Читать книгу Die verlorene Legende Afghanistans - Cyrill Delvin - Страница 11

Der Archäographe 17. Juni, 21 00 Uhr, Bern, Schweiz

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»Das einzig erhaltene Schriftfragment der Kabul-Chronik liegt im British Museum in London, und – «, Berniér senkte seine Stimme, »beinhaltet einen Teil der Legende um Kāveh! Der Rest der Chronik ging in den auf den Tod Bābur Chans um 1530 folgenden Palastwirren verloren. Oder wurde sie absichtlich vernichtet? Interessanterweise spielte die Legende in seiner Autobiographie keine Rolle mehr, sie wird mit keinem Wort erwähnt! Und das, obwohl Bābur Chan mit der Legende eine gemeinschaftliche Sicht der Geschichte zu etablieren versuchte. Denn eine gemeinsam akzeptierte Vergangenheit, der gemeinsam geglaubte Ursprung, bedeutet nicht nur Macht und Kontrolle, sondern ist auch ein wirkmächtiger Schlüssel für eine gemeinsame Zukunft. Ein Beispiel gefällig?«

Der gut aussehende Mittfünfziger machte eine theatralische Pause.

»Nicht umsonst deuteten die frühen Nationalsozialisten Deutschlands die Nibelungensage zum eigenen Gründermythos um, der ihren politischen Absichten entsprach. Damit wurde er zu dem verbindenden Topos, von der Propaganda bis hin zur Legitimation für die ethnischen Programme. Umgekehrt rang Italien zu dieser Zeit vergeblich um eine solche verbindende Geschichte. Die alten Römer eigneten sich nicht dafür, zu gut dokumentiert war deren Geschichte und zu sehr von verschiedenen Kulturen vereinnahmt. Die italienische Regierung blieb in der Folge unfähig, das Volk wirklich zu führen, oder besser gesagt, zu verführen. Aber es gibt auch positive Beispiele …«

Erwartungsvoll blickte der Professor in die Runde. »Niemand?«

Eine hübsche Studentin meldete sich zu Wort: »Die Tell-Saga?«

»Die Geschichte von Wilhelm Tell, sehr gut. Sie wurde in der Schweiz im fünfzehnten Jahrhundert im ›Weißen Buch von Sarnen‹ vom Chronisten Hans Schriber als Mythos der Gründung der Eidgenossenschaft verfasst. Angesiedelt wurde die Geschichte rund zweihundert Jahre früher, zur Zeit des Rütlischwures im August 1291.

Dieser Mythos ist jedoch keine Schweizer Erfindung. Ich bezweifle sogar, ob er dänischen Ursprungs ist, wie gemeinhin angenommen. Meiner Meinung nach ist die Legende von Kāveh die bis jetzt älteste bekannte Quelle des Topos’ eines ›Frucht-Schusses‹. Das aber nur eine spekulative Klammerbemerkung! Dieser Schweizer Tell-Mythos entfaltete sich seither immer wieder. Vor allem in Zeiten der Not half die Rückbesinnung auf eine gemeinsam geglaubte Vergangenheit in der Hoffnung auf eine gute Zukunft, um die schwierige Gegenwart zu meistern. Zuletzt tat das die Schweiz im Dienste der geistigen Landesverteidigung während des Zweiten Weltkriegs. Sie sehen, ein gemeinschaftliches Verständnis der eigenen Geschichte kann politische Wirkung zeitigen. Völlig unabhängig davon, wie nahe oder ferne der historischen Realität diese Geschichte angesiedelt sein mag!« Er hob das Wasserglas, im Laufe der Vorlesung hatte er vergessen, dass es bereits leergetrunken war.

»Professor Berniér, erzählen Sie uns die Legende bitte noch zu Ende?«, nutzte die Studentin den Unterbruch.

