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Schmied des Unglücks 17. Juni, 20 00 Uhr, Faizābād

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»Was wird aus Sindo?«, fragte Nawid.

»Er wird bald gesund sein und nach Hause zurückkehren können.«

Großvater und Enkel saßen wie jeden Abend diese Woche zusammen im Innenhof der großzügigen Villa außerhalb der Hauptstadt der Provinz Badakhshān. Hier erledigte das Stammesoberhaupt der Hamid seine wichtigsten Geschäfte, abseits der unzähligen Augen und Ohren von Faizābād. Hier hielt er mit den anderen Ältesten seines Stammes die Jirga ab.

»Darf er hier bleiben?«

»Wenn er will, kann er auf den Feldern arbeiten.«

Nawids Hand war schneller verheilt, als der Doktor gesagt hatte. Nicht so die Trauer um den getöteten Vater.

»Dein Vater Rashad war mein ältester Sohn, stark und gescheit, auf dem rechten Weg. Nicht viel älter als du, als er in den Reihen der Muğāhidīn seinen Mann stellte. Als die Russen abzogen, ging er mit den Kameraden nach Kabul. Irgendetwas hat ihm dort die Seele verdunkelt – und den Stolz gebrochen – möglich, dass es damals unmenschlich zu- und herging. Obwohl er noch ein Jahr bei uns lebte, hat er den Weg zurück zur Familie nicht mehr gefunden. Während ich seine drei Brüder südlich des Hindukusch gegen die Taliban verlor, kehrte er mit deiner Mutter aus Teheran zurück. Nach Mazār-i Šarīf, nicht zu mir …«

Die Verbitterung des Großvaters verstand Nawid nur halb, die Ablehnung gegenüber seiner Mutter gar nicht. Er vermisste sie sehr.

»Eine ehrbare, aber für Rashad unwürdige Frau. Ich beschuldige sie nicht, deinen Vater verführt zu haben; genauso wenig kann ich ihr zugute halten, ihn auf den rechten Pfad zurückgebracht zu haben.«

Ohne fragen zu müssen, war Nawid klar, dass er nicht zu ihr zurückgehen durfte. Warum kann sie nicht hierherkommen?

Muhammad hörte die unausgesprochene Frage des Enkels zum wiederholten Male, ohne zu antworten. Die Gedanken beider verloren sich in den jeweiligen Vergangenheiten. Dass er in die Fußstapfen des Vaters seines Vaters treten sollte, bedeutete dem Knaben keinen Trost.

Im Haus durfte er ausschließlich mit dem ersten Leibwächter Fadi sprechen. Die anderen wichen ihm aus oder hüllten sich in Schweigen. Sindo bekam er die ganze Woche nie zu Gesicht, obwohl er ebenfalls im Ost-Trakt der Villa einquartiert war.

Er sei noch zu schwach, hatte Fadi am Vortag gemeint. Aber Nawid merkte, dass er ihm auswich oder ausweichen musste. Dabei erinnerte ihn der groß gewachsene und kräftige Leibwächter irgendwie an den Hirten. Da waren die mandelförmigen schwarzen Augen. Sindo war ein Hazāra, das war klar. Aber nicht einer von denen, wie es sie in Mazār so viele auf der Straße gab, Bettler, Taglöhner, Arme, und denen man besser aus dem Weg ging. Fadi aber war bestimmt kein Hazāra. Er hatte die Gesichtszüge eines Tādschīken – die Nomadisierenden unter ihnen waren in der Stadt bessergestellt, weil sie jeweils wieder abzogen. Die sesshaften Tādschīken, obwohl in der Mehrheit, galten den vorherrschenden Paschtunen so wenig wie die Hazāra. Aber Fadis Art war anders. Er machte einen aufrechten und stolzen Eindruck, wie sein Vater. Aber er war eben kein Paschtune. Persischer Stolz – wie Mutter? Nawid versank schon wieder in Trübsal.

»Kennst du eigentlich die Legende der drei Tränen?«, wechselte Großvater das Thema.

»Nein.«

»Woher auch. Es ist die Geschichte von Kāveh, dem großen Karawanenführer, der sein Land von einem bösen Tyrannen befreite und sich und die Seinen damit ins Unglück stürzte.«

»Welches Land?«, biss Nawid ahnungslos an.

