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Kapitel 16

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Während Tilla gerade vor dem breiten Tor abbog, trat Andreas Kamenz nur rund dreihundert Meter entfernt auf seinen Chef Gerd Wegener zu, der den Abtransport der Leiche in einem schmucklosen Zinksarg mit einer Mischung aus Abscheu und Nachdenklichkeit verfolgte. Vorsichtig tasteten sich die Sargträger über die Brücke aus feuchtem Holz, die den ursprünglichen Aufgang zur Kluskapelle überspannte.

Kriminalhauptkommissar Gerd Wegener stand schon seit einer Weile völlig bewegungslos am Stamm der Linde und ließ den Tatort auf sich wirken. Andreas Kamenz wusste, dass dies für seinen Vorgesetzten normal war. Ihm selbst zog die feuchte Kälte derart durch Kleidung und Schuhe, dass er erbärmlich fror. Um dem entgegenzuwirken, trabte er geschäftig hin und her, doch die Kälte machte sich auch in seinem Inneren breit. Ein Opfer wie dieses hatte er noch nicht gesehen. Die Haut war entsetzlich fahl und weiß gewesen. »Völlig ausgeblutet«, hatte die Rechtsmedizinerin, Dr. Hannah Giresch, erklärt.

Eine hochgewachsene Gestalt strebte mit forschen Schritten über den Weg aus feinem Splitt auf das rot-weiß gestreifte Absperrband zu, das einer der uniformierten Kollegen hilfsbereit hochhielt. Staatsanwalt Dr. Jan Berking steuerte auf Wegener zu. Die Männer begrüßten sich mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Sodann erwartete der Staatsanwalt wortlos einen Bericht. Andreas Kamenz war von dem Gebaren derart fasziniert, dass er kaum merkte, dass man ihn erwartungsvoll ansah.

»Viel haben wir noch nicht«, half ihm Wegener auf die Sprünge, den das unterkühlte Auftreten des jungen Staatsanwaltes nicht zu stören schien.

Andreas Kamenz beeilte sich zu referieren: »Harald Schakenbeck, fünfundfünfzig Jahre alt, arbeitete im Sozialamt. Nach dem ersten Eindruck der Rechtsmedizinerin ist er mit einer ziemlich breiten, beidseitig geschliffenen Klinge erstochen worden und verblutet. Vorher scheint man ihm arg zugesetzt zu haben. Er ist mit Hämatomen übersäht. Dr. Giresch vermutet, dass er um Mitternacht herum starb.«

Während des Berichtes nahm Berking die archaische Örtlichkeit in sich auf, bis sein Blick an der Kapelle hängenblieb. Man hatte an dieser Stelle vor langer Zeit eine Höhlung in den Stein getrieben. Der Klusfelsen stellte nicht nur für Christen ein Heiligtum dar. Zahlreiche Symbole, die man überall in den weichen Hilssandstein geritzt hatte, zeugten von seiner Bedeutung als Kultstätte für diverse Glaubensgruppen. Nachdenklich betrachtete Berking die matschige Wiesenfläche unterhalb ihres Standortes. In den letzten Tagen hatten Schnee und Regen permanent um die Vorherrschaft gekämpft. Dann umrundete er die Stelle, an der die Leiche gelegen hatte.

»Hier oben auf diesem Steinplateau wird man wohl kaum Fußspuren sichern können«, stellte er verdrossen fest.

»Nein. Und wenn, dann wäre eine Zuordnung wegen der zahlreichen Besucher und Spaziergänger nicht möglich«, antwortete Gerd Wegener.

Berkings Blick streifte die Häuser, die nur von einer schmalen Baumreihe getrennt den Klusfelsen umgaben. Für einen Augenblick erschien eine Falte des Unmuts über seiner Nase. »Und es hat niemand etwas gehört?«

»Die Kollegen sind noch damit beschäftigt, sich bei den Anliegern durchzufragen. Eine ältere Anwohnerin will ein Auto gehört haben, das wohl dort unten über den Fußweg gefahren ist. Aber gesehen hat sie nichts.«

»Reifenspuren?«

Als Antwort wies Wegener auf eine Gruppe von Tatorttechnikern, die sich bemühten, einen Gipsabdruck von einem Stückchen Matsch neben dem Spazierweg zu nehmen.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Berking schroff.

»Eine Spaziergängerin, die mit ihrem Hund unterwegs war. Sie wohnt dort hinten, aber sie hat in der Nacht ebenfalls nichts bemerkt«, warf Kamenz ein, der sich zunehmend über den Ton des Staatsanwaltes ärgerte.

»Man sagte mir, das Opfer sei auf dem Bauch liegend mit ausgebreiteten Armen aufgefunden worden?«, fragte der Staatsanwalt nach.

Nun ahnte Kamenz, warum Dr. Berking, der für schwere Delikte und organisiertes Verbrechen zuständig war, so schnell von seinem Wirkungsort Braunschweig ins beschauliche Goslar gekommen war.

»Ja«, antwortete Wegener. »Das Ganze sieht tatsächlich ein wenig wie eine rituelle Hinrichtung aus. Aber wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

Berking ging nicht auf Wegeners Einwand ein. »Ist ein bedeutsamer Platz, nicht wahr?«

Andreas Kamenz war wie elektrisiert. »Eine rituelle Hinrichtung? Sind Sie deshalb hier?«

Berking ließ sich Zeit mit seiner Antwort, die Kamenz und Wegner dann nicht wenig erstaunte. »Offen gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin eigentlich nur zufällig hier.« Er blickte etwas unschlüssig über den alten, grob behauenen Sandsteinboden mit dem dunklen Fleck in seiner Mitte und fügte dann hinzu: »Ich kam gerade drüben vom Friedhof, als ich den Anruf meiner Dienststelle bekam.«

Kamenz und Wegener schauten angestrengt geradeaus, als habe der Braunschweiger Staatsanwalt ihnen etwas peinlich Privates eröffnet. Natürlich war an der Aussage nichts Peinliches, Dr. Berking galt jedoch als extrem unnahbar, was einen Hinweis zu seinem Privatleben zu einer ausgesprochenen Seltenheit machte.

Doch der Staatsanwalt fand schnell zu seiner üblichen Schroffheit zurück. Mit einem lapidaren: »Schicken Sie mir den Bericht rüber« machte er dem Schweigen ein Ende und verließ die Kriminalbeamten. Die trieb das Wetter denn auch bald in ihren Wagen. Wegener nickte dem Tatorttechniker zu, der letzte Fotos machte. Sie alle schenkten den gleichmäßigen Rillen in der Sandsteinwand gegenüber der Kluskapelle keine Beachtung. Schließlich ging doch kaum ein Klusbesucher davon, ohne ein Zeichen in dem weichen Stein zu hinterlassen.

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