Berniér musste lächeln. Die Fragende war nicht umsonst die Beste der Klasse. »Wie kommen Sie darauf, dass die Legende noch weitergeht?«

»Nun, die Legende ist im späten zwölften Jahrhundert angesiedelt und wurde gemäß ihren Ausführungen von Bābur Chan politisch zurechtgeschmiedet. Vom Schatz fehlt seither jede Spur mag für diese Zwecke ausreichen, damit die Geschichte aber weiterlebt, braucht es schon etwas mehr Fleisch am Knochen. Etwas, das die Sehnsucht der Menschen weckt und die Wiederkehr der goldenen Zeiten in Griffweite bringt …?«

»Genau, danke! Zuerst möchte ich Ihnen jedoch die Wirkungsgeschichte der Legende zu Ende erzählen. Der Sohn Bābur Chans, Naṣīru ad-Dīn Muḥammad Humāyūn, verstand offensichtlich nicht viel von Geschichtsschreibung als Mittel zum Zweck. Ob das junge Mogulreich während seiner Amtszeit deswegen beinahe zusammenbrach, wird für immer ein Rätsel bleiben. Auch ohne schriftliche Grundlage wurde die Legende weiterhin mündlich tradiert. Obwohl spätere Machthaber verschiedentlich darauf zurückgriffen, etablierte sich am Hindukusch nie ein stabiler Gründermythos. Auch nicht beim letzten dokumentieren Versuch Ende des 18. Jahrhunderts, als der erste König von Afghanistan, Ahmad Šāh, die Geschichte um Kāveh zum nationalen Gründermythos des Paschtunen-Reiches hochstilisierte. Durchaus in Anbetracht des sich bereits abzeichnenden Aufmarsches der neuen Mächte aus dem Westen.«

Berniér deutet wieder auf das eingeblendete Schriftfragment: »Leider sehen wir hier nicht den letzten, wie Sie sagten, verheißungsvollen Teil der Legende, sondern die Passage des Kürbisschusses. Dieses Fragment der Chronik entging nicht nur 1530, sondern auch im Januar 1842 in Kabul nur per Zufall der Vernichtung und gelangte auf Umwegen nach Europa.«

Der Professor blickte auf seine Armbanduhr.

»In all den Wirren, die Afghanistan die letzten hundertsiebzig Jahre erfassten, verschwand die Legende schließlich aus dem aktiven Fundus der lokalen Erzähltradition. Vergeblich fragen Sie heute Geschichtenerzähler aus Usbekistan, Tadschikistan oder Afghanistan danach. Nur vereinzelte Alte, hauptsächlich Stammesälteste, kennen die Geschichte noch, meistens vage. Die letzte mündliche Erfassung, die ich Ihnen erzählt habe, ist eine Aufzeichnung aus Faizābād von 1979, kurz vor dem Einmarsch der Sowjets.«

Er blendete sein letztes Bild ein, ein in der Mittagssonne wunderbar grün leuchtender Gletschersee. Eine Landschaftsaufnahme, die er vor Jahren im Dienst als Offizier einer Einheit von Gebirgs-Grenadieren selber geschossen hatte. Natürlich nicht am Hindukusch, sondern in den Schweizer Alpen, was bis jetzt jedoch noch kein Student mokiert hatte. »Sind noch Fragen?«

»Herr Professor, das Ende, bitte?«

»Ach ja.« Er lächelte verschmitzt. »Es tut mir leid, die Zeit ist abgelaufen. Ihre Aufgabe ist es, während den Semesterferien den letzten Teil zu recherchieren. Nutzen Sie alle Methoden, die wir besprochen haben, zapfen Sie jede Quelle an, außer mich, natürlich. Schreiben Sie Geschichte in archäographischer Komparatistik …«

Der Kirchturm neben dem Institutsgelände in Bern schlug Punkt neun Uhr. Berniér machte das Saallicht an und die Studenten drängten zum Ausgang. »Wir werden uns nach den Semesterferien mit allen vergleichenden Facetten dieser Legende auseinandersetzen …«

Eine Gruppe junger Frauen kicherte den Professor an und bugsierte einen der Studenten vor das Lesepult. »Wurde der Schatz je gefunden?«, fragte dieser, nervös, auf seine Kolleginnen blickend.

»Nein, Sie müssen sich noch etwas gedulden«, ging Berniér auf den Schelm ein. »Sobald wir den Schatz von ʻAlāʼ ad-Dīn und den vierzig Räubern ausgehoben haben, machen wir uns auf die Suche nach dem verlorenen Schatz am Hindukusch …«

Der Student schaute unsicher zu den Frauen, welche deuteten, weiter zu machen: »Cool, kann ich – «

»Anmeldungen zum Indiana-Jones-Seminar bitte um die Ecke!« Der Professor hob seine kräftige Stimme nochmals an, wohlwissend, dass er jetzt gegen den Wind redete: »Lesen Sie die im Skript angegebene Literatur. Ich bin gespannt auf Ihre Vorschläge.«