»Unser Land.«

»Du meinst Afghanistan …?«

»Nein, ich meine Badakhshān – und Takhār – und Kunduz – und Baghlān und …«

»Unser Land? Davon habe ich in der Schule nichts gehört, und Vater hat nie davon erzählt.«

»Er kannte die Geschichte nicht und jetzt ist es zu spät.« Bevor sich Nawids Miene wieder in die Länge ziehen konnte, fuhr Muhammad fort: »Dein Ur-Urgroßvater Mahmud-Abdul hat mir die Geschichte auf seinem Sterbebett erzählt. Er wiederum hatte sie von seinem Vater gehört, und dieser von seinem Vater, Abbas-Basim, der den Stamm der Hamidzai vor mehr als hundertfünfzig Jahren in das Tal des Kokcha-Flusses führte.«

Nawid staunte. Zwar wusste er, dass sie Söhne des Hamid waren. Er wusste auch, dass die Hamidzai ein Unterstamm der Bārakzai waren, einem Ast der mächtigen Durrānī-Paschtunen im Süden Afghanistans. Sein Vater hatte ihm jedoch nie gesagt, dass es seine Vorfahren waren, die den Stamm über den Hindukusch gebracht hatten.

Muhammad bereitete das Staunen des Jungen mehr Kummer als Vergnügen. Sein Enkel war der letzte lebende Stammhalter der Sippe. Seine Kinder über ihre Herkunft im Ungewissen zu lassen, war eine Sünde, eine unverzeihliche Sünde. Mit einer Handbewegung wischte er den Gedanken fort. Er war jetzt da, das war alles, was zählte.

»Damals war ich so alt wie du. Mein Lehrer hatte sie nicht gekannt und auch auf der Straße wusste niemand davon, genau wie heute. Nicht einmal die Geschichtenerzähler, die im Winter manchmal noch in Faizābād ihr Quartier aufschlagen, wissen davon zu berichten.«

»Dann ist es unsere Stammesgeschichte?«

»Hm, sagen wir, eine Geschichte, die wir nicht vergessen dürfen …«

Nawid begann, unruhig auf der Bank hin und her zu rutschen. Wenn er etwas liebte, dann waren es Geschichten.


Vor langer langer Zeit lebte ein einfacher Mann in Nahrīn. Er war ein Halbnomade, im Winter ein begnadeter Jäger und im Sommer ein gesuchter Karawanenführer. Er hieß Kāveh und hatte drei Söhne, Caspar, Vartan und Omar. Er war ein Atoss’zaid, Sohn des Stammes, der sein Gebiet hier, im heutigen Badakhshān, hatte. Ein wohlhabender und stolzer Stamm. Genauso wie seine Nachbarstämme, die Artystone im Gebiet von Takhār und die Roxane im Gebiet Baghlān. Vor Urzeiten ehrenvoll nach den drei Prinzessinnen des Königs aller Könige, Cyrus dem Großen, benannt.

Die drei Stämme verbanden den Norden mit dem Süden und den Osten mit dem Westen. Indem sie die Menschen und ihre Schätze sicher über den Hindukusch von Baktra nach Indien oder China und zurück geleiteten. Zudem waren ihre Söhne begehrte Krieger für die großen Beherrscher; gewappnet von den rauen Karawanendiensten und gestählt durch die unberechenbaren Naturgewalten der Berge. Damit bürgten die Bergvölker nicht nur für ihre eigene Sicherheit, sondern auch für die Sicherheit der wichtigen Handelsrouten. Ein unverzichtbarer Dienst für die großen Königreiche und Sultanate und ihre florierenden Geschäfte. Und so verband die drei Stämme am nördlichen Hindukusch ein goldenes Band. Zusammen bildeten sie eine Qawm, eine Gemeinschaft, geprägt von Reichtum und, wichtiger noch, von verbriefter Freiheit und Selbstbestimmung.

Die großen Könige und Sultane aber kamen und gingen wie die Winter in den Bergen kommen und gehen. Bei jedem Herrscherwechsel in den weit entfernten Machtzentren trafen sich die Ältesten der Stämme zur Bundes-Shūrā in Nahrīn, dem Hauptort der drei Stämme. Dann wurde dieses Band jeweils von neuem gewoben und sie schworen sich gegenseitig unbedingten Beistand und ewige Treue.

