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Kapitel 2

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Doch des Heldengeschlechts Enkel verhüllten Hermanns Namen,

bis ihn Klopstock’s mächtige Harfe sang der horchenden Ewigkeit.

Heil, Cheruskia, dir!

– Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Harzgedicht, 1772 –

Harcylugh – von H. Lleynwitch. Verwundert blickte Tilla auf die Papierbögen in ihrer Hand. Lleynwitch, die Hexen von Lleyn. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Ihre Familie war aus Wales nach Deutschland gekommen. Ihre Großmutter hatte noch den ursprünglichen Namen Lleynwitch geführt, bevor ihre Mutter Hedera ihren Familiennamen in Leinwig hatte ›eindeutschen‹ lassen.

Dies ist die Geschichte des sagenhaften Keltenschwertes Harcylugh. Es entstand in einer Zeit, in der Magie ein ebenso notwendiger wie geschätzter Teil des Lebens der Menschen war. Über die Magie waren die Menschen mit ihren Göttern verbunden. Magie begleitete den ewigen Kreislauf des Jahres und des Lebens. Geführt von der Großen Göttin bemühten sich Menschen, es ihr recht zu tun und die große Waage im Gleichgewicht zu halten. Harcylugh – geschmiedet durch den Druiden Thurizan und geweiht durch die Götter des Harces – vereinte sowohl dunkle als auch lichte Kräfte in sich. Ob es Gerechtigkeit oder Vernichtung brachte, entschied sich durch die Seele dessen, der es führte. Stark, sehr stark waren seine magischen Kräfte. Eines Tages geriet die große Waage in Bewegung.

Der Druide Thurizan, dem die Götter sehr zugetan, schuf das Artefakt des Kampfes, um den Untergang seines Volkes zu verhindern. Thurizans Stamm lebte am Tor zum harten Holze der Region Harcynia und gehörte zum alten, allerorts verschwindenden Volke der Celtae. Wie alle Menschen mied auch der Stamm von Thurizan die höher gelegenen Regionen des Harces. Natur und Wetter waren dort so launisch wie der frühe April.

Die Götter liebten den Harce. Brigidh, die Himmelsgöttin, zog treu ihre Bahnen. Taranos ließ gern sein Rad des Donners über die Kuppen der Berge grollen, auf dass es in den Tälern widerhallte und das Moos neben den Bächen erzittern ließ und Lugh, der Lichtbringer, fing gern Taranos’ Blitze. Auch Cernunnos, dessen Haupt ein Hirschgeweih ziert, spielte hier seine machtvolle Magie der Fruchtbarkeit üppigst aus, sodass Wege an dem Dickicht wüchsiger Bäume und Pflanzen scheiterten. Harte Eichen, richtende Linden für das Thing, Buchen, in deren Spaltenstäbe Runen geritzt waren, und der immergrüne Lebensbaum, jeder älter als alle Bewohner des Dorfes zusammen, priesen Cernunnos‘ Macht im hohen Harce. Nur dort, wo Alisannos Stein auf Stein häufte, musste sich Cernunnos geschlagen geben. Aber seine Schutzbefohlenen, die Hirsche, mehrten sich zu großer Zahl. Dem Herrn der Fruchtbarkeit zur Seite stand Crodo, der Herr der Elemente, welcher den Harce mit unzähligen Quellen und mineralischen Schätzen reich begüterte. Der hohe Harce war ein Spielplatz der Götter, mit deren Launen sich niemand maß. Am Tor zum Harce lag ein gefälliges Dorf mit einem festen Zaun aus starkem Astwerk, in dem gute Menschen lebten. In diesem Zaunland entstand das magische Schwert.

Tilla legte die Blätter beiseite und betrachtete nachdenklich den Packen brauner Umschläge, die ihr per Nachsendeauftrag von Göttingen gefolgt waren. So etwas war typisch für ihre Mutter. Harcylugh … was hatte sie denn da wieder für ein Märchen ausgegraben?