Und schon stand er alleine im Vorlesungssaal. Die Einführungskurse in archäographischer Komparatistik mochte er am liebsten. Die Studenten standen noch am Anfang des Archäologiestudiums und waren entsprechend zu begeistern und so leicht zum Staunen zu bringen. Er packte Laptop und Unterlagen in die alte Ledertasche, fuhr die Verdunkelungs-Storen hoch und löschte das Saallicht. Das Dämmerlicht des bedeckten Juniabends tauchte den Raum in gespenstische Grautöne. Bei der Türe angelangt, löste sich hinter seinem Rücken ein fahler Schatten von der rückwärtigen Holztribüne.

»Professor Berniér …«, sprach ihn eine unbekannte Stimme auf Französisch an, mit einem typisch persischen Einschlag.

Erschrocken drehte er sich um.

»… und wenn ich Ihnen sage, dass ich einen der Siegelsteine der drei alten Stämme besitze?«, näherte sich ihm fragend ein großgewachsener Mann.

»Wer zum Teufel sind Sie?«

»Sagen wir, ein ergebener Diener seines Herrn.«

»Wenn Sie sich schon in meine Vorlesung einschleichen, dann hören Sie bitte auch zu«, erwiderte Berniér, nachdem er sich gefasst hatte. Er machte das Licht an und musterte den Fremden. Kein Mongole, trotz der angedeuteten Mongolenfalten. Tadschikistan oder Usbekistan? Er trug einen makellosen dunkelgrauen Anzug und wirkte nicht unsympathisch.

»Das habe ich. Und ich kenne auch das Ende der Legende. Aber ich suche keinen Schatz. Ich bin hier, um Ihnen etwas zu zeigen. Etwas, von dem wir glauben, dass es der grüne Smaragd von Atossa sein könnte, mit dem Adler als Emblem und weiteren Zeichnungen darauf, welche in keinem Siegelabdruck zu erkennen sind.« Der Mann zog ein kleines Paket aus seiner Jackentasche.

»Mmmh«, Berniérs Neugier war geweckt, »Sie können es mir in meinem Büro zeigen.«

Vor der Türe stand ein weiterer Mann, der offenkundig auf dem Flur Wache schob. Mit seinen jugendlichen Gesichtszügen machte er aber nicht den Eindruck, als wäre er ein Agent. Nachdem er Blickkontakt mit dem Besucher im Hörsaal aufgenommen hatte, nickte er dem Professor zu und trat zur Seite.

»Ihr Leibwächter?«, wollte Berniér wissen.

»Mustafa, mein Chauffeur.«

»Ah, bitte folgen Sie mir.«

Schweigend durchquerten sie den Flur und stiegen die Treppe in den ersten Stock hoch. Berniér hielt die Holztür mit den abgewetzten goldenen Lettern auf. ›Institutsleiter‹, stand darauf geschrieben. Dahinter lag ein kleiner Raum, vollgestopft mit Büchern und Papieren. Da und dort standen Artefakte herum, vornehmlich Keramik und Papyrus-Rollen. Mustafa postierte sich wiederum vor der Tür.

»Das Original stand im Irakischen Nationalmuseum in Baġdād, verblüffend …«, bewunderte der Besucher eine schmale Porzellan-Vase.

Der Professor fühlte sich geschmeichelt: »Wir sind hier führend im Herstellen von Keramik-Replikaten – aber das ist nur ein Steckenpferd von mir. Sie sind Archäologe?«

»Entschuldigen Sie, dass ich mich noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Roshan Al-Khalīlī, aus Kabul. Ich stehe im Dienst eines wohlhabenden Afghanen, der für den Moment noch anonym bleiben möchte.«

»Ein Kunsthändler?«, fragte Berniér, nachdem sie Platz genommen hatten.

