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Kapitel 1
ОглавлениеAus Liebe zu der Keltin Kamma tötete der Fürst Sinorix deren Gatten Sinatos.Nach langem Zögern gab Kamma dem Werben des Sinorix nach und lud ihn in den Artemis-Tempel ein, deren Priesterin sie war. Sie bot ihm einen vergifteten Weihetrank, nachdem sie vorgekostet hatte. Sinorix tat es ihr nach und trank. So tötete sie den Mörder ihres Mannes und opferte dafür ihr Leben.
– Plutarch Moralia 257 F –
Dreißig Jahre später
Hedera konnte an nichts anderes mehr denken als daran, dass sie ihrer eigenen Geschichte begegnet war. Sie hatte ihn wieder gesehen. Und was noch schlimmer war, er hatte sie gesehen. Erst hatte sie geglaubt, einem Trugbild aufzusitzen, denn sie wähnte ihn längst im Zwischenreich. Doch er war am Leben.
Auf den Hochwiesen von Braunlage hatte sie Blätter des roten Fingerhutes sammeln wollen, um daraus eine Wundverbandabkochung für einen ihrer Patienten zu machen. Fingerhut gab es auch hier im Tal. Wieso trieb es sie immer wieder zu einem Ort, wo man sie verhöhnt und gedemütigt hatte? Warum war er dort gewesen? Er, der ihr Leben fast zerstört hatte. Wegen dem, was er getan hatte, war sie vor dreißig Jahren aus Braunlage weggegangen, damit ihre Tochter Tilia, die von allen Tilla genannt wurde, ohne das Getuschel der Nachbarn aufwachsen konnte. Tilla.
Ihr wurde eiskalt. Warum kam er gerade jetzt zurück? Ahnte er etwas? Was würde er tun, wenn er von Tilla erfuhr? Sollte sie ihre Tochter warnen? Nein! Hedera wusste genau, dass Tilla, wenn sie von ihm erfuhr, schnurstracks zu ihm gehen würde. Nein, so ging es nicht. Hedera ließ den Kopf sinken.
Ihre Tochter hatte den alten Glauben immer abgelehnt und Hedera hatte sie gewähren lassen. Den alten Glauben zu praktizieren, forderte viel von einem. Es war nicht für jeden der richtige Weg. Der, der ihn gehen wollte, musste sich bewusst dafür entscheiden. Sie wusste, Tilla hatte den Ruf der alten Götter vernommen, doch noch hatte sie sich nicht entschieden. Ihr scharfer, von erlerntem Wissen dominierter Verstand überlagerte den Teil ihrer Persönlichkeit, den man für den alten Glauben brauchte. Würde Tilla je in der Lage sein, sich einer Sache zu widmen, die über das Erklärbare hinausging?
Hederas Blick fiel auf die Manuskriptseiten ihres Buchentwurfes auf dem Arbeitstisch in ihrer Apotheke. Sie hatte einen Weg gefunden, die Sage am Leben zu erhalten. Ein Weg, der vielleicht der falsche war, doch sie hatte keine Wahl mehr. Nicht mehr, seit er zurückgekommen war. Nach seinem Tod hätte es vorbei sein sollen. Aber er lebte und er würde seine Suche nach dem Artefakt fortsetzen.
Sie musste ihre Tochter warnen, ihr so vieles erklären, aber würde Tilla die Gefahr überhaupt begreifen? Sie wusste, ihre Tochter war eine Kämpferin, wenn es sein musste. Doch zurzeit ging sie noch allem aus dem Weg, was nach Anstrengung, Verantwortung oder gar nach dem alten Glauben roch. Hedera seufzte tief. In der heutigen Welt war kein Platz für Magie. Für Hedera hingegen war es Teil ihres Lebens. Nicht nur die Historie, auch die Natur bestimmte ihr Leben. Sie war Heilpraktikerin. Einige ihrer Patienten kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Ausnahmslos alle gingen ruhiger und zufriedener, als sie gekommen waren, obwohl sie keineswegs alle heilen konnte. Sie konnte so vielen helfen. Warum war sie zeit ihres Lebens an ihrer Tochter gescheitert?
Mit professionellem Blick überprüfte Hedera die kopfüber hängenden Pflanzen. Mit zarten Bewegungen befühlte sie hier die Festigkeit eines Stängels, dort den Restfeuchtegehalt einer Blüte. Der Göttin sei dank war der Sommer etwas trockener gewesen als der vorangegangene. Die Pflanzen waren langsamer gewachsen und hatten mehr Wirkstoffe ansammeln können. Sie war zufrieden mit ihrer Ernte. Zart strichen ihre Finger über die filigranen Blüten, die ihre Farbe noch immer nicht verloren hatten. Würden sie je zur Anwendung kommen? Zweifelnd sah sie sich in ihrer Apotheke um, die viele hundert, zum Teil sehr seltene Kräuter beherbergte. Nein, es würde nicht mehr lange dauern, bis er sie gefunden hatte.
