Читать книгу Leichte Sprache - Cristina Morales - Страница 9
ОглавлениеMarga liest überhaupt gar nichts, nicht mal Zeitschriften beim Frisör, nicht mal die Zeitschriften beim Frisör, in denen nur Fotos von Frisuren sind, also war es eine überaus selbstlose Geste von ihr, mir ein Fanzine aus dem autonomen Zentrum mitzubringen, wohin sie die vom PAH geschickt hatten. Das Fanzine lässt den glücklichen Augenblick wieder aufleben, in dem die Bolivianerin María Galindo das Konzept des Bastardismus begründete, siehe Seite 106 und 107 ihres Buches Feminismo urgente. ¡A despatriarcar!, erschienen 2013 in Buenos Aires:
Da sich das Verlangen in der Gesellschaft nicht frei verbreitet und dies auch nie tat, da es durch den kolonialen Herrschaftskodex gezügelt wurde, können wir nicht von Mestizaje sprechen.
Wegen jener kolonialen Zähmung des erotisch-sexuellen Verlangens ziehe ich es vor, bei der Mischung von Weißen und Indigenen nicht von Mestizaje zu sprechen, sondern von Bastardisierung. Es gab eine Vermischung, ja, und diese Vermischung war so weitreichend, dass sie die gesamte Gesellschaft umfasst, ja, aber es war keine freiwillige, horizontale Vermischung; es war vielmehr eine erzwungene, unterdrückte, gewalttätige oder verborgene Vermischung, und ihre Rechtmäßigkeit war stets mit Erpressung, Überwachung und Erniedrigung verknüpft. Mestizaje ist die halbe Wahrheit, und wenn man das Deckmäntelchen der Scham und der Heuchelei wegzieht, dann heißt es Bastardisierung. Die halbe Wahrheit, und wenn man ihr die Schminke, die Verstellung und die Masken wegnimmt, heißt es Bastardisierung.
Mestizaje ist nur die halbe Wahrheit über einen gesellschaftlichen Ort brutaler Konflikte, herzzerreißend ungelöst, schmerzhaft unrecht und etliche Male verboten. Dies mit seinem eigenen Namen zu benennen ist ein Akt der Befreiung, ebenso wie die Möglichkeit zu sagen, hier gibt es keine Mestizinnen, sondern nur Bastarde. Der Status als Weiße ist ebenso wie der Status als Indigene eine Art fiktiver Zufluchtsort, um zu verbergen, was am furchterregendsten ist, und das ist die ungelöste Frage nach der Herkunft.
Man könnte sagen, dass der Bastardismus meine Ideologie ist, auch wenn die Begründerin des Konzepts das Konzept der Ideologie verabscheut, denn es enthält zu viel Avantgarde, Akademie und deshalb auch hierarchische und patriarchale Strukturen. Tatsächlich spricht María Galindo nicht von Bastardisten, sondern schlicht und einfach von Bastarden. Das mit dem Bastardismus, mit der Endung -ismus, die die klassische ideologische Verhaftung anzeigt, ist meine Angelegenheit.
Vor ein paar Monaten hörte ich begeistert einen Vortrag, den die Autorin im Museum für Zeitgenössische Kunst Barcelona (MACBA) hielt, vor genau so vielen Monaten, wie es brauchte, um die in Spanien nicht erhältlichen Bücher, die darum von ihr aus Bolivien mitgebracht worden waren, zu Fanzines zu verarbeiten und in anarchistischen Räumen zu verteilen. Ihre Bücher waren zwar sehr billig (10 Euro für über 200 Seiten, mit Farbfotos und sogar einer DVD dabei), aber ich habe weder Geld noch die Absicht, Bücher von einer Lesung mitgehen zu lassen, die mich zum Weinen gebracht hatte. Erst dachte ich, dass ich aus demselben Grund weine, aus dem Kinder bei der Geburt weinen, wegen des Übergangs von einem Leben in ein anderes, wegen des Übergangs von der Dunkelheit ins Licht. Aber dieses Weinen hat etwas Schmerzhaftes, und die Worte Galindos hatten mir nicht wehgetan, sondern mich gestreichelt, sie hatten mich umarmt, sie hatten mich geliebt, wie ein verständnisvoller und erfahrener Liebhaber seine unerfahrene oder gar jungfräuliche Geliebte liebt. In Sachen bastardistischem Bewusstsein war ich eine Jungfrau. Galindo glaubt nicht, dass Schmerz oder Trauma eine Quelle der Befreiung sind. Also weinte ich vor lustvoller Freude. In diesem konkreten Fall vor Freude an der Politisierung, genauer, vor Freude daran, aus dem Sumpf der Unterdrückung aufzutauchen. Freude daran, den Zeigefinger zu entdecken, ihn auszustrecken und auf den Unterdrücker zu richten. Zeigen zu lernen, vom Opfer zum handelnden Subjekt zu werden: diese Freude. Die Politisierung vollzog sich schnell, in den gerade mal fünfzig Minuten, die María Galindo für ihre Rede hatte.