»Sagen wir ein Liebhaber.«

»Aha.«

»Seien Sie unbesorgt.«

»Entschuldigen Sie, aber wir haben hier selten unangemeldet Besuch, schon gar nicht aus dem Mittleren Osten.«

»Umso erfreulicher, dass Sie schon so oft in Afghanistan tätig waren und wichtige Arbeiten über die frühen und mittleren Völkerwanderungen Zentralasiens veröffentlicht haben.« Wie selbstverständlich flocht er einige der entsprechenden Titel ein. Der Mann schien nicht nur gut informiert, sondern ebenso belesen zu sein. Schließlich nahm er das Paket aus der Innentasche seines Jackett und legte es vor dem Professor auf den Tisch. »Wir bitten Sie um nichts weiter als um eine Expertise.«

Berniér öffnete die Schachtel, zum Vorschein kam ein verschnürtes Paket aus Leder. »Nun, ich bin kein Spezialist für antike Edelsteine, ich bin Archäographe und nicht Archäologe, das wissen Sie.«

»Auch uns geht es darum, die Geschichte zu entschlüsseln, die der Stein erzählt.«

Sorgfältig wickelte der Professor das Lederbündel auf. »Trotzdem. Ich bin mir nicht sicher, was Sie sich von mir erhoffen. Meine Interpretation der Legende besteht unabhängig von Siegelsteinen und Schätzen. Die Verheißung sehe ich als bloßes Mittel, die Geschichte am Leben zu erhalten – mehr nicht …« Während er am inneren Lederbeutel herumzupfte, wurde er zusehends leiser. »… in meiner Interpretation stehen politische und wirtschaftliche Umwälzungen im Zentrum, die mehr mit den Lebensumständen der Ansässigen und dem Verlust von Freiheit zu tun haben als mit verloren gegangenem Reichtum. Umwälzungen notabene, die im Spannungsfeld von Migration und Sesshaftigkeit angesiedelt sind, aufgrund wirtschaftlicher Veränderungen, zu einer Zeit …« Er hörte auf zu sprechen, als er behutsam das samtene Tuch aufschlug.

»Das, was verloren ging, ist mehr als der Schatz, der beschrieben wird!«, warf Roshan ein.

»Es ist nur«, der Professor pfiff durch die Zähne, als ein massiver grüner Stein zum Vorschein kam, »… eine Idee.«

»Würde die Existenz des Schatzes nicht auch die Idee beflügeln?«

Berniér sah ihn verdutzt an. Der Afghane war definitiv keiner der Wichtigtuer, die ihn regelmäßig mit immer neuen Hypothesen und Theorien über verloren gegangene Kostbarkeiten heimsuchten. Wenn das ein echter Smaragd ist, der ist ja riesig – unglaublich. Er zündete die Arbeitslampe an, strich sich weiße Handschuhe über und betrachtete den Stein unter einer Lupe.

Roshan beobachtete jeden Handgriff des Professors, der nur noch Augen für das Objekt hatte.

»Außergewöhnlich rein, unorthodoxer Schliff auf der Oberseite, äußerst fein ziseliertes Wappentier, feine Linienmuster, Fassungskerbe.« Er wog den Stein in seiner Hand. »Mehr als ein halbes Kilo, das kann unmöglich ein Smaragd sein …?!«

»Wir wissen es nicht.«

»Die Machart ist diffus. Er kann zweitausend Jahre alt sein oder zwanzig. Alles ist so ungewöhnlich. Edelsteine als Siegel waren in Asien nicht unbekannt, aber an Fingerringen … meist unreine Steine, auf einer Seite gefasst. Dieser hier wurde offen verwendet und ist unglaublich rein – und … Der Adler ist eindeutig in der Art geprägt, wie er zur Zeit der alten Perser stilisiert wurde. Der Oberschliff mit den unregelmäßigen Mustern irritiert. Kein Juwelier hätte einen solchen Stein derart ›verunstaltet‹, auch früher nicht. Das heißt, der Schliff muss eine besondere Bedeutung haben.«

Der Professor kam sichtlich in Fahrt. Er kippte die Lampe hoch, hob den Stein und schaute durch ihn hindurch in das Licht. »Ein Kaleidoskop.« Über sein Gesicht huschten sattgrüne Schatten, während er das Artefakt sorgsam im Uhrzeigersinn drehte. Das Licht wirkte betörend. Berniér spürte, wie der Boden unter ihm nachgab und er tiefer und tiefer in einen grünen See versank. Langsam zeichneten sich die Umrisse eines aufstiebenden Vogels ab. Hörte er tatsächlich den Schrei eines Adlers … da, ein Gesicht, ein Junge?

Nur mit Mühe vermochte er sich vom Bann zu lösen, den das zauberhafte Leuchten auf ihn ausübte. Umso abrupter legte er den Stein schließlich auf den schwarzen Samt zurück. »Was war das?« Seine Stimme klang irritiert.

»Was meinen Sie?« Der Afghane blickte sich verunsichert um.