Unwillig legte sie die anderen, noch ungeöffneten Umschläge beiseite. Es war schon verrückt. Nun lebte sie schon seit so vielen Wochen in Braunschweig, ohne dass sie ihrer Mutter und ihrer Heimat, dem Harz, einen Besuch abgestattet hatte. Die Briefumschläge erinnerten sie schmerzlich an ihr Versäumnis. Paradoxerweise sank Tillas Mut, sich bei ihrer Mutter zu melden, mit jedem weiteren Tag, denn sie war überzeugt, dass ihre Mutter wütend auf sie sei. Eigentlich wusste Tilla, wie falsch das war. Eigentlich …

Ob es ihre Vaterlosigkeit war oder das Los des Andersseins durch ihren keltischen Glauben, Tilla erwartete immer irgendeine Katastrophe. Daher kostete sie das Hier und Jetzt stets in vollen Zügen aus. Das Nachdenken über Konsequenzen ging ihr zumeist ab. Ihre Mutter, im Gegensatz zu ihr der ruhige, besonnene, aber auch leicht verklärte Typ, hatte sie immer dafür gemaßregelt.

Hedera Leinwig hatte stets etwas, was sie gedanklich beschäftigte, sehr zum Ärger ihrer Tochter. Tilla hatte seit jeher das Gefühl gehabt, dass ihre Mutter nie ganz da war, wenn sie sich unterhielten. Außerdem hatte Hedera alles, was Tillas Vater betraf, aus ihrem Denken ausgeklammert. Dass ihre Mutter dafür Gründe gehabt haben könnte, hatte Tilla nie gelten lassen. Aus ihrer Sicht hatte Hedera ihr unendlich wichtige Informationen vorenthalten. Im Gegenzug hatte Tilla ihre Mutter dadurch bestraft, dass sie ihr keltisches Erbe ablehnte. Natürlich entsprach dies nicht ihrer wirklichen Überzeugung. Sie war eine Altgläubige und fühlte auch so.

Hedera war Tillas Tiraden immer mit Nachsicht begegnet. So etwas wie Zorn kannte ihre Mutter nicht. Im Grunde ihres Herzens wusste Tilla: Würde sie plötzlich vor der Haustür ihres Hauses auftauchen, ihre Mutter würde lächeln, sie hineinbitten und Tee kochen. Allerdings würde sie dies auch für jeden Staubsaugervertreter tun.

Abermals fühlte sie den Knoten des Ärgers in ihrem Bauch. »Verdammt!«, schimpfte sie laut auf sich selbst ein. »Ruf sie an!«, befahl sie sich und griff energiegeladen nach dem Handy, das sich just in diesem Augenblick mit einer kernigen Melodie meldete. Tilla sah kurz auf das Display, lächelte und nahm das Gespräch an: »Hi meine Süße. Wie geht’s dir?«

»Oh Tilla! Es wird immer krasser, echt nicht zum Aushalten. Papa hat mir meinen Computer weggenommen! Stell dir das vor!«, echauffierte sich das Mädchen am anderen Ende.

»Oh je, was hast du denn angestellt, Ninchen?«

»Ja, nix!«, empörte sich Nina.

»Na dann …«, meinte Tilla grinsend und wartete. Sie hörte die Zwölfjährige an ihrer Jacke nesteln.

»Na ja, ich hab da was in den Kühlschrank gelegt«, begann das Mädchen zögernd.

»Aha.« Tilla hörte, dass Nina unsicher den Reißverschluss ihrer Jacke hoch und runterzog. Vermutlich war sie auf dem Schulhof. Ein Blick auf die Uhr bestätigte ihr die Zeit der großen Pause. »Nun komm schon, was kann man denn in den Kühlschrank legen, was so einen Ärger heraufbeschwört, dass Achim dir den Computer wegnimmt?«

»Genaugenommen habe ich es nicht reingelegt, sondern im Kühlschrank freigelassen.«

Tillas Augen wurden groß. »Freigelassen? Was denn? Eine Maus? Nachbars Wellensittich? Oh, Nina!«

»Nee. Michi, du weißt schon, meine Freundin, sie hat ne Bartagame, die heißt Camilla.«

»Du hast eine Bartagame in den Kühlschrank gesetzt?«

»Nein, nicht Camilla … ihr Frühstück.«

Tilla runzelte die Stirn. »Und was fressen Bartagamen?«

»Och, Salat, Obst …«

»Nina!«, keifte Tilla ungeduldig.

»Und Schaben … große«, kam es kleinlaut aus dem Telefon.

