie Tilla trotzig auf und schlug auf ihr Lenkrad. Der Fahrer eines silbergrauen Wagens überholte sie mit röhrendem Motor und bedachte Tilla mit aggressiven Gesten. Vermutlich klebte der arme Mann seit Braunlage hilflos hinter ihrem Auto, das Tilla unter der Last wild strudelnder Gedanken viel zu langsam über den Harz steuerte.
Endlich erreichte sie ihr Ziel und bog auf den bereits erstaunlich vollen Waldparkplatz ab. Widerstrebend stieg Tilla aus und schritt langsam auf Astrid zu, die sich mit einer Frau in Förstergrün unterhielt.
»Tilla-Liebes, schön, dass du schon da bist.«
Herzlich nahm die Ältere Tilla in den Arm, die sich sofort an der Freundin ihrer Mutter festklammerte.
»Oh Astrid, ich komme mir so nutzlos vor … auch ein bisschen ausgeschlossen. Ich wusste gar nichts von all dem hier.«
Tilla versuchte den Vorwurf ihres letzten Satzes mit einem Lächeln zu übertünchen. Astrid strich ihr über die Wange. Tilla wandte sich ab und sah sich verloren um. Für sie war nicht nur die Menge der Besucher erstaunlich, die auf Hederas Beisetzung warteten, es wunderte sie zudem, dass sie so wenige kannte.
»Mach dir darüber keine Gedanken, Tilla. Deine Mutter und ich hatten schon öfter über dieses Thema gesprochen. Wir haben uns gemeinsam eine wunderschöne dicke Buche in der Nähe eines Teiches ausgesucht. Es wird dir gefallen.«
Tilla sah Astrid fassungslos an. »Ihr ward zusammen hier?«
»Aber ja. Es wird auch mein Baum werden«, sagte Astrid mit einem fröhlichen Lächeln, als spräche sie über ihren nächsten Urlaub und nicht über ihre Beerdigung. Verwirrt tappte Tilla hinter Astrid und der Försterin her, die sie zuvor mit einem freundlichen Nicken und einem leisen Beileidsbekunden begrüßt hatte.
Das Grüppchen, das nun gemächlich durch den Hochwald östlich der kleinen Harzstadt Bad Sachsa schritt, sah so gar nicht wie eine Trauergemeinde aus. Wetterfeste, dem grauen Himmel angepasste praktische Kleidung herrschte vor. Astrid trug einen weinroten Mantel, eine dunkle Hose und bequeme Halbschuhe. Nur Tilla war mit einem schwarzen Trenchcoat bekleidet. Wieder sah sie sich um. Menschen aller Altersgruppen waren gekommen. Eine Familie wurde von ihrer kleinen Tochter begleitet. Mit den wippenden blonden Zöpfen und der liebevoll bestickten hellblauen Strickjacke unter der offenen, leuchtend roten Wetterjacke bot das Mädchen einen fröhlichen Blickfang. Tilla warf ihr ein Lächeln zu. Ihre Augen begannen zu brennen und sie bedauerte unendlich, dass Nina an diesem Tag nicht hier sein durfte. Das kleine Mädchen lächelte zurück und winkte ihr zaghaft.
Mutsch, wie hast du es geschafft, in deinem Leben so viele Leute kennenzulernen?, dachte Tilla und spielte kurz mit dem Gedanken, zu einem wilden Lauf anzusetzen, der sie von hier wegbrachte. Vermutlich hätte sie es mal wieder zu irgendeiner überstürzten Dummheit gebracht, hätte Astrid ihr nicht in diesem Moment den Arm um die Schultern gelegt. Endlich erreichten sie eine stattliche Buche, vor der sich ein Rund aus Efeuranken um eine Holzscheibe in den Waldboden schmiegte. Ein Mann in konventioneller Schwarzkleidung, vermutlich vom Bestattungsinstitut, brachte die Urne und stellte das, mit einem Ginkgoblatt verzierte helle Gefäß, auf die Scheibe. Es roch wunderbar nach Waldboden und frischem Holz. Tilla blickte auf die grüne Rosette aus Efeu.
Die Trauergäste bildeten einen großen Halbkreis um die Buche. Als jeder seinen Platz gefunden hatte, trat Tilla an den grünen Kreis heran und nahm einen hellen Stein mit glitzernden Einsprenkelungen aus der Manteltasche. Sie hatte den Stein völlig verkrampft in der Hand gehalten, seit sie ihren Wagen verlassen hatte.
