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Kapitel 4
ОглавлениеNe sexum in imperiis discernunt. Beim Oberbefehl machen die Celtae keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern.
– Tacitus Agricola 16 –
Ihr kleiner alter Geländewagen, dessen Gaspedal Tilla so ungnädig niedertrat, gab beunruhigende Geräusche von sich. Nicht einmal die großen weißen Ranken, die sie kurzerhand über die Rostschäden gepinselt hatte, konnten über den erbärmlichen Zustand ihres Gefährts hinwegtäuschen.
Tilla ließ die Ebene des südlichen Salzgitters rechts liegen. Noch ein paar Kilometer weiter und sie würde den Brocken bereits in der Ferne sehen können. Ihr Blick heftete sich geradezu zwanghaft auf den Horizont. Endlich. Die Harzberge tauchten auf. Schlagartig verflüchtigten sich alle schlechten Gefühle in Tillas Innerem. Fast konturengleich mit den Berggipfeln schmiegten sich schwere graue Wolken an die sanft gerundete Gipfellinie von Brocken, Achtermann und Rammelsberg. Die zweiten Wolkengipfel, die sich wie weitere Berge ausnahmen, machten den Harz an diesem Tage zu einem gewaltigen Massiv. Tilla wusste, dass der Mantel, den der Harz an diesem Tag trug, dem Oberharz schlechtes Wetter, Regen und dichten Nebel brachte, während um sie herum auf der Autobahn 395 noch die Sonne schien. Sie wunderte sich wieder einmal, wie sehr sie sich über den Anblick der Harzkuppen freute, die einst das von den Römern so gefürchtete Waldgebiet Hercynia eröffneten.
Sie hatte ihre Mutter am Morgen mehrfach vergeblich anzurufen versucht, somit wusste Hedera gar nicht, dass sie kam. Doch Tilla war nicht der Mensch, der von einem spontanen Entschluss abließ. Sie redete sich damit froh, dass Hedera vielleicht zu einem ihrer häufigen Spaziergänge aufgebrochen war, bei denen sie Kräuter für ihre Naturmedizin sammelte. Tilla betrachtete die letzten gelben Blätter, die vereinsamt umherwehten, und murmelte kopfschüttelnd: »Blödsinn! Kräuter am ersten November. Verdammt, Mutsch, wo bist du?«
Merkwürdig. Es war die Nacht nach Samhain, dem höchsten Feiertag der Altgläubigen. Wieso war ihre Mutter nicht zu Hause? War sie vielleicht bei anderen Altgläubigen eingeladen gewesen? Für sie und die Ihren begann mit Samhain das neue Jahr. Grund genug für Tilla, die spannungsgeladene Beziehung zu ihrer Mutter auf eine neue, gesundere Basis zu stellen. Tatsächlich hatte ihr das Verhältnis zu Nina gezeigt, wie zerbrechlich so eine Beziehung zu Kindern sein konnte und wie vorsichtig man als Erwachsener mit einem jungen, unsteten, weil suchenden Geist umgehen musste. Plötzlich gab so viel, was sie ihrer Mutter erzählen wollte. Es gab auch vieles, was sie ihre Mutter fragen wollte.
Hedera hatte sie allein aufgezogen. Tilla gab in Gedanken zu, dass Hedera ihre Sache nicht besser hätte machen können. Ihr hatte es an nichts gefehlt. Dennoch hatte Tilla sich oft gewünscht, mehr über ihren Vater zu erfahren oder Verwandte ihres Vaters zu treffen, vielleicht eine zweite Großmutter, Tanten oder Cousins. Das Bild von Großmutter Leandra tauchte vor ihrem inneren Auge auf und ließ sie kurz lächeln. Nein. Dieses Mal würde sie sich nicht mit einer romantisch verklärten Antwort bezüglich ihres Vaters zufriedengeben. Sie wollte seinen Namen, damit sie Nachforschungen anstellen konnte.
Der Brocken wurde immer größer und damit auch Tillas Angst vor den Fragen, die ihre Mutter stellen würde. Ihre Kampfeslust vom Moment zuvor fiel kläglich in sich zusammen. Sie wusste, schon die lapidare Frage, was sie so trieb, würde sie zu hektischer Beredsamkeit veranlassen, die ihre Mutter sofort durchschauen würde. Hedera würde traurig den Blick senken und nicht weiter nachhaken. Tilla hatte diesen Blick auch vor sich gesehen, als sie ihrer Mutter am Telefon mit vielen, zumeist unnötigen Worten erklärt hatte, warum sie das Studium aufgegeben hatte.