»Oh nein!« Tilla schloss kurz die Augen. »Okay. Was ist passiert?«

»Mensch, ich wollte doch nur Papas Schnuckelchen ein bisschen ärgern. Aber ausgerechnet an diesem Abend trabt mein Papa selbst zum Kühlschrank. Er hatte sich grad eine Flasche Bier gegriffen … na ja, die landete dann in der Glastür vom Geschirrschrank hinter ihm und Paps schrie wie ’ne Scream Queen in einem Metzelfilm.«

Tilla musste kurz das Telefon herunternehmen, da ihr wegen des mühsam unterdrückten Lachreizes die Tränen übers Gesicht liefen. Ihr Ex, der wegen einer Schabe schrie und die nagelneue Designerküche verwüstete – herrlich! Sie atmete tief durch und antwortete in Gouvernantenton: »Oh, Nina, wirklich, ich fürchte, du hast dir damit keinen Gefallen getan.«

»Ach komm schon. Ich hab dich doch prusten gehört!«

Wieder ging Tillas Atem verräterisch stoßweise. »Ja schon«, gab sie betreten zu, »aber es hat doch keinen Zweck, dass du Achim so gegen dich aufbringst. Was hat denn Gerda gesagt?«

»Ach die, die bringt echt gar nix aus der Ruhe.«

»Und die arme Schabe?«

»Hat Papa ermordet!«

»Hast du was anderes erwartet?«

Das Telefon schwieg.

Tilla bohrte unbarmherzig nach. »Ninchen, du willst doch eine Hexe werden. Wie lautet der höchste Hexengrundsatz?«

»Schade niemandem«, repetierte Nina unbehaglich. »Aber Paps und Gerda hat es doch nicht geschadet, nur dem Geschirrschrank.«

»Und der Schabe? Hexen achten jedes Lebewesen.«

Nina seufzte vernehmlich. »Ach, Scheiße, ja, du hast ja recht.«

Tilla hörte die Schulglocke schrillen und meinte versöhnlich: »Die werden sich schon wieder beruhigen. Wirst sehen, in ein paar Tagen bekommst du deinen Computer wieder. Du brauchst ihn doch schließlich für die Schule.«

Nina stieß einen Seufzer aus. »Weißt du, das ist leider nicht alles. Als Papa dann meinen PC weggenommen hatte, kam er gestern Abend mit unseren E-Mails an.«

»Au Mist!«, entfuhr es Tilla.

Sie hörte Nina laufen. »Das war’s eigentlich, was ich dir sagen wollte. Nun bekommst du wahrscheinlich auch noch Ärger, Tilla. Das wollte ich nicht, echt nicht«, jammerte das Mädchen.

»Mach dir keinen Kopf! Das kriegen wir schon hin«, antwortete Tilla, überzeugt, dass dem nicht so war.

»Muss Schluss machen. Ciao!«

Tilla fluchte in sich hinein und ließ das Handy sinken.

Die E-Mails. Ausgerechnet. Dass Tilla weiterhin Kontakt zu seiner Tochter hatte, würde Achim keinesfalls hinnehmen. Ein Dr. Achim von Steinfels würde niemals verstehen, dass sie seine Tochter Nina einfach nur ins Herz geschlossen hatte. Für ihn war das Ganze irgendeine perfide Taktik, die einzig dem Zweck diente, ihm zu schaden. In seinen Augen war Tilla die ungeliebte, nicht vorzeigbare weil zu quirlige Ex, die nun auch noch nach Braunschweig gezogen war, obwohl er den Sargnagel seiner Karriere eigentlich in Göttingen wähnte. Sie war eine wandelnde Katastrophe und der Inhalt der E-Mails ein Sakrileg schlechthin. Sie ahnte, dass sie monumentalen Ärger zu erwarten hatte.

Tilla vereinte alle Eigenschaften in sich, die Achim von Steinfels hasste. Sie war sprunghaft, launisch, hektisch, unüberlegt und wegen ihres Glaubens alles andere als prüde. Als sie Achim eines Tages zwischen Frühstücksbrötchen und Müslijoghurt aufklärte, dass sie einem vorchristlichen Glauben anhing, hatte der sie angestarrt, als hätte sie gerade seinen Morgenespresso in Erdöl verwandelt. Eine Wicca, Pagan, heidnisch – so etwas kam für Achim von Steinfels der Aussätzigkeit gleich. Der Jurist hatte sie prompt entsorgt.