Hedera vertrieb die schmerzhafte Erinnerung. Liebevoll strich sie ihrer Katze, die selbstsicher auf dem Fensterbrett thronte, über den schwarzseidigen Kopf und ging dann nach draußen, um die letzten Strahlen der Herbstsonne zu genießen. Paris sprang elegant von ihrem Thron und folgte Hedera zu der Bank unter der Linde, wo sie sich genüsslich auf dem kleinen hölzernen Tisch zusammenrollte. Hedera wusste, dass sich bald der Kreis ihres eigenen Lebens schloss. Aufgrund ihres Glaubens hatte sie keine Angst vor dem Tod, aber dass durch ihren Tod etwas unendlich Wichtiges unvollendet bleiben könnte, beunruhigte Hedera viel mehr.
Sie wusste mittlerweile, was dieser vermaledeite Gegenstand im Laufe der Zeit schon alles angerichtet hatte. Zuletzt hatten Hitlers Schergen danach gesucht, der Göttin sei Dank erfolglos. Dann war er gekommen und hatte sie so umschwärmt. Doch eigentlich hatte er nur das Artefakt im Sinn gehabt. Wie hatte sie nur glauben können, dass er Gefühle für sie hegte?
Aber wie sollte sie Tilla all das erklären? Ihre Tochter, deren beste Freunde Computer, Fernseher und ihr elektronisches Spielzeug waren. Nur ihr Name Tilia – die Linde – erinnerte noch an die Göttin Erde. Doch sie verweigerte sich sogar ihrem Namen. Immer hatte sie sich selbst lieber Tilla genannt. Ihre kleine Tochter, die in ihrem toten Vater einen Helden sah. Hedera schloss die Augen. Würde Tilla die Wahrheit verkraften? Sie musste. Es wurde Zeit, dass sie erwachsen wurde. Bei ihren keltischen Urahnen galten Kinder mit zwölf Jahren als erwachsen. Ihre Tochter hatte wirklich lange genug Zeit gehabt.
Hedera saß noch eine Weile in ihrem geliebten Garten und beobachtete das Spiel des Windes mit den Blättern und Ästchen, bis ihr zu kühl wurde und sie ins Haus ging. Im Wohnzimmer glitt ihr Blick über die Fotografien an der Wand. Wie schon so oft musste sie lächeln. Da gab es ein Foto von Tilla, auf dem sie übermütig einen Waldweg entlanglief und sich auf Hederas Zuruf hin umdrehte. Daneben hing ein uraltes Foto von ihr selbst. Ihre Miene hatte damals die gleiche Unbekümmertheit gehabt wie die von Tilla auf dem Foto daneben. Es musste wohl ein Jahr vor dem schrecklichen Abend aufgenommen worden sein. Es war fast schon unheimlich, wie sehr sie sich ähnelten. Tilla war etwas größer als Hedera, aber ihre Gesichter und vor allem ihr rotes Haar glichen sich so sehr, dass sie auf diesen Bildern Zwillinge hätten sein können. Eine Sache gab es aber doch, die sie beide unterschied. Von Tillas Augen glich nur eines den grünen Augen ihrer Mutter, das andere war von hellem Braun. Die verschiedenfarbigen Augen passten zu der Zerrissenheit ihrer Tochter.
Hederas Lächeln wich einem schmerzlichen Ausdruck, denn sie wusste, sie musste die Fotos vernichten. Sie musste alles vernichten, was auf Tillas Existenz hinwies. Nur so konnte sie ihre Tochter schützen.
Widerstrebend nahm sie die Bilder von der Wand und trug sie in die Küche. Ihr Blick fiel auf eine alte Kinderzeichnung, deren vergilbte Fläche bis zur kleinsten Ecke mit vielen hübschen Einzelbildchen gefüllt war. Hedera lächelte. Dieses Bild zeigte nicht nur das Zeichentalent ihrer Tochter, es offenbarte auch ihren unruhigen Geist, der seine Ideenfülle und seine Neugier auf Neues kaum zügeln konnte. Seufzend nahm sie das Bild von der Küchenwand und legte es auf den Stapel, der vernichtet werden musste. Hedera blickte auf den Platz in der Eckbank. Tillas Platz. Hier hatte ihre Tochter immer gesessen und die Zeilen der Tageszeitung durchpflügt, wenn dort ein Fortsetzungsroman abgedruckt worden war. Hedera lächelte bei der Erinnerung daran, dass ihre aufbrausende Tochter jeden Tag aufs Neue laut schimpfend kundgetan hatte, dass sie die nächste Folge jetzt und augenblicklich lesen wollte.
Das war es! Die Idee, wie sie ihre Tochter erreichen konnte, kam geradezu elektrisierend. Tilia gierte nach all den Dingen, die sie nicht haben konnte. Sofort strebte Hedera an ihren Arbeitstisch. Das Manuskript, sie musste Tilia neugierig darauf machen. Entschlossen begann sie ihren Buchentwurf in einzelne Blätterhaufen zu unterteilen. Dann holte sie Umschläge, versah sie mit Tillas Göttinger Adresse und steckte in jedes Kuvert ein Teil der Geschichte um das sagenhafte Schwert Harcylugh, bis ein Stapel von Postsendungen vor ihr lag.D