Читать книгу Leichte Sprache - Cristina Morales - Страница 8
ОглавлениеIn einer anderen Tanzstunde in der Tagesförderstätte für Erwachsene La Barceloneta (TAFEBAR) sagte uns die Lehrerin für Zeitgenössischen Tanz, dass wir uns die Socken ausziehen sollen. Wir würden Pirouetten machen und sie wollte sichergehen, dass wir nicht ausrutschten. Also zogen sich alle ihre Socken aus, alle außer mir, denn ich hatte eine gerade verheilende Blase am rechten großen Zeh. Die Lehrerin wiederholte ihren verschleierten Befehl. Er war aus zwei Gründen verschleiert: Erstens, weil sie nicht sagte »Zieht euch die Socken aus«, sondern »Wir ziehen uns die Socken aus«, sie gab also keinen Befehl, sondern benannte das Ergebnis und ersparte sich so die unpopuläre Verwendung des Imperativs. Und zweitens war er verschleiert, weil er sich nicht an die anderen richtete, an jene Alterität, die wir Schülerinnen in jedem Unterricht, sei es nun Tanz oder Verwaltungsrecht, im Gegensatz zur Lehrerin darstellen. Sie sagte »Wir ziehen uns die Socken aus« und nicht »Ihr zieht euch die Socken aus«, bezog sich damit selbst in diese Alterität ein und löste sie dadurch auf, schuf ein trügerisches »Wir«, in dem sich Lehrerin und Schülerinnen vermischen.
Sie wiederholte den verschleierten Befehl mit neuen Verschleierungen: Ich war die einzige Person mit Socken im Saal, und dennoch wiederholte sie statt »Du ziehst dir die Socken aus« im Plural »Wir ziehen uns die Socken aus«. Sie verschleierte also nicht nur den Imperativ und das Ihr, sondern jetzt auch die Tatsache, dass eine einzige Schülerin ihr nicht gehorcht hatte. Wären wir mehrere Personen mit Socken gewesen, hätte die Lehrerin verstanden, dass es irgendeinen Grund gab, der uns, auch wenn wir in der Minderheit waren, dazu brachte, uns anders zu verhalten, und sie hätte diesen Unterschied toleriert. Der Grund einer Minderheit für Ungehorsam kann Anerkennung finden. Der eines Individuums nicht. Alle schauten auf die nackten Füße der anderen. Ich bin kurzsichtig und muss zum Tanzen meine Brille absetzen, darum kann ich nicht mit absoluter Gewissheit sagen, dass sich alle Blicke auf meine bekleideten Füße richteten. Zum Glück sind die Schiebetüren geschliffen, 2,25 Dioptrien im linken Türblatt und 3,10 im rechten, allzeit bereit für die glasklare Beobachtung des Faschismus, gegen den sie mich abschirmen.
Nach den beiden nicht befolgten verschleierten Befehlen kam die schwedische Lehrerin Tina Johanes zu dem Schluss, dass ich nicht nur kurzsichtig, sondern auch taub sein müsse oder der spanischen Sprache nicht mächtig. Von diesem menschlichen Verständnis bewegt, drückte sie auf Play, und während die Schüler die vorgegebene Pirouette übten, kam sie zu mir, unterbrach meine tölpische Drehung und sprach mich, jetzt doch, in der korrekten grammatischen Person an.
»Geht es dir gut?«
»Mir?«
»Verstehst du Spanisch?«
»Ja, ja.«
»Nur weil du dir nicht die Socken ausgezogen hast.«
»Ich habe eine Wunde am Fuß.«
»Ah, okay, okay«, sagte sie, machte einen Schritt zurück und zeigte mir ihre Handflächen als Zeichen der Entschuldigung, der Konfliktvermeidung, des Nichtbesitzes von Waffen unter ihrem dehnbaren Gymnastikanzug.
Und schon Schluss mit lustig und Pirouetten. Und schon pausenloses Konstatieren des Ortes, an dem ich mich befinde, wer die anderen sind, wer Tina Johanes ist und wer ich bin. Zum Teufel mit dem Hirngespinst, dass ich tanzen lerne. Zum Teufel mit den vier Euro pro Stunde, die der Unterricht mit der Ermäßigung für Arbeitslose kostet. Vier Euro, die ich auch für die Hin- und Rückfahrt zum Probensaal der Universidad Autónoma hätte ausgeben können, wo ich allein tanze, nackt, schlecht, Mambo. Vier Euro, die ich auch auf der Terrasse eines Chinarestaurants für vier Bier hätte ausgeben können, vier Euro, die ein Fest beginnen lassen oder mich erschlagen aufs Bett werfen könnten, und kein Platz für Gedanken an den Tod. Ich bin in der Tagesförderstätte für Erwachsene La Barceloneta (TAFEBAR). Die anderen sind Wähler von Podemos oder der CUP. Tina Johanes ist eine Autoritätsperson. Ich bin Bastardistin, aber mit bovarystischer Vergangenheit, und wegen dieses beschissenen Erbes denke ich noch immer an den Tod, und darum bin ich schon im Voraus gestorben.