Den Freiheitsbrief, der noch aus der Zeit des ersten Vaters aller unterworfenen Völker Persiens und Zentralasiens stammte, zeichneten sie jedes Mal mit ihren prächtigen Stammes-Siegeln und ließen ihn von den neuen Emiren gegenzeichnen. Die drei Siegelsteine, so sagt man, waren reine Edelsteine, so groß wie eine Faust: der Saphir von Artystone mit der Schlange als Wappentier, der Rubin von Roxane mit dem Leopard und der Smaragd von Atossa mit dem Adler. Jeder Stein war so klar wie die Farben des Regenbogens.

»Wie der grüne Stein, den ich gefunden habe …?«, unterbrach Nawid aufgeregt.

Muhammad lächelte verheißungsvoll. »Wir werden sehen.«

»Hast du ihn deshalb versteckt?«

»Niemand darf etwas davon erfahren – verstehst du?« Damit hatte er seinen Sprössling endgültig neugierig gemacht.

»Erzähl weiter, bitte.«

Muhammad war zufrieden. Nicht, weil Nawid endlich seine Schwermut vergessen konnte, sondern weil sich ihm die Geschichte so unauslöschlich einprägen würde. Das war das Einzige, was zu diesem Zeitpunkt wichtig war. Schließlich war es eine Legende, die nur noch wenige Lebende kannten; eine Legende, die auf keinen Fall verloren gehen durfte …

Jedenfalls machte sich während all dieser Herrscherwechsel kein Atoss’zaid, Artyston’zaid oder Roxan’zaid je Sorgen. Niemand lebte in Angst, niemand musste Hunger leiden. Im Gegenteil, die Menschen begannen zu glauben, ihr Glück und ihre Stärke seien von ewiger Dauer. So kam es, wie es kommen musste, sie wurden übermütig und unvorsichtig.

Der Professor nahm einen Schluck Wasser. »Man muss sich das einmal vorstellen: Die Liste der frühen Beherrscher Zentralasiens zwischen 600 vor Christus und 1150 nach Christus liest sich wie das Who-is-Who der damaligen Weltgeschichte!

Das Achämenidenreich von Cyrus dem Zweiten wurde 328 vor Christus durch Alexander den Großen erobert. Auf diesem Reich wurden um 250 vor Christus zunächst das griechisch-baktrische und dann das indo-griechische Königreich etabliert. Zweihundert Jahre später überrollten die Skythen und daraufhin die Parther das Gebiet. Vom ersten bis dritten Jahrhundert nach Christus herrschten die Kuschan über Zentralasien und am Ende des fünften Jahrhunderts nach Christus die Hunnen. 568 fielen die persischen Sassaniden ein und um 650 brachten die Araber den Islam in die Region. Die Araber vermochten keine nachhaltige politische oder wirtschaftliche Macht zu etablieren und so blieben die Sassaniden aus Persien an der Macht, bis sie um die erste Jahrtausendwende von den türkischstämmigen Ghaznawiden abgelöst wurden.«

Der Professor nahm einen Schluck Wasser.

»Das Interessante ist, dass die ansässigen Stämme am nördlichen Fuß des Hindukusch diesen Herrscherreigen mehr als tausend Jahre lang unbeschadet überstanden. ›Man kann das Land am Hindukusch zwar durchziehen, aber erobern lässt es sich nicht‹, sagte schon Alexander der Große. Die Organisationsstruktur erlaubte es ihnen, sich als Karawanenführer für die Seidenstraße-Pässe Khawak und Kushan unverzichtbar zu machen. Zeitgleich bauten sie eine regelrechte Söldner-Wirtschaft auf. Damit vermochten sie nicht nur sich selber zu schützen, sondern vor allem einen befriedeten Übergang über die strategisch wichtigen Pässe sicherzustellen. Eine starke Verhandlungsposition.