Irgendeine linke Eurozentrikerin wird sagen, dass Galindo von der bolivianischen Gesellschaft spricht und dass dieser Kontext nicht auf meine Situation der Unterdrückung in Barcelona übertragen werden kann. Diesem weißzentristischen Häschen muss man Folgendes antworten: Hast du etwa im Jahr 1848 in England gelebt? Und beziehst du dich nicht jedes Mal, wenn du von Klassen sprichst, auf diesen Lauch-Opa Marx? Hast du denn in den dreißiger Jahren im Gulag gelebt? Nein? Und hindert dich das etwa daran, den autoritären Trotzki zu beschwören? Hast du den bürgerlich-frivolen Tantchen Simone de Beauvoir und Simone Weil etwa keinen säkularen Altar errichtet, obwohl du weder in Paris noch in den Zwischenkriegsjahren in Berlin geboren wurdest? Sieht ganz so aus, als würde die faschistische Linke nur diejenigen Theorien für allgemeingültig halten, die aus dem Westen kommen, da kann die Faschofeministin keine Kontextprobleme erkennen. Man muss diese dumme Sau daran erinnern, dass auch in Außenbezirken des Fortschritts Gedanken artikuliert, aufgeschrieben und angewendet werden, und wer keine westliche Rotzgöre ist, wird die verbindende Kraft erkennen können, die von dem ursprünglichen Vorort bis zu unseren Vororten reicht. Ich spreche nicht von Bastardin, sondern von Bastardistin, und das mache ich, um dem Bastardismus eine theoretische Dimension zu verleihen, die über seinen Kontext hinausgeht und die Galindo selbst nahelegt und die in mir, neuntausend Kilometer von seinem Ursprung entfernt, einen Widerhall gefunden hat.
Vorher hatte ich ganz ohne Eröffnungszeremonie den Club der Bovarys oder Dooferys gegründet, inspiriert vom Bovarysmus oder Dooferysmus, je nach dem Ausmaß an Blödheit, mit der wir uns unseren Liebesangelegenheiten widmeten. Wir waren vier Mitglieder, und von uns vieren hatte nur eine Madame Bovary gelesen, und nur ich hatte die beiden auf dem Roman basierenden Filme gesehen, beim Buch kam ich trotz größter Anstrengungen und meiner Hingabe für die Literaturgeschichte nicht über Seite 14 hinaus. Die Filme sind aber anregend und bereichernd. In einem ist Madame Bovary blond und im anderen brünett. Die zwei weiteren Kameradinnen, die dem Club angehörten, standen jeweils für den höchsten und den geringsten Grad an bovarystischem Leiden und wussten von Madame Bovary nur das, was die einzige Leserin des Buchs und ich ihnen erzählt hatten. Es ist denke ich ziemlich normal und ein Zeichen von Reife, vom Bovarysmus zum Bastardismus zu kommen. Ich glaube, dass es auch ein Zeichen von Reife und ein erster Ausdruck von Bastardismus ist, Madame Bovary nicht zu Ende zu lesen.
