Читать книгу Leichte Sprache - Cristina Morales - Страница 10

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Der Macho hat eine Tochter, das arme Kind. An diesem Nachmittag spazierte er mit ihr an der Hand in der Umgebung des Bürgerzentrums La Barceloneta herum. Wer hatte hier wen aus der Tagesbetreuung abgeholt? Wie in diesen Märchen aus der verkehrten Welt, wo die Hexe die Liebe des Prinzen entfacht und man die Suppe mit der Gabel isst, so holen in der TAFEBAR die Kinder ihre Eltern ab, ihre Onkel und Tanten oder Großeltern. An diesem Nachmittag führten geduldige Kinder ihre Erwachsenen zur Abschlussvorführung des Tanzkurses in der Tagesstätte, dort sollten zwölf Frauen zeigen, was sie neun Monate lang in den Kursen für Zeitgenössischen Tanz, Tanztheater und Angewandte Genderperspektiven auf die darstellenden Künste gelernt hatten. Die Show würde auf der Straße stattfinden, und während die Erwachsenen und die Direktorin Eleonora Stumpo in der Eingangshalle höflich das akademische Viertel abwarteten, um das sich das Publikum verspätete, beschäftigten die Kinder also ihre Eltern, indem sie sich von ihnen hochwerfen ließen, indem sie ihnen die Freude machten, mit ihnen im Rhythmus der herüberwehenden Musik des Soundchecks oder auch ganz ohne Musik zu tanzen, indem sie so taten, als hätte es ihnen nicht wehgetan, als sie bei einem dieser wilden Tänzchen auf die Nase gefallen sind, und sie schluckten die Tränen herunter, ganz wie es die ewige Forderung der Erwachsenen von ihnen verlangte, »es ist nichts passiert, nicht weinen, du bist doch mein großer Junge, du bist doch mein großes Mädchen«, bloß nicht weinen und sie vor den anderen Eltern beschämen, alles für ein friedliches Fest der Erwachsenen.

Wie herrlich sind die Sommerabende in La Barceloneta! Hier ist es fünf Grad kühler als im Rest der Stadt, die Luft wirkt sauber, und kaum betritt man das Viertel, sinkt die Zahl der Touristen pro Quadratmeter auf erträgliche Werte, da alte Charnegos und pakistanische Familien die Plätze besetzen, Tische und Stühle, Radios und Fernsehgeräte auf die Straße stellen und Karten oder Domino spielen und dabei Fußball oder die Spielshow Pasapalabra schauen. Die Touristen wagen sich nicht über den Wechsel der Pflasterung zwischen Bürgersteig und besetztem Platz und begnügen sich damit, aus der Entfernung ein paar Fotos zu machen. Wäre ich eine dieser Alten, die dort Fan Tan spielen, dann würde ich zu dem Touri gehen und von ihm verlangen, vor meinen Augen das Foto zu löschen, das er gerade ohne meine Erlaubnis von mir gemacht hat, genauso wie bei Unruhen immer, wo garantiert irgendein Journalist auftaucht, ein bekloppter Hipster oder sogar ein Tourist, der wegen dieser einzigen Prise Realität, die er aus Barcelona mitnehmen wird, völlig von der Rolle ist und aus nächster Nähe die Vermummten fotografiert, wie sie Schaufenster einschlagen oder Geldautomaten zertrümmern. Dann löst sich aus der Gruppe der Demonstranten immer eine andere Vermummte, die sich um diese Liebhaber der objektiven Berichterstattung kümmert, und mit gezücktem Schlagstock und Schulter an Schulter mit dem Schisser von Fotografen weisen beide Nacken zum Himmel, bis das letzte Foto vom Display verschwunden ist. Nach der Serie Vermummter beginnt eine endlose Serie von Selfies mit Vintage-Filter, aber der immer noch total eingeschüchterte Journalist-Hipster-Scheißtouri zeigt der Vermummten eins nach dem anderen alle seine Fotos, immer weiter, um seinen guten Willen zu demonstrieren: Füßchen mit bunt lackierten Nägeln, Muskelspiele im Spiegel, Fahrer und Beifahrer, die im Auto anstoßen, mit den Fingern geformte Schnauzbärtchen und Vs, während man aus dem Augenwinkel in die Kamera schaut, gefällige Dekolletés, Teller mit Essen, Bierkrüge, unterbelichtete Fotos von Sonnenuntergängen im Gegenlicht, Blumen, Tiere im Arm, Ausschnitte der Sagrada Familia, der Statue von Kolumbus, der Marktstände auf dem Mercat de la Boqueria, der Eidechse von Gaudí, und so weiter mit dreihundert Bildern, auch wenn die Vermummte schon längst weg ist und sich die letzten Demonstranten entfernt haben, der Scheißtouri-Hipster-Journalist seiner eigenen Existenz aber ist auf dem Asphalt zurückgeblieben, den Nacken über das Handy gekrümmt, und geht mechanisch und blind die Fotos durch, antwortet nicht auf die eingehenden WhatsApps, reagiert noch eine Stunde später nicht auf die Anrufe seiner Freunde, mit denen er verabredet war, rührt sich nicht vom Fleck und steht mitten auf der Straße, als die Polizei sie wieder für den Verkehr freigibt und die Autos ihn anhupen, ist taub für die Beschimpfungen der Fahrer, die an ihm zerren, und für den Polizisten, der ihm sagt, komm mit, den Arm über die Schulter des Sanitäters gelegt, der ihm sagt, komm mit, aber nichts, der Journalist-Scheißtouri-Hipster mit Haarlack im Pony löst sich weder vom Handy noch von der Straße. Wie ein Butoh-Tänzer oder ein Stehaufmännchen mit einem Medizinball im Nacken steht er da, keine Chance, ihn zu Fall zu bringen oder zum Gehen oder dazu, den Kopf zu heben, nicht einmal mit dem einladenden Kinn des hübschesten Sanitäters, der es ihm als Vorspiel eines Filmkusses bietet. Die Bauchmuskeln sind gespannt wie die eines Tänzers oder Boxers, bereit, fünf Meter in die Arme seines Partners zu springen oder den rechten Haken zum Knockout zu setzen. Also bleibt nur noch, ihn zu überwältigen, und da kommt die Nadel ins Spiel, die ein wenig nackte Haut sucht und eine Wade voller blonder Härchen findet. Die Sanitäter schließen den Kreis um ihn enger, und als Erstes gibt das Handy auf, ein Sanitäter rettet es vor dem Sturz und bringt es in Sicherheit. Danach geben sich die Knie geschlagen, eine Sanitäterin steht schon bereit und packt ihn unter den Achseln. Da der Kopf schon gesenkt ist, bleibt er, wo er ist, aber jetzt, als sie ihn auf die Trage verfrachten, baumelt er hin und her.