Dazu gesellte sich die bis heute andauernde Skepsis gegenüber Fremden, vor allem gegenüber den üblichen Stellvertreter-Regierungen. Diese sind immer nur geduldet, eine heute eher skurril anmutende Haltung. Die Zentren der Macht lagen weit entfernt, und kein Herrscher konnte es sich leisten, an allen Fronten seines Reiches Armeen zu stellen. Am wenigsten im Herzen von Zentralasien, und schon gar nicht an der wirtschaftlichen Pulsader der mittleren Seidenroute. Sie waren auf zuverlässige lokale Potentaten angewiesen und entsprechend bestrebt, mit ihnen Friedens- und Freiheitsbündnisse auszuhandeln. Auch die Ghuriden, welche um 1150 die Ghaznawiden verdrängten und die erste afghanische Dynastie begründeten, schlossen ein solches Bündnis mit den Stämmen am Hindukusch.«

Muʿizz ad-Dīn Muḥammad ibn Sam, der mächtigste Sultan der Ghuriden, aber war ein misstrauischer Mann. Er vermutete, dass er von den drei Stämmen um den größeren Teil des Wegzolls der Karawanen geprellt würde,

›Wie sonst können sie dermaßen reich sein?‹

Also forderte er von ihnen immer mehr Tribut und Zoll und immer mehr kräftige Söldner für seine Kriegszüge in Indien. Um seinen Anspruch durchzusetzen, schickte er den grausamsten seiner Vasallen, Ghiyath ad-Dīn, über den Khawak-Pass nach Nahrīn, wo des Sultans Trutzburg stand. Er sollte dafür sorgen, dass die verwöhnten Bergstämme ein für alle Mal geknechtet und sich die Schatullen in seinem Palast in Ghaznī äufnen würden.

Als erstes ließ der Vasall auf dem Hauptplatz eine Stange errichten und daran seinen Turban mit der prächtigen Reichsfeder befestigen. Fortan sollte sich ein jeder, ob Bauer oder Nomade, Säumer oder Reisender, vor der Stange verbeugen und seine Kopfbedeckung ziehen. Eine Beleidigung für alle frommen Muslime.

›Damit erweist ihr Sultan Muʿizz ad-Dīn Muḥammad ibn Sam die Ehre, die ihm gebührt, als stünde er selber vor euch‹, rief der Herold vor versammelter Menge aus.

Aus Angst vor den grausamen Wächtern aus dem Süden gehorchten die Einheimischen der Erniedrigung schweren Herzens. Tief im Inneren glaubten sie jedoch, auf der Welt unverzichtbar zu sein, und diese Unbill würde so schnell vorüberziehen, wie ein Gewitter in einer Sommernacht.

Da begab es sich, dass der prächtige Kāveh von einer Karawanenreise aus China nach Nahrīn heimkehrte. Er passierte die Stange mehrmals, ohne zu grüßen. Die Wächter geboten ihm zu tun, wie vom Vasallen geheißen. Sie wagten aber nicht, Hand an den stämmigen Mann zu legen.

Kāveh erwiderte keck: ›Ich kenne den Vasallen nicht und auch nicht seine Befehle.‹

Der Zufall wollte es, dass in diesem Augenblick der Vasall von Kunduz herkommend persönlich auf dem Hauptplatz eintraf. Sein Gefolge bugsierte den unbeugsamen Mann mit ihren langen Lanzen vor den Vasallen und befahl ihm, niederzuknien.

Kāveh verweigerte auch dies. ›Ich beuge mich vor niemandem als Allah und meinem Sultan, Muʿizz ad-Dīn Muḥammad ibn Sam‹, antwortete er stattdessen starrköpfig.

Der Stellvertreter des Sultans, den Umgang mit Ungehorsamen gewohnt, beorderte flugs die drei Söhne Kāvehs auf den Platz. Er ließ Caspar an Vartan an Omar, Rücken an Rücken an Rücken stehend zusammenbinden. Zwischen die drei entblößten Nacken legte er einen großen Kürbis. ›Man sagt, du seist der beste Schütze weit und breit und könnest mit deinem Bogen den Leoparden hinter einem Felsen treffen?‹, grinste er diabolisch, ›zeig es mir – und schieße auf den Kürbis!‹

Von keiner Seite hätte man die Frucht durchbohren können, ohne nicht mindestens einen der Knaben tödlich im Nacken oder am Kopf zu treffen.

Kāveh flehte den Fürsten um Gnade an: ›Kein Vater verlangt Derartiges von einem Vater … lieber sterbe ich auf der Stelle, als auf meine eigenen Kinder zu zielen.‹

Der Vasall aber bestand darauf. ›Du scheinst ja auch sonst nicht verlegen zu sein, also tue, wie dir geheißen. Triffst du den Kürbis, so sollst du mit den Deinen als freier Mann deines Weges ziehen.‹

Also nahm Kāveh zwei Pfeile aus dem Köcher, steckte den einen in den Gürtel des Gewands und legte den anderen auf den Bogen. Mit zitternder Hand spannte er die Sehne und flehte leise zu Allah um Vergebung für seinen Ungehorsam.

