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Kapitel 13
ОглавлениеDie Kelten bewiesen eine leichte Fassungsgabe, vor allem für Sprachen.Sie beherrschten das Griechische ebenso wie Latein.
– Georg Grupp –
Tilla saß an ihrem Computer und tippte fast ohne abzusetzen. Sie hätte nie gedacht, dass ihr das Übersetzen so leicht fallen würde. Mit Borderfelds regelmäßig eintreffenden Aufträgen und dessen Honorar hatte sich für Tilla einiges verändert. Nicht nur, dass die meisten ihrer Rechnungen beglichen waren, sie hatte damit auch den Anfang für grundlegende Veränderungen in ihrem Leben gefunden. Es läutete an der Tür. Energiegeladen sprang Tilla auf, denn dort warteten weitere Veränderungen. Ihre Mitte kribbelte etwas, als sie Gerred Assmut die Tür öffnete. Doch da sie sich, was Männer anging, Zurückhaltung befohlen hatte – der Ausdruck Nymphomanin hatte sie im Gerichtsprozess doch nachhaltig getroffen –, begrüßte sie ihn zwar freundlich, aber mit der gebührenden Distanz.
Über seine Schulter hinweg sah sie Astrid Volkers aus ihrem Wagen steigen. Die Freundin ihrer Mutter begrüßte Gerred zu Tillas Überraschung sehr innig. »Gerred, wie geht’s dir und Dana?«
»Danke, mir geht es gut. Dana braucht noch etwas, um den Schock zu verdauen, aber es geht schon wieder«, antwortete Gerred Assmut.
»Gut! Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst«, bot Astrid an.
Er nickte dankbar.
Offenbar ging es um die junge Frau, die Tilla nun schon mehrfach bei ihm gesehen hatte. Niemand schien sie aufklären zu wollen und so kämpfte Tilla das bohrende Gefühl, außen vor zu sein, nur mühsam zurück. Sie führte die beiden ins Wohnzimmer, wo sich Gerred abschätzend umsah.
»Und diese Möbel wollen Sie alle wegwerfen?«, fragte er ungläubig.
Bevor Tilla ein grimmiges »Ja!« von sich geben konnte, warf Astrid erstaunt ein: »Du meine Güte, sagt bloß, ihr siezt euch? Ihr ward vielleicht keine Sandkastenfreunde, aber ihr müsstet euch doch von früher kennen.«
Tilla blickte Gerred Assmut ins Gesicht, wobei sie noch immer die Narbe auszusparen versuchte. »Stimmt! Bleiben wir doch beim Du!«
Gerred Assmut lächelte kurz und nickte. »Gern!«
»Und nun zu Gerreds Frage … du willst doch sicher nicht all diese Möbel wegwerfen, oder?«
»Na ja …« Tilla sah sich verunsichert um. Eigentlich hatte sie genau das gewollt. Sie hatte Gerred angerufen und ihn gefragt, ob er jemanden wüsste, der an den Sachen interessiert sei.
Astrid nahm sie in den Arm. »Tilla Liebes, ich verstehe ja, dass du dieses Haus verändern und zu deinem Heim machen willst. Aber stell die Möbel doch einfach erst mal in den Keller. Dann kannst du in aller Ruhe überlegen, was du damit machen willst.«
»Hm, ja, okay«, lenkte Tilla mit einem Anflug von Erleichterung ein. Natürlich war ihr klar, dass ihr Entschluss eine Trotzreaktion gewesen war, aber sie hatte einfach den Weg zurück nicht gefunden. Astrid bot ihr den Ausweg.
»Du wirst sehen, wenn sich deine Seele beruhigt hat, dann stellst du fest, wie sehr du an diesen Möbeln hängst«, prophezeite Astrid und fügte humorig dazu: »Obwohl die meisten tatsächlich eher funktionell als schön sind.«
Tilla musste lächeln, während ihr Blick durch das Wohnzimmer glitt, um dann an Paris hängen zu bleiben, die sie mit ihren gelben Augen fixierte. Die Katze hatte sich auf Großmutter Leandras Sessel niedergelassen, als wolle sie sagen: Der bleibt hier!
Tilla grinste die Katze an. »Ist ja gut. Der Sessel wird nicht angerührt!« Paris antwortete mit einem kurzen Maunzen. An Gerred gewandt erklärte Tilla: »Weißt du, Mutsch, meine Mutter, hat nie viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt. Sie brauchte einfach Platz, um ihre Habe unterzubringen. Daher ist die Zusammenstellung der Möbel hier etwas stil- und lieblos geraten. Der einzige Raum, in dem meine Mutter wirklich lebte, war ihre Kräuterapotheke.«
»Kräuterapotheke?«, echote Gerred interessiert.