Um Viertel nach acht kamen die Erwachsenen aus der Tagesstätte und nahmen ziemlich martialisch ihre Positionen auf der Plaza Carmen Amaya ein, wo sie schon erwartet wurden und wo ich wohne, weshalb ich mir das Spektakel vom Balkon aus anschauen konnte, ein Logenplatz, auf den die Äste der Bäume ragen. Die Direktorin Eleonora Stumpo trat vor das Publikum, und da nur wenig Leute da waren, brauchte sie kein Mikrofon, um zu erklären, dass es sich um eine Straßen-Performance an verschiedenen Orten des Viertels handele und das Publikum sie dort anschauen könne, wo es wolle. Sie begleite sie zum ersten Schauplatz, dann würden die Tänzerinnen die weiteren Stationen vorschlagen. Stumpo konnte die typischen Wendungen einer Kindergärtnerin von Erwachsenen nicht unterdrücken und schloss: »Noch irgendwelche Fragen?« Ach, Eleonora, Eleonora, du gibst so tollen Tanzunterricht, in deinen Stunden haben sich meine Schiebetüren fast nie geschlossen, warum erliegst auch du dem Hang zum Pädagogisieren? Warum glaubst du, man muss dem Publikum das Sehen erst beibringen? Glaubst auch du, dass Unterricht etwas Unschuldiges ist? Auch du, Eleonora, glaubst wie jeder dahergelaufene Lehrer auf den Kundgebungen für bessere Bildung an Alphabetisierung abseits der emanzipatorischen Politisierung? Alles Fassade, weil so halt die Kröten reinkommen? Darum also sollen sich weiter Wahnsinnige wie der Machofaschist mit den verwaschenen Klamotten zu deinen Kursen anmelden? Seinetwegen komme ich nicht mehr zu deinem Unterricht. Jetzt siehst du, liebe Freundin, wer hier wen hinauswerfen kann und welche Ideologie in den Bürgerzentren vorherrscht.