Nawid stockte der Atem!

Zum Erstaunen aller zielte Kāveh indes nicht auf den Kürbis, sondern hob die Waffe an und schoss den Pfeil gerade in den Himmel hinauf. Als wolle er ihn ohne Umweg ins Paradies schicken. Nachdem der Pfeil beinahe das Reich der Adler erreicht hatte, verlor er an Schwung und sehnte sich zur Erde zurück.

Durch sein eigenes Gewicht beschleunigt, schoss der Pfeil von oben mitten durch den Kürbis in den Boden herab – ohne einen der Knaben auch nur am Haar zu streifen.

Die Erleichterung des Jungen am Brunnen im Innenhof der Villa bei Faizābād war unüberhörbar.

Die Menschenmenge lobte Allah und zollte Kāveh Beifall.

Der Vasall aber fühlte sich hintergangen: ›Wofür hast du den zweiten Pfeil eingesteckt?‹

Der Karawanenführer wand sich, und erst nachdem ihm der Vasall seines Lebens versicherte, antwortete er: ›Hätte ich einen meiner Söhne getroffen, so hätte ich dich damit durchbohrt.‹

Der Stellvertreter des Sultans schäumte vor Wut: ›Ich habe dir dein Leben zugesichert, so sei es denn. Aber du sollst im Kerker von Kabul den Himmel Zeit deines Lebens nicht mehr erblicken.‹ Noch war er nicht vom Platz geführt, als der Vasall aus Jähzorn die drei Knaben auf der Stelle niedermetzeln ließ.

Der im Herzen gebrochene Kāveh wurde am gleichen Tag mit einer gigantischen Eskorte auf den Weg über den Khawak-Pass in Richtung Kabul geschickt.

Vor der Passhöhe aber brach aus dem Nichts ein für die Sommerszeit ungewöhnlich heftiger Schneesturm los. Innert kürzester Zeit wussten die ghuridschen Krieger nicht mehr, wo sie waren und wohin sich wenden. Von Todesängsten befallen, bestürmten sie Kāveh, ihnen den Weg zu weisen.

Dieser tat wie geheißen und führte sie an einen bodenlosen Schlund, in den ein Soldat nach dem anderen in die Tiefe stürzte und nicht wiederkam. Dermaßen befreit, eilte Kāveh nach Nahrīn zurück, um Ghiyath ad-Dīn vor den Toren seiner Burg aufzulauern.

Als dieser sich schließlich hoch zu Ross zeigte, durchbohrte er des Vasallen Herz mit dem zweiten Pfeil. Damit löste Kāveh den Schwur ein, den er heimlich mit dem ersten Pfeil zu Allah gesandt hatte.

»Über den Mord am Vasallen Ghiyath ad-Dīn und seine Umstände gibt es keine authentischen Quellen«, unterbrach der Professor die Erzählung. »Zum ersten Mal schriftlich festgehalten ist er in der Kabul-Chronik von 1513. Die Chronik ist ein Auftragswerk von Ẓahīr ad-Dīn Muḥammad Bābur, Bābur Chan, dem Begründer des indischen Mogulreiches. Die Geschichte von tragischen Freiheitskämpfer Kāveh, benannt nach dem aufständischen Schmied aus der iranischen Mythologie, dem glorreichen Kürbisschuss und dem gerechten Mord am Vasallen ist darin als Gründermythos ausgelegt.«

Muʿizz ad-Dīn Muḥammad ibn Sam wäre aber nicht der große Sultan der Ghuriden gewesen, hätte er diese Schmach auf sich sitzenlassen. So erhob er sich und sandte seine mächtigen Armeen von Süden und von Norden, von Osten und von Westen in das Gebiet der drei Stämme Atossa, Artystone und Roxane. Auf dass diese für immer vernichtet würden.

Die Bergler freilich, durch das Wunder des Kürbisschusses und ob der gerechten Strafe am grausamen Vasallen geblendet, glaubten Allah auf ihrer Seite und hielten sich für unbesiegbar. Und als sie der wirklichen Gefahr gewahr wurden, war es zu spät.