»Ja«, antwortete Tilla. »Die bekommt Astrid.«
Gemeinsam verließen sie das Wohnzimmer. Vor dem Apothekenzimmer verhielt Tilla einen kurzen Augenblick. Sie hatte es bisher vermieden, den kleinen Raum zu betreten, in dem sie die Präsenz ihrer Mutter ganz besonders deutlich zu spüren glaubte. Nun öffnete sie die Tür mit einer resoluten Bewegung. Sechs schmale, raumhohe Schrankwände ragten gegeneinandergestellt in den Raum. Sie bestanden aus kleinen, mit hellen Intarsien verzierten Schubladen. Jede war mit einem runden Porzellangriff versehen. Darunter prangte, ebenfalls aus Porzellan, ein Schildchen, mit einem Hinweis auf den Inhalt.
Völlig fasziniert sah sich Gerred um. »Unglaublich! So etwas Schönes hab ich noch nie gesehen.« Versonnen strich er über die rotbraunen Wangen der Schränke.
Seine Begeisterung rührte Tilla. Sie wandte sich mit feuchten Augen ab und schritt durch den schmalen Gang bis zum Fenster. Astrid studierte derweil eine an der Wand hängende Karte des Harzes, in die kleine Fähnchen gepikt waren, die auf Pflanzenfundorte hinwiesen. Eine hölzerne Arbeitsplatte direkt am Fenster nahm die gesamte Zimmerbreite ein, rechts und links gesäumt von Regalen, gefüllt mit Fachbüchern über Kräuterheilkunde. Auf dem Tisch mit der groben Holzplatte stapelten sich Utensilien zum Bearbeiten der getrockneten Pflanzen und eine alte Waage nebst einem Kasten mit unzähligen Messinggewichten, die zum Teil mit Pinzetten bewegt werden mussten. Sonnenstrahlen spiegelten sich in der Damaszenerklinge von Hederas Messer, das auf seinen nächsten Auftrag zu warten schien. Die Lade mit dem Eisenhut hatte Tilla zurück in den Schrank geschoben. Nun betrachtete sie den Platz, wo sie gestanden hatte, mit Widerwillen.
»Wirklich unglaublich«, wiederholte Gerred hinter ihr. »Nicht nur, dass diese Apothekenschränke eine herrliche Handwerksarbeit darstellen, auch diese Raumaufteilung ist ideal.« Mit begeistertem Blick sah er sich um. »Das Zimmer ist ja keineswegs groß und doch hat man das Gefühl, in einem Saal zu stehen. Ich komme mir vor wie in Harry Potters Hogwarts.«
Tilla lachte herzlich. »Ja, früher hab ich den Raum auch immer Zauberzimmer genannt. Aber ich durfte hier nur spielen, wenn Mutsch dabei war.«
»Tja, bei dem, was hier lagert, war das sicher nicht verkehrt.« Gerred fuhr mit den Fingern sanft über die Porzelanschildchen an den Laden. »Herba Verbenae, Urvae Ursi Folium, Radix Digtamni … Ich wünschte, ich verstünde etwas davon«, murmelte er ehrfürchtig.
Tilla lehnte an der Wand. Die botanischen Namen erschienen ihr plötzlich wie etwas unendlich Vertrautes. Wie von selbst kullerten ihr die Worte aus dem Mund: »Herba Verbenae wird auch Druidenkraut genannt. Meine Mutter setzte es bei bestimmten Magenbeschwerden ein. Urvae Ursi Folium sind Bärentrauben zur Entgiftung der Niere und Radix Digtamni brauchst du sicher nicht, es reguliert die Monatsblutung.«
»Gut!«, lobte Astrid erstaunt. »Ich hätte gar nicht gedacht, dass du so viel behalten hast.«
Tilla grinste. »Ja ja, hast wohl gedacht, ich hätte nur Hanf und Hopfen im Sinn, nicht wahr?«
»Hanf und Hopfen?«, fragte Gerred.
»Cannabaceae«, erklärten Astrid und Tilla unisono.
Tilla erklärte lächelnd: »Cannabis wird in der Schmerztherapie eingesetzt. Die meisten Hanfgewächse werden zur Beruhigung, also bei Schlafstörungen und bei leichten Depressionen eingesetzt, wie etwa der Hopfen.«
»Ach, Hopfen ist Hanf?«
»Ja. Aber der wirklich interessante Hanf ist der Rauhanf. Nur er enthält das Tetrahydrocannabinol. Wenn du ihn findest und die Lade öffnest, muss ich dich umbringen«, erklärte Tilla mit unschuldigem Augenaufschlag.