Dabei hatte Tilla ihm ihren Glauben bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich verschwiegen, sie hatte nur einfach nie darüber gesprochen. Tillas Offenbarung musste Achim geradewegs in die nächste Partnervermittlungsagentur gejagt haben. Knapp zwei Wochen später hatte sie ihre spärliche Habe in einem kleinen WG-Zimmer verteilen müssen, und in das damals im Bau befindliche Haus in Braunschweig war statt ihrer die ordentliche Lehrerin Gerda mit der artigen Bobfrisur eingezogen.

Zwar hatte Tilla nicht übermäßig unter dem Verlust von Achim gelitten, dafür hatte sie ihn einfach zu oft betrogen. Doch die Annehmlichkeiten, die eine Ehe mit einem angesehenen Juristen mit sich gebracht hätte, wären schon nicht schlecht gewesen – zumal sie auf ihrem eigenen, nicht gerade linear verlaufenden Berufsweg nicht recht weiterkam.

Sie hätte es ja noch verstanden, wenn er sie wegen ihres Fehltritts mit seinem Kollegen Peter rausgeschmissen hätte, wenn er den denn überhaupt mitbekommen hatte. Ihre Zeit mit Peter Ehlers, der wie sie aus Bad Harzburg stammte, war überaus vergnüglich gewesen. Resolut vertrieb sie die Erinnerung an den stets ruhigen Juristen mit den sanften braunen Augen. Nein, davon hatte Achim sicher nichts gewusst. Es durfte auch niemand erfahren. Peter hatte eine wundervolle Frau und zwei Kinder.

Sie musste sich besser in den Griff bekommen, was Männer anging! Sie war mittlerweile in einem Alter angekommen, in dem man Beziehungen gefährdete, wenn man so ungehemmt seinem Vergnügen nachging wie sie.

Tilla liebte kurze und unkomplizierte Affären. Der einzige Grund dafür, dass sie es ausgerechnet bei dem verknöcherten Achim mit einer längeren Beziehung versucht hatte, war Nina gewesen. Tilla mochte die clevere Zwölfjährige wirklich sehr und litt unter dem Kontaktverbot. Sie brachte es nicht übers Herz, Nina abzuwimmeln, die sie nach wie vor anrief, so oft es ging. Tilla hatte sich damals mit vollem Elan in die plötzliche Mutterrolle gestürzt, so wie sie fast alles mit ungeheurem Elan tat. Achim war dies gerade recht gewesen. Eine junge und somit formbare Frau, angehende Historikerin, die ihm die Tochter abnahm, die drei Jahre zuvor durch einen Autounfall mutterlos wurde, war ihm schon recht. Die Aufgaben eines alleinerziehenden Vaters waren schließlich nicht recht kompatibel mit dem prall gefüllten Terminkalender eines Achim von Steinfels. Obwohl Achim seine ›Hexe‹ abserviert hatte, war Tilla heimlich die Vertraute des Mädchens geblieben. Bis jetzt.

Was würde er tun? Ausgerechnet die E-Mails. Das aufgeweckte Mädchen hatte sich immer brennend für Tillas Glauben interessiert. Kleine Häppchen davon waren auch in diesen Mails zu finden. Dabei wusste Tilla sehr wohl, wie falsch das war. Ihr Glaube war nicht für jeden das Richtige und für Nina, eine Zwölfjährige, der permanent die Bezugspersonen im Leben wegbrachen, schon gar nicht.

Altgläubige missionieren nicht!, hörte sie ihre Mutter im Geiste mahnen und ließ den Kopf hängen. Was sollte sie tun? Konnte sie etwas tun? Was würde er tun? Das Handy! Würde er Nina auch das Handy wegnehmen? Was, wenn das heutige Gespräch das letzte zwischen ihnen gewesen war? Erstaunt stellte sie fest, wie weh es ihr tun würde, wenn sie den Kontakt zu Nina verlöre. Und noch erstaunter war sie über das dringende Bedürfnis, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen. Versonnen blickte sie ihr Handy an. Dann stellte sie es entschlossen aus und legte es weg. Auf eine telefonische Predigt von Achim, der sich garantiert in nächster Zeit melden würde, konnte sie gut verzichten.

Widerstrebend nahm sie einen weiteren Umschlag in die Hand.

Todesrunen

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