Ihre Gebiete wurden Stadt für Stadt, Dorf für Dorf, Weiler für Weiler und Haus für Haus niedergemacht. Der Fürst der Ghuriden ließ keine Gnade walten, weder an Alten und Kranken noch an Weibern und Kindern. Damit die Sache endgültig erledigt wäre.

»Im Gegensatz zum Vasallen-Mord ist der große Aufmarsch von ibn Sams Armeen im Norden des Khawak- und Kushan-Passes in zeitgenössischen usbekischen und chinesischen Quellen dokumentiert. Will man nicht der zum Mythos hochstilisierten Geschichte in der Kabul-Chronik folgen, bleiben die Beweggründe allerdings unklar. Am wahrscheinlichsten war es eine wirtschaftlich motivierte Aktion.

Sicher ist, dass das ganze Gebiet von Baghlān, Takhār und Badakhshān dem Erdboden gleich gemacht wurde; heute würde man von einer ethnischen Säuberung oder gar einem Genozid sprechen. Die betroffenen Ethnien oder Stämme lassen sich außerhalb des Abrisses der Chronik nicht eindeutig benennen. Ob es sich wirklich um die sagenhaften Stämme Atossa, Artystone und Roxane handelte, ist und bleibt ungewiss.«

Erneut griff der Professor zum Wasserglas.

Bevor Nahrīn, der letzte freie Ort der drei Stämme, fiel, beschlossen die Ältesten, die Jahrhunderte alte Bundes-Shūrā, diese Qawm, aufzulösen und den ihnen verbliebenen Reichtum vor dem grimmigen Sultan zu verstecken.

Sie gaben Kāveh den Auftrag, den Schatz im unwegsamen Gebirge zu verbergen. Die drei prächtigen Siegelsteine von Atossa, Artystone und Roxane aber, die zu gleichen Teilen Glück und Unglück über sie gebracht hatten, sollten je in dem Stammesgebiet versteckt werden, zu dem sie gehörten.

Die Augen Nawids weiteten sich.

Kurz danach fiel auch der Bundes-Hauptort Nahrīn der Ghuriden-Armee in die Hände. Die drei Führer der Loya Jirga wurden öffentlich hingerichtet und ihre Leichname blieben ein Jahr lang an der Stange auf dem Hauptplatz aufgeknüpft. Als Zeichen dafür, was mit allen Aufständischen gegenüber dem Herrscher über Indien und Zentralasien geschehen würde.

Damit hörten die drei Stämme Atossa, Artystone und Roxane auf zu existieren. Vom heldenhaften Kāveh, dem Schatz und den Steinen fehlt seither jede Spur.

»Die Ghuriden herrschten noch ein gutes halbes Jahrhundert weiter über den Hindukusch, bis Zentralasien ab 1221 von den Mongolen unter Dschingis Khan überrollt wurde. Den Mongolen folgte 1383 der türk-mongolische Timur der Lahme, diesem 1504 der bereits erwähnte Bābur Chan. Zusammenfallend mit der Dynastie der indischen Moguln herrschten im westlichen Teil Zentralasiens die schiitischen Safawiden aus Persien.

Anfangs des 18. Jahrhunderts gründete einer dieser Stammesführer, Mir Wais Khan Hotak, die erste paschtunische Dynastie. Nach einer kurzen Trennung von Isfahan und der darauf folgenden Wiederherstellung der persischen Autorität durch den Herrscher von Persien, Nādir Šāh Afschār, gründete General Ahmad Šāh Abdālī 1747 die erste Dynastie der Durrānī. Er ließ sich als erster König Afghanistans, des Landes der Paschtunen, ausrufen und gilt als Begründer des heutigen Staatsgebildes. Dost Mohammed, Begründer der paschtunischen Bārakzai-Dynastie, stürzte um 1826 die Durrānī – und dann, ja, dann begann mit dem Einmarsch der Briten 1839 das große Spiel, das, wenn auch mit wechselnden Mannschaften und Siegestrophäen, noch heute am Hindukusch gespielt wird …«

Édouard Berniér, Professor für Archäographie, stellte das leere Glas auf den Katheder vor ihm, während er im abgedunkelten Hörsaal simultan ein Schriftfragment aus der Kabul-Chronik an die Wand projizierte.

Die verlorene Legende Afghanistans

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