Einmal wagte es der Macho, den italienischen Akzent von Eleonora Stumpo zu verbessern. Sie sagte »ausfuhren« statt »ausführen«. Sie sagte »um diese Bewegung auszufuhren« und was weiß ich, und als sie die Bewegung gerade ausführen wollte, unterbrach der Macho sie:

»Es heißt ausführen, Ele.«

»Entschuldige, mein Spanisch ist nicht so gut, ich verstehe, dass ihr mich manchmal nicht versteht. Danke, dass du mich verbesserst. Wir fuhren also diese Bewegung aus …«, wiederholte sie gelehrig und sah dabei den Macho in der Spiegelwand an, zu der wir uns alle gedreht hatten, bereit zu tanzen.

»Nein, nein. Du sagst ausfuhren, das ist Bergbauernspanisch. Üüü! Üüü! Kriegst du das Üüü nicht hin?«, insistierte er grob, als wollte er ausspucken.

»Ach, das fällt mir schwer, im Italienischen haben wir das nicht«, Stumpo lächelte immer noch, der breite Mund zog sich in ihre zarten und melancholischen Wangen, und dann wiederholte sie dem Rotzlöffel die Grimasse: »Üüüü!«

Und alle Schülerinnen lächelten flaubertianisch, alle außer mir, denn das gleiche fiepende Geräusch machten dann die Scharniere meiner Schiebetüren, denen es nach einer glücklichen Phase des Nichtgebrauchs an Öl fehlte.

»Das ist es! Genau so! Ausfüüühren!«

Ich war so abgeschottet wie hinter der Frontscheibe eines Einsatzwagens, dennoch war mir völlig klar, dass niemand, der nicht in der Nacht zuvor auch einem Bettler eine Ohrfeige verpasst hätte, nun noch weitertanzen dürfte, auch wenn noch eine halbe Stunde Unterricht blieb und die Weibchen im Spiegelbild den phonetischen Witz mit sechs zuckersüßen, weltläufigen Lächeln begleiteten. Ich zog den Kopf aus dem Tanzzustand, in dem sich der Rest meines Körpers noch befand, um mit Eleonora und nicht mit ihrem Spiegelbild zu reden:

»Man versteht dich perfekt und dein Spanisch ist ausgezeichnet. Ausfuhren klingt außerdem sehr hübsch.«

»Ach, vielen Dank! Ich bin euch immer dankbar, wenn ihr mich korrigiert, dann kann ich mich verbessern. Bene, machen wir weiter?«

»Klar, darum habe ich sie ja auch korrigiert, Nati, denn so lernt man ja Sprachen, nicht wahr?«

»Eleonora, du hast einen hinreißenden Akzent, und nur ein Faschist kann ernsthaft von dir verlangen, ihn abzulegen.«

Das Wort Faschist verwandelte die Knopfaugen der Vogelscheuche in echte Augen, die Lippen aus rotem Steppstich in echten Sabber, und seine Holzhände in die geöffneten Hände eines 15M-Aktivisten:

»Hey hey hey hey! Ich habe hier niemanden beleidigt, okay?«, sagte er zu meinem Spiegelbild, ohne seine Position in der Choreographie zu verlassen.

»Basta, Ragazzi, jetzt ist gut, nichts passiert, hort auf zu streiten«, goss Eleonora die langsam dahinwelkenden Lächeln im Spiegel. Noch immer wahrten wir alle die ätherische Tanzhaltung, den Scheitel erhoben, die Schultern gleitend, die Knie leicht gebeugt, die Füße parallel, das Volumen des Hinterns unterdrückt, und so folgten wir der Diskussion im Spiegel. Ich war die Erste, die die Formation verließ.

»Heißt gut sprechen etwa wie im Fernsehen zu sprechen, hm? Warum korrigierst du nicht mich? Ich sag auführn, weil ich aus einem Dorf ganz im Westen komme. Oder wenn wir schon dabei sind, warum korrigierst du dich nicht einfach selbst, du als Andalusier?«

»Sieh mal, ich spreche nicht perfekt, okay?«, bemühte sich der Macho aus seiner Tanzposition heraus, den Frieden wiederherzustellen; er begriff sie als Stillgestanden und traute sich nicht einmal zu gestikulieren, um bloß nicht die Balance von Hingabe und Aufmerksamkeit aufzugeben, von Spannung und Entspannung, die so schwierig zu erreichen ist und die das tänzerische Stillstehen ausmacht, »aber ausführen spreche ich gut aus, obwohl ich aus Cádiz bin. In vielen anderen Fällen muss man mich sicher korrigieren, aber nicht bei diesem konkreten Wort. Aus-füh-ren, aus-füh-ren, siehst du? Ich sage es richtig.«

Meine Schiebetüren beschlugen vom Lachen, und die anderen Mädchen machten es mir nach, sie hielten mein vergilbtes Lächeln für eine weiße Fahne. In einem nie dagewesenen Anflug von Intelligenz begriff der Macho, dass ich über ihn lachte, und durch den Spalt zwischen meinen Türblättern drang – zischend und gedämpft – der Schuldspruch seiner Idiotie. Er glaubte, das harmlose Gekicher der anderen Frauen wäre ebenfalls spöttisch, und das scheuchte seinen Blick auf, der über den Spiegel flog wie Billardkugeln nach dem Eröffnungsstoß. Er verließ als Zweiter die Formation.