Steine sind die ältesten Wächter der Erde, hörte Tilla die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf wispern, was sie ruhiger werden ließ. Sie dachte an gemeinsame Ausflüge, bei denen sie Steine gesammelt hatten. Der Stein in ihrer Hand stammte vom Elfenstein, einer Klippe oberhalb von Bad Harzburg, die Tilla unzählige Male zusammen mit ihrer Mutter besucht hatte. Behutsam legte Tilla ihn auf die Efeuranken, richtete sich auf und trat zurück, damit die anderen Trauergäste vortreten konnten. Als Erstes legte das kleine Mädchen einen kleinen Tannenzweig nieder und dankte mit vor Aufregung stolpernden Worten dafür, dass Hedera ihrer Mama geholfen hatte. Weitere Äste, Zapfen, ein paar Kastanien und unzählige beschriebene Steine sammelten sich nunmehr um die Efeurosette. Viele waren es, die das Bedürfnis hatten, sich von Hedera Leinwig zu verabschieden. Tilla ließ ihren Tränen freien Lauf. Doch im Gegensatz zu den Tränen der letzten Tage waren diese irgendwie befreiend.
Wie aus weiter Ferne drang Astrids Stimme an ihr Ohr. »Deine Mutter hat viele dieser Menschen kennengelernt, als die sich mit einer Krankheit quälten. Menschen, die an einem Scheideweg standen. Einige haben überlebt und sind heute hier. Du kannst stolz auf deine Mutter sein!«
Tilla blickte in Astrid Volkers blaugraue Augen, die ihr aufmunternd zulächelten. Sie strich Tilla noch einmal über die Schultern, bevor sie sich zu der grünen Rosette begab. Bewundernd sah ihr Tilla zu, wie sie ohne Notizen und Zettel ihre Rede begann. Tilla war ihr unendlich dankbar dafür. Sie selbst war so durcheinander, dass sie nicht einmal einen Dreizeiler ohne zu stottern auf den Weg gebracht hätte.
»Hedera, botanischer Name für die Efeupflanze; Efeu, Immergrün, seit der Antike als Heilpflanze bekannt. Ihr Name war wohl gewählt von ihrer Mutter, die ihr Leben im fernen Wales verließ, um der Liebe nach Deutschland zu folgen. Hederas Vater starb, bevor er seine Tochter in den Armen halten konnte. Ein Schlag für die junge Frau aus Wales. Aber ein wundervoller Glücksfall für meine Familie, denn Leandra Lleynwitch kam mit ihrer Tochter Hedera unter dem Herzen in unser Haus. Meine Brüder und ich bekamen nicht nur eine wundervolle Nanny, wir bekamen in Hedera eine Schwester, die beste Schwester, die man sich nur wünschen kann … meine Seelenschwester.«
Tilla lauschte Astrids Worten, die so voller Liebe daherkamen. Ohne das Pathos der Trauer erzählte Astrid Anekdoten und kleine Begebenheiten, die Hedera besser darstellten, als es jede Beschreibung vermocht hätte. Es gelang es ihr sogar, die Gegensätze zwischen Tilla und ihrer Mutter so versöhnlich zu schildern, dass sich selbst in Tillas verquollene Augen ein Lächeln verlief. Hörte man Astrid zu, gerieten Tillas Rebellentum und Hederas gutmütige Ignoranz desselben geradezu zu einer ergötzlichen Geschichte, auf deren Fortsetzung man förmlich brannte. Astrid kam nun auf Hederas Arbeit zu sprechen. Sie erwähnte einige der Menschen, die gekommen waren, um ihr das letzte Geleit zu geben. Mit glänzenden Augen und ausgebreiteten Armen wünschte Astrid Hedera auf ihrem weiteren Weg, dass all die Liebe der Anwesenden sie begleiten möge.
Tilla schaute sich leicht verunsichert um. Doch die Leute störten sich offenbar nicht an dem ungewöhnlichen Ende einer Trauerrede, die wirkte, als würde man eine Reisende mit besten Wünschen auf seine langersehnte Tour schicken. Die, die gekommen waren, wussten, wer und was Hedera gewesen war. Dass einige Trauergäste aufgeschnittene Äpfel nach vorne streckten, das Zeichen der Wicca, während sie Astrids Wunsch wiederholten, empfand Tilla als wohltuend. Sie trat nach vorn und nahm Äpfel sowie liebevolle Blicke entgegen. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass Tilla von so viel Toleranz gegenüber ihrem glaubensbedingten Anderssein umgeben war.