Kannst du nicht über die Schiebetüren der Bahnstation springen, um zur Autónoma zu fahren? Das ist gefährlich, die Fahrt ist lang, und ganze zwölf Stationen nach dem Kontrolleur Ausschau zu halten, vor dem man dann weglaufen muss, das zerrt an den Nerven, sie knüllen sich mir im Magen zusammen und ich muss kacken, und so bin ich zwölf Stationen lang damit beschäftigt, meine Magenkrämpfe zu veratmen. Ich lasse leise Fürze fahren, presse die Pobacken zusammen, damit sie lautlos sind, balanciere auf meinen Sitzhöckern, schäme mich wegen des Gestanks. Ein paar Mal bin ich schon mit vollgeschissenen Unterhosen an der Autónoma angekommen. Wenn du ein bisschen Kacke rausgelassen hast, hältst du es besser aus, aber dann sind es immer noch sechs Stationen mit Bremsspur am Arsch. Gibt es in der Bahn keine Toiletten? Nein, in den Nahverkehrszügen der Generalitat gibt es keine Toiletten. Man muss leergepinkelt, leergeschissen und durchgevögelt in den Zug steigen. In den Zügen, die von der Renfe und vom Innenministerium bereitgestellt werden, gibt es Toiletten. Zwischen Cádiz und Jerez, was genauso weit auseinanderliegt wie Barcelona und die Universidad Autónoma, kannst du vögeln. Halten wir also fest, dass das Fehlen von Toiletten in den Zügen ein weiteres Repressionsinstrument ist, und was Toiletten und Züge angeht, ist die Generalitat von Katalonien totalitärer als der spanische Staat.
Sprich es aus, Angelita, ich weiß doch, was du denkst, und ich würde es gerne von dir selbst hören: Tina Johanes hat dich nur zu deinem eigenen Besten darum gebeten, dir die Socken auszuziehen. (Angelita sagte nicht Tina Johanes, sie sagte »die Lehrerin«.) Damit du nicht ausrutschst. Damit du nicht hinfällst und dir wehtust. Damit du besser tanzt. So wie der Junge in der Stunde neulich, als du aus der Choreographie ausgestiegen bist (sie sagte nicht Choreographie, sie sagte »Tanz«). Du übertreibst. Dir fehlt jegliche Empathie (sie sagte es nicht so, sie sagte »du kannst dich nicht in andere hineinversetzen und bist eine Egoistin«). Du hast für den Tanzkurs bezahlt, das heißt, du hast dafür bezahlt, Anweisungen zu bekommen (auch das sagte sie nicht so, sie sagte: »Du hast dich für einen Tanzkurs angemeldet, und was nützt es, sich für einen Tanzkurs anzumelden, wenn du die Tanzschritte nicht lernen willst«). Du willst (und das sagte sie genau so) auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen, Nati, und außerdem bist du ganz schön prospanisch. Jetzt haben wir es doch, Angelita, das ist genau der Schuh, den ich mir anziehen wollte, danke, danke, danke! (Darauf antwortet sie beleidigt, weil ich sie bei ihrem eigentlichen spanischen Namen rufe und nicht bei ihrem umgetauften katalanischen – Àngels –, und weil ich überdies das Diminutiv benutze.) Das Reaktionäre kann man dir nachsehen, Nati, weil du ganz gut aussiehst (in Wirklichkeit bedeutete das: »Du verhältst dich wie eine Rotzgöre und niemand sagt dir was, weil du so hübsch bist«). Da liegst du falsch, antwortete ich. Du liegst total falsch. Wer einigermaßen gut aussieht, und ich rede nicht mal von einer wirklichen Schönheit oder einer heißen Braut, hat kein Recht, radikal zu sein. Warum beschwert sie sich, so schön, wie sie ist? Wie kann sie so gut aussehen und trotzdem so unzufrieden mit ihrem Leben sein? Wie kann sie so gut aussehen und dann quellen lauter Kröten und Schlangen aus ihrem Mund, das ist doch so hässlich bei einer Frau, die gar nicht hässlich ist. Wie kann sie es wagen, mein Kompliment oder meine Pfiffe zu missbilligen, ich schmeichle der Nutte damit doch nur? Der andere Zensurmechanismus gegen Radikalität von hübschen Frauen funktioniert ganz ähnlich wie das, was du gerade gesagt hast: Sie üben Kritik, weil sie hübsch sind, sie trauen sich, weil sie hübsch sind, und weil sie hübsch sind und eine adrette Verpackung für ihre Antwort, kommt ihre Kritik an und wird gehört. Aber Vorsicht, du und ich ziehen gerade genau die gleiche Scheiße ab, Angelita! Gerade so wie diese Hippies mit ihren Modelmaßen, sie sind keine fünfundzwanzig, stecken sich Blümchen ins Haar und zeigen ihre Titten im Kongress und im Vatikan, statt Femen sollten sie sich besser Samen nennen, bei all den Ergüssen, die sie bei ihren patriarchalen Zielen auslösen.
Ich schieße mich wahnsinnig gern so auf Angelita ein, denn auch wenn man uns äußerlich kaum etwas anmerkt, sind wir innerlich wie im Rausch, wir sind total eloquent, Ángelas Stottern verstärkt sich und wir reden den Rest der kleinen Versammlung an die Wand, normalerweise sind das die immer gleichen Leute: Ángela selbst, Marga und ich. Und manchmal kommt noch meine Halbschwester Patricia dazu oder irgendeine Freundin von ihr, eins von diesen Samen-Mädels, oder irgendeiner von ihren Freunden, keine Ahnung, ob die Machos sind, das sind nämlich weder Spanier noch habe ich je länger als fünfzehn Minuten mit einem geredet, Bohemiens sind sie nämlich auf jeden Fall, und die sind noch unerträglicher als ihre üblichen Kampfgenossinnen von Samen. Meine Halbschwester hat ihre winzigen Titten aber nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit gezeigt – Nippel wie Eidotter auf einem glatten Brustkorb –, und zwar am Schalter eines Pornoterrorismus-Spektakels, als die Kassiererin ihr sagte, wenn sie ihre Brüste zeigt, kommt sie umsonst rein.