Meine bovarystische Phase fällt mit meinen Jahren am Konservatorium zusammen, sie erreichte ihren Höhepunkt, als ich meinen Master machte, und endete, als ich der Forschungsgruppe für meine Promotion beitrat. Wenn ich es rückblickend betrachte, fällt mir auf, dass der Jiminy Grille des bastardistischen Gewissens schon früh begonnen hatte, mir Dinge ins Ohr zu flüstern. Ich kann mich erinnern, wie ich an einem Nachmittag für meine Tanzprüfung im dritten Jahr lernte und zum ersten Mal am eigenen Leib spürte, was Entfremdung ist. Zum zweiten Mal. Das erste Mal war vier Jahre zuvor, mit sechzehn, bei einer Antikriegsdemonstration gegen die zweite Invasion im Irak. Nach fünfzehn Minuten, die ich mit der Masse marschierte, musste ich da raus, genau wie bei der Lektüre von Madame Bovary. Zweifellos eine bastardistische Geste.
Entfremdung kann zwei Dinge bedeuten: die ursprüngliche von Großvater Marx und die an die Unterdrückung des Einzelnen angepasste, die darauf basiert. Opa Karl sagte, dass Entfremdung die Besitzlosigkeit des Arbeiters in Bezug auf das Arbeitsprodukt ist. Ich sage, Entfremdung ist die Identifikation unserer Wünsche und Interessen mit den Wünschen und Interessen der Macht. Der Schlüssel liegt jedoch nicht in jener Identifikation, die in der Demokratie ständig zu beobachten ist: Wir glauben, dass Wahlen zu unserem Vorteil sind, und gehen zur Wahl. Wir glauben, dass Unternehmensgewinne uns zugutekommen, und arbeiten effizient. Wir glauben, dass Recyclen zu unserem Vorteil ist, und haben vier verschiedene Müllsäcke in unseren dreißig Quadratmeter großen Wohnungen. Wir glauben, dass Pazifismus die Antwort auf Gewalt ist, und laufen Kilometer um Kilometer auf Batucada-Märschen mit. Der Schlüssel liegt, davon bin ich überzeugt, nicht im lächerlichen bürgerlichen Leben, sondern darin, dies zu erkennen: zu bemerken, dass man von früh bis spät das tut, was einem gesagt wird, und sogar wenn man ins Bett geht, gehorcht man noch, denn man schläft unter der Woche sieben oder acht Stunden und am Wochenende zehn oder zwölf, und man schläft am Stück, ohne sich Nachtwachen zu erlauben, und man schläft nachts, ohne sich Mittagsschläfchen zu erlauben, und nicht die vorgegebenen Stunden zu schlafen, wird als Störung angesehen, das ist dann Schlaflosigkeit, Narkolepsie, Faulheit, Depression, Stress. Angesichts der allgemeinen bürgerlichen Glückseligkeit können drei Dinge geschehen: Erstens, du bemerkst nicht, wie gehorsam du bist, und fühlst dich daher auch nicht entfremdet. Du bist eine Bürgerin mit Entscheidungsfreiheit bei Wahlen und deiner Sexualität. Anders ausgedrückt: Du setzt dein Tanzstudium im dritten Jahr fort, weil es deine Pflicht ist, und weil sie dir dafür ein Stipendium gegeben haben. Du schreist weiter deinen Protest heraus, Kein Blut für Öl, Gleicher Lohn für gleiche Arbeit, U-, Un-, Unabhängigkeit, denn darum lebst du ja in einer Demokratie und hast das Recht auf freie Meinungsäußerung.
Zweite Möglichkeit: Du bemerkst, wie gehorsam du bist, aber es ist dir egal. Du fühlst dich nicht entfremdet, weil du den geforderten Gehorsam rechtfertigst. Du machst dir den Satz zu eigen, dass wir in dem am wenigsten schlechten aller Systeme leben und dass die politischen Parteien das kleinere Übel sind. Du verteidigst den Sozialstaat. Du studierst weiter Ballett, weil dir keine andere Wahl bleibt, besser das als Kellnern, und außerdem willst du irgendwann mal eine anständige Arbeit haben. Du schreist bei Demos weiter Die am Rand stehen sollen mitgehen, Rettet die Bildung und A-, Anti-, Antikapitalisten, weil du glaubst, man muss auf die Straße gehen, weil du glaubst, du musst dir nehmen, was dir sowieso gehört.