»Okay, schon gut«, lachte Gerred.
Tilla wanderte die Gänge ab und stutzte. Eine der Laden war nicht richtig zugeschoben. Ihre Mutter hatte stets darauf geachtet, dass sie sorgfältig geschlossen waren, um Verunreinigungen durch ätherische Öle anderer Pflanzen und Nachtrocknung zu verhindern. Vielleicht hatten die Polizisten sie aufgezogen. Warum hatte sie die offene Lade nicht bemerkt, als sie das letzte Mal hier gewesen war und das Aconitum Napellus zurück in den Schrank geschoben hatte? Tilla ging hinein und schloss die Schublade sorgfältig. Auch Astrid bemerkte es und runzelte die Stirn.
»Warst du das?«, fragte sie mit leichtem Tadel.
Tilla schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, muss ich ja wohl. Mist. Ich bin die letzte Zeit so zerstreut.«
»Ist ja auch kein Wunder«, stellte Astrid versöhnlich fest.
»Und Hedera hat all diese Kräuter selbst gesammelt?«, fragte Gerred.
»Ja, die meisten davon«, antwortete Astrid. »Hier im Harz findet man eine selten reichhaltige Auswahl. Deswegen die Karte.« Astrid wies auf die Harzkarte neben ihr an der Wand. »Hedera arbeitete am liebsten mit den einheimischen Wildpflanzen. Sie sagte immer, dass die Menschen auf die Pflanzen ihrer Region am besten reagieren. Bei exotischen Pflanzen käme es oft zu allergischen Reaktionen. Ich habe viel von ihr bezogen und bei meinen Patienten eingesetzt. Selbst in der Dosierung habe ich mich völlig auf Hederas Erfahrung verlassen.« Astrid hielt kurz inne. Als der Anflug von Trauer sich legte, zeigte sie auf ein paar Laden in der Nähe der Tür. »Aber auch in der Pflanzenheilkunde gibt es Trends. Bei einigen Patienten musste es unbedingt Ginseng, Haronga oder Teebaumöl sein. Die hat Hedera dann bei speziellen Händlern bestellt.«
»Und nun arbeitest du mit Hederas Kräutern weiter?«, fragte Gerred.
Zögerlich antwortete Astrid. »Ja, ich werde es versuchen.«
Tilla hatte still zugehört. Sie wusste, Hedera hätte gewollt, dass Astrid ihre Arbeit fortsetzte, doch nun wurde ihr mulmig bei dem Gedanken, dass die Apotheke dieses Haus verließ. Forscher, als ihr zumute war, verkündete sie: »Wenn die Apotheke weg ist, werde ich die Wand hier einreißen und das Wohnzimmer vergrößern. Natürlich nur, wenn du mir versprichst, dass das Haus nicht zusammenfällt, wenn ich der Wand mit einem Vorschlaghammer zu Leibe rücke.«
Gerred betrachte die Wand kurz und klopfte an verschiedenen Stellen. »Nein, es ist keine tragende Wand. Aber überlass den Vorschlaghammer besser mir.«
Tilla grinste. »Nichts dagegen, danke!«
Astrid trat an Tilla heran und strich ihr über die Schultern. »Tilla-Schatz, du weißt, dass ich für diese Apotheke morden würde, aber es erscheint mir nicht richtig, dass du sie weggibst. Die Kräuter, ja, die hole ich gern ab. Aber die Schränke sollten bleiben.« Astrid sah sich sinnend um. »Kräuter waren Hederas Leben«, murmelte sie.
»Und ihr Tod«, stellte Tilla brüsk fest.
Bleierne Stille machte sich breit. Tilla blickte scheinbar abwesend aus dem Fenster, bis es plötzlich aus ihr herausplatzte wie überreifer Samen nach einem Sommerregen.
»Ich kann mir einfach nicht erklären, warum sie diesen Scheiß Sud aus Eisenhut getrunken hat.« Abrupt drehte sie sich herum und flüchtete, eine Bresche durch ihre Besucher schlagend, in ihr Wohnzimmer. Astrid und Gerred folgten ihr langsam.