Mit schmerzlicher Klarheit dachte Tilla darüber nach, was sie trieb. Nichts. Nichts, auf das man irgendwie stolz sein könnte. Sie war eine Versagerin. Erst hatte sie Psychologie studiert und dann zur Historie gewechselt. Beide Fächer war sie zu Anfang mit großem Engagement angegangen. Doch dann hatte sie begonnen, abends in der Studentenkneipe Blue Note zu kellnern. Irgendwann hatte sie nur noch gekellnert. An Mabonadh, Mitte September, hatte sie eingesehen, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Ihre Kommilitonen waren alle längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Tilla hatte einen Entschluss gefasst und einen Tag nach Mabonadh, der Tag-und-Nacht-Gleichen des Herbstes, ihre Sachen gepackt und Göttingen den Rücken gekehrt, um nach Braunschweig zu ziehen. Der Nachteil war, Achim lebte in Braunschweig. Der Vorteil war, Nina lebte in Braunschweig.
Wieder wurden ihr die Augen feucht, als sie daran dachte, wie sehr sich Nina über diese Neuigkeit gefreut hatte. Seither hatten sie sich mehrfach heimlich getroffen. Tilla hatte ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Lehndorf bezogen und kellnerte in einer kleinen Kneipe im Magniviertel. Es war in Ordnung. Aber aus Sicht ihrer Mutter war es sicher ein kleines Leben – ein sehr kleines.
Der Motor ihres Wagens erstarb mit einem würgenden Gurgeln. Vor ihr erhob sich ein kleines Siedlungshaus. Zwischen dem Haus und einem etwas zurückliegenden Schuppen links daneben war ein großer Garten zu sehen, dessen Üppigkeit sogar zu dieser Jahreszeit erkennbar blieb. Efeu hielt das Häuschen etwa zur Hälfte mit seinen langen grünen Fingern umfasst und gab ihm etwas Verwunschenes. Der Anblick des Hauses, in dem sie aufgewachsen war, hatte Tilla stets mit Wärme an einstige Geborgenheit erinnert. Doch heute schien ihr das Gebäude irgendwie kalt und abweisend. Langsam stieg Tilla aus ihrem Wagen. Es war seltsam, dass so gar nichts darauf hindeutete, dass ihre Mutter zu Hause war. Der bewaldete Hang hinter dem Haus nahm den Räumen bereits am frühen Nachmittag das Licht. Eigentlich hätte das Küchenfenster beleuchtet sein müssen.
Als Tilla das niedrige Gartentor öffnete, kam ihr Paris mit lautem, sich beschwerendem Miauen aus Richtung des Schuppens entgegen. Tilla bückte sich und kraulte die Katze hinter den Ohren, doch das Tier genoss diese Zuwendung nur kurz. Behände hüpfte Paris die Treppenstufen zur Haustür hinauf. Neben einem riesigen ausgehöhlten Kürbis, in dem eine Kerze flackernd ihr letztes Licht abgab, drehte die Katze einen gezierten Kreis. Auffordernd blickte sie Tilla an. Tilla kramte ihren Schlüssel hervor und schloss auf.
»Mutsch?«, rief Tilla, während sie durch den Flur ging. Paris lief durch den Flur voraus, blieb dann jedoch unschlüssig stehen. Mit einem langgezogenen tiefen Laut zeigte die Katze, dass etwas nicht stimmte. Eine Geruchsmischung aus unangenehm scharfem Kräutersud, abgestandener Luft und einem deplaziert wirkenden Hauch von Parfum zog Tilla entgegen. Sie schnupperte dem fremden Aroma hinterher, das sich durch die ins Haus strömende Frischluft verflüchtigte. Ein Aftershave?
»Mutsch? Bist du da? Ich bin’s!« Tilla zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe im Flur. »Mutsch?«
Tillas Stimme wurde immer dünner. Zögerlich ging sie um die Ecke und spähte in die Küche. Ihre Mutter saß unbeweglich im fast dunklen Raum in der Ecke der Küchenbank. Die Hände im Schoß, der Kopf war auf die Brust gesunken. Als Tilla den Lichtschalter umlegte, traf es sie wie ein Schlag.