Dritte Möglichkeit: Du merkst, wie gehorsam du bist, und erträgst es nicht. Dann bist du entfremdet. Herzlichen Glückwunsch! Du erträgst es nicht anzustehen, um Rechnungen zu bezahlen. Anzustehen, um Rechnungen zu bezahlen, anstatt dass die anstehen, die bei dir abkassieren wollen, das ist wirklich der Gipfel der Entfremdung! Du erträgst Wahlsonntage nicht. Der Wähler tritt gut angezogen und glatt rasiert vor die Tür, wo er seinen Nachbarn trifft und sich darüber austauscht, wen er wählt und warum, er studiert aufmerksam alle Wahlzettel, er erlaubt sich einen winzigen Rest Zweifel in Bezug auf seine Wahl, aber letztlich setzt sich immer die bereits zu Hause getroffene Entscheidung durch. Sie bringen ihre Kinder mit, die Kinder spielen mit anderen Kindern, sie flitzen umher, ihre Eltern heben sie hoch zur Urne, damit sie den Stimmzettel einwerfen können, wenn sie schon etwas größer sind, werfen sie ihn ohne Hilfe ein. Manche nehmen sogar von jeder Partei die Zettel mit, weil sie die sammeln. Dann gehen sie und genehmigen sich ein Bier, bei gutem Wetter gern auf einer Terrasse. Die Feier der Demokratie! Wer auch gewinnt, die Demokratie gewinnt immer! Bei der letzten Europawahl bin ich in die Schule gegangen, um mich meiner Abneigung zu versichern, und alle starrten mir auf die Titten. Ich trug keinen BH unter dem engen T-Shirt. Den Bürgerinnen und Bürgern, all den frohen Demokratinnen und Demokraten quollen die Würmer aus dem Mund, während sie sich heiter und sonntäglich unterhielten und ihre Aufmerksamkeit von ihren Gesprächspartnern auf meine Nippel lenkten, vom Tisch mit den Wahlzetteln auf meine Nippel, und sie wirkten auf mich wie stille Unterstützerinnen und Unterstützer der Prostitution, selbst wenn sie nie bei einer Hure gewesen waren (allerdings haben sie oft ihre Freundinnen oder Frauen gefickt, wenn die überhaupt keine Lust hatten) und auch nie ausdrücklich fürs Ficken Geld genommen hatten (allerdings haben sie oft lustlos mit ihren Freunden oder Ehemännern gefickt, getrieben vom sexamorösen Vertrag, der sie verbindet). Die einen, Freier. Die anderen, Serviererinnen des Abendessens für den Freier, wenn der nach Hause kommt. Ich war keine Prostituierte, ich verkörperte auch keine, meine ganze Anmache bestand darin, zu existieren. Ich blieb ganz ruhig, rief niemanden zur Ordnung und ging, sobald ich bemerkte, dass die Schiebetüren sich aktivierten. Die Prostituierte, also das Wesen, über das Macht ausgeübt wird, war nicht da. Im Wahllokal in der Schule wurde keine Hure gebraucht, denn die politische Aufgabe des Wählers, ach so mystisch, ach so symbolisch, braucht zum Unterdrücken kein Objekt. Anders als bei der politischen Aufgabe des Tyrannen oder des Vergewaltigers, der auf die Anwesenheit seines Objekts und die unmittelbare Erfahrung der Herrschaft angewiesen ist, genügt dem Wähler die Illusion, sie zu besitzen, die Illusion, mit dem Wahlzettelchen in seinem Umschlag ein klein wenig Schicksal zu spielen. Die Feier der Demokratie ist eine Messe, bei der sich das Bankett auf eine Hostie pro Person beschränkt. Es konnte also gar nicht anders sein, als dass die Wähler noch machthungrig waren, und so verschlangen sie meine harten Nippel mit ihren Blicken. Natürlich nur mit den Blicken, mehr nicht. Ich vögele nicht mit Spaniern und auch sonst mit niemandem, der je bei einer Wahl seine Stimme abgegeben hat, egal ob bei der Kommunalwahl, in den Autonomen Regionen, bei der National- oder Europawahl, bei Gewerkschaftswahlen oder Vorwahlen, um den Vorsitzenden einer Partei zu bestimmen, oder bei einem Referendum für die Unabhängigkeit, für die Unterzeichnung eines Friedensvertrags, für die Ausweitung der präsidialen Befugnisse, für die Verfassungsreform, für die Aufhebung des europäischen Rettungsschirms oder für den Austritt aus der Europäischen Union – allesamt bescheuerte Bürger.