»Aber du! Was willst du eigentlich von mir, blöde Tussi? Was laberst du für einen Müll von wegen Faschist? Keine verfickte Ahnung haben, aber Leute beleidigen – du bist hier doch der Fascho!«

Eleonora Stumpo trat aus der Reihe und nach ihr auch der Rest des Trupps. Sie stammelte »aber bitte, Leute«, oder etwas in der Art, und es bildete sich eine neue Formation: Nun standen die Tänzerinnen mit dem Rücken zum Spiegel und umringten den Macho und mich. Sie wollten die Lage beruhigen, aber die neue Verteilung im Raum reizte mich nur noch mehr. Ich ging einen Schritt auf den Macho zu, die Schiebetüren nach vorne geklappt wie ein Geweih:

»Jetzt hör mir mal gut zu, ich hab wenig Ahnung, keine verfickte Ahnung habe ich, aber Ahnung vom Ficken hab ich genug, also bin ich in deinen Augen sicher eine Nutte, und die Nutte hat genug Ahnung, um sie Deppen wie dir um die Ohren zu hauen, oder findest du außer Spanisch redenden Italienerinnen auch denkende Nutten wahnsinnig komisch, du verschissener Macho?«

Danach passierte das, was in solchen Fällen immer passiert. Der Macho sagt, dass du spinnst und eine schlechte Kinderstube gehabt hast, und die Weiber fassen dir liebevoll an die Schultern und sagen, du sollst nicht so empfindlich sein. Dann schüttelst du sie ab und sagst, dass du weder empfindlich bist noch spinnst und dass es dir nun wirklich nicht an guter Kinderstube gefehlt hat, du allerdings die Nase voll davon hast, dass alle über die Machosprüche des Machos lachen und sich niemand angesprochen fühlt. Im Geheimen machen dir alle Vorwürfe, weil du die Stunde gesprengt hast. Im Geheimen bemitleiden alle den Macho, der unter deinen Ausbrüchen zu leiden hat. Du hoffst, dass dir eines der Weibchen zur Seite steht, siehst aber nur gesenkte Blicke, Eleonora Stumpo eingeschlossen. Wenn dir die Tränen in die Augen schießen, verstehen das alle als Zeichen der Reue oder dafür, dass dir die Nerven wegen weiß Gott was für persönlichen Problemen durchgehen, und sie müssen die Suppe jetzt auslöffeln, ohne sie eingebrockt oder bestellt zu haben. Niemand erkennt darin die Wut oder Frustration oder das Gefühl der unmittelbaren und immanenten Demütigung an diesem Morgen, in diesem Kurs, durch sie selbst. Sie glauben, du brauchst Trost, aber was du tatsächlich brauchst, ist, dass irgendjemand in diesen vier Wänden die Bedeutung des Worts »korrigieren« versteht, der Ausdrücke »sich gut ausdrücken«, »sich schlecht ausdrücken«, »Bergbauernspanisch«, »keine verfickte Ahnung«. Der Erste, der kommt, um dich zu trösten, ist natürlich der einfühlsame Macho. Er bittet dich um Verzeihung für das, was dich möglicherweise verletzt hat, er sagt, dass ihr euch da beide reingesteigert habt, aber schon gut, wir sind auch nur Menschen, nichts passiert. Und du gehst, und anstatt ihm mit den Schiebetüren eine ordentliche Kopfnuss zu verpassen, hältst du den Mund, und die Schiebetüren ziehen sich zurück, als gäbe es keine Freundlichkeit mehr, vor der man sich schützen müsste, und dann hockst du da, in Erwartung der nächsten chauvinistischen Unterwerfung, während du dir die Schuhe zubindest. Zum tausendsten Mal schluckst du den Schrei, der in deiner Kehle steckt, wie einen Fingerling voller Haschisch herunter, zum tausendsten Mal trägst du ihn einen Tag lang im Magen, scheißt ihn am nächsten Tag aus, und wenn du den Joint dann in der Siesta rauchst, gibst du dem Macho Recht, denn letztlich ist es ja wirklich so: schon gut, nichts passiert.

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