Tilla tappte nervös im Wohnzimmer hin und her. »Wenn es jemand gibt, dem ich nie und nimmer einen Selbstmord zugetraut hätte, dann meiner Mutter. Sie war wie ein Fels.«
»Ja, das war sie.« Zögernd meinte Astrid: »Eine Woche vor ihrem Tod habe ich noch mit Hedera gesprochen. Es deutete nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass sie so etwas vorhatte. Ich hab unseren letzten Nachmittag schon tausende von Malen Revue passieren lassen. Ich verstehe es auch nicht.«
Astrids Worte taten Tilla unendlich gut. Sie war unschlüssig, ob sie ihren Freunden von ihrem Verdacht berichten sollte, der ihr plötzlich mehr als abwegig vorkam. Dennoch begann sie: »Mir ist da etwas aufgefallen, als ich die Küche aufräumte. Mutsch hatte an jenem Abend das alte Wedgwood gedeckt, die Kanne und eine Tasse standen auf dem Tisch. Aber eine weitere Tasse hab ich im Küchenschrank gefunden!«
»Was?«, entfuhr es Astrid. »Das Wedgwood hat sie nur benutzt, wenn Besuch da war …«
»Und eine zweite Tasse stand im Küchenschrank?«, hakte Gerred nach.
»Ja. Abgesehen davon, dass meine Mutter diese Tasse nie in den Küchenschrank stellen würde, war sie gespült. Und die Polizei war das nicht. Als ich sie fand, war keine zweite Tasse auf dem Tisch.«
»Hedera hatte also einen Besucher? Jemand, der hinterher die Tasse gespült hat?«, fragte Gerred ungläubig. »Bei einem Besucher würde man ja sogar an ein Fremdverschulden denken müssen. Aber es gab doch keine Kampfspuren, oder?«
»Nein«, sagte Tilla leise. Dann fragte sie hilflos: »Kann es sein, dass sie sich mit jemandem dazu verabredet hat … also zum gemeinsamen Selbstmord, und der Besucher einen Rückzieher gemacht hat?«
Astrid sah sie bestürzt an. »Wer sollte denn das gewesen sein?«
»Da hatte ich mir von dir eine Antwort erhofft«, gab Tilla leise zurück.
»Da fällt mir absolut niemand ein! Außerdem, ein Doppelselbstmord, das passt so gar nicht zu Hedera.«
Tilla wurde unsicher. »Stimmt eigentlich.«
»Trotzdem ist diese zweite Tasse äußerst merkwürdig. Hast du sie zur Polizei gebracht?«, fragte Gerred.
»Äh, nein … ich kam mir so dumm vor. Ich habe Angst, dass die sagen, die Tasse hätte gar nichts zu bedeuten und dass Mutsch einfach nur vergessen hat, sie zurück ins Wohnzimmer zu stellen.«
»Hatte deine Mutter denn Feinde?«, hakte Gerred vorsichtig nach.
»Nein!«, erklärte Astrid kategorisch.
Tilla fügte hinzu: »Meine Mutter hat sich tatsächlich außer mit mir noch nie mit jemandem gestritten. Bis auf …« Tilla brach ihre Rede nachdenklich ab.
»Was?«, fragte Gerred.
»Na ja, damals in Braunlage, da hat es wohl mal so was wie einen Stalker gegeben.« Tilla blickte hilfesuchend zu Astrid. »Was genau ist da eigentlich damals vorgefallen?«
Astrid starrte Tilla verstört an und sagte überraschend abweisend: »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.«
»Aber ist sie nicht deswegen dort weggezogen?«, fragte Tilla erstaunt nach.
»Nein, so war das nicht. Außerdem spielt das heute keine Rolle mehr, es ist immerhin dreißig Jahre her!«, wiegelte Astrid ab.
Tilla wunderte sich noch über Astrids brüske Worte, da stellte Gerred mit Blick auf ein Foto an der Wand fest: »Interessant. Das ist ja eine Collage.«
Tilla sah ihm über die Schulter und stellte verwundert fest, dass er recht hatte. Auf dem alten Foto von ihrer Mutter klebte ihr eigenes Gesicht. Das Bild hatte sie noch gar nicht bemerkt. Wieder erfüllte es sie mit Schmerz, dass sich im Haus kein einziges Foto von ihr mehr befand. Nur dieses. Ihr Gesicht über dem ihrer Mutter. Eine Träne löste sich, die sie unwillig wegwischte.
»Was ist?«, fragte Gerred vorsichtig.
»Die Fotos von mir, sie sind weg, alle. Nur dieses gibt es noch. Sie hat mein Gesicht von einem ähnlichen Foto ausgeschnitten und auf eines ihrer Fotos geklebt, was ich jetzt erst bemerke. Ich verstehe das alles nicht.«
»Sie hat deine Fotos weggehängt?«, fragte Astrid fassungslos.
»Nicht nur weggehängt, sie sind ganz weg«, gab Tilla unwillig zurück.
»Und wieso dann diese Collage?«, fragte Gerred.
»Wenn ich das wüsste«, murmelte Tilla.