Es dauerte einen Moment, bis der Professor sich wieder gefasst hatte. »Monsieur Al-Khalīlī, ich fühle mich geschmeichelt, dass Sie mit diesem Artefakt zu mir gekommen sind. Aber ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann. Um die beiden anderen Steine zu finden, brauchen Sie einen Schatzjäger, Professor Penrose wäre da wohl die bessere Adresse?« Er biss sich auf die Lippen. Wieso sagte er das? Noch hallte die Halluzination von vorhin in seinem Kopf nach. Wer war dieser Junge, dessen Angesicht er so deutlich vor sich gesehen hatte?

»Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Wollten wir bloß einem Schatz nachjagen, hätte mich mein Herr wohl zu Professor Penrose geschickt, wir kennen ihn gut in Afghanistan«, die Abschätzigkeit war unüberhörbar. »Wir hoffen, nein, wir glauben an das, was Sie den Studenten beibringen! Was wir suchen, ist ein Anknüpfungspunkt an die Geschichte. An unsere Geschichte. Sie kennen die politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten Afghanistans und den Weg, wie es dazu kam. Wir suchen einen Weg, uns davon zu lösen. Wir suchen eine gemeinsame Basis, die mehr hergibt als Geld, unsere Religion, unser Stolz und unser Lebensraum zusammen.«

»Das klingt schön – theoretisch. Aber Geschichte ist keine exakte Wissenschaft. Wenn sie uns etwas lehrt, dann dies, dass sie zwar geschrieben wird, aber nicht vorgeschrieben werden kann. Selbst wenn alle Siegel und der Schatz gefunden werden – was ist damit für das heutige Afghanistan gewonnen? Ein Land, das über Jahrhunderte im Kreuzfeuer fremder Mächte stand?«

»Was ist mit Ihrem Wilhelm Tell für die Schweiz gewonnen? Nichts, weil es bloß eine Legende ist? Alles, weil es ein gemeinsames Verständnis der eigenen Herkunft bedeutet? Sie haben Recht. Selbst mit dem Schatz in Händen sind wir keine Magier und sehen nicht die Zukunft. Wir suchen eine Idee – nein – ein Samenkorn für etwas Neues, Hoffnung … Ist es zu viel verlangt, daran zu glauben und es wenigstens zu versuchen? Jetzt, wo uns das Schicksal vielleicht einen handfesten Hinweis heraufgespült hat?«

Roshan war aufgestanden und hätte beinahe die Contenance verloren. Behüte den Stein, als wäre es dein eigenes Herz, ohne dieses sind wir tot, in dieser wie in der nächsten Welt. Vielleicht irrte sich Muhammad-Atif und der Schweizer Professor war nicht der richtige Mann, ihnen zu helfen. »Entschuldigen Sie bitte, Professor Berniér.«

Dieser hatte sich ebenfalls erhoben und schaute seinem Gegenüber, das sich als glühender Verfechter der Wirkgeschichte von Mythen aufgeworfen hatte, in die Augen. Der Mann hatte Recht, was gab es schon zu verlieren? »Ich muss den Stein scannen«, sagte er endlich, »ich kann nichts versprechen, aber ich werde die Daten studieren.«

»Danke!«

Gemeinsam machten sie sich auf den Weg ins Laboratorium.

»Um die anderen Steine zu finden, müssen Sie diesem Stein folgen, Beschaffenheit, Bearbeitung, Fundort und so weiter.« Vor der Ausgangstüre des Gebäudes blieb der Professor unvermittelt stehen: »Ist die Fundstelle bekannt?«

Roshans Augen verengten sich unmerklich.

»Oder haben Sie ihn auf dem Markt gekauft, kennen Sie die Sammlung, aus der er stammt?«

»Die Fundstelle ist bekannt«, sagte Roshan zögerlich, »ein Junge hat ihn kürzlich beim Spielen in einem Hirtenunterschlupf in den Bergen Badakhshāns gefunden und meinem Herrn gegeben.«

»Ein Junge beim Spielen …?« Berniér wirkte keineswegs überzeugt, verbiss sich jedoch weitere Fragen.

Sie gingen schweigend weiter.

»Und, haben Sie die Stelle untersucht?«

»Mein Herr schickt mich, Sie für diese Arbeit zu gewinnen.«

»Das habe ich befürchtet«, erwiderte der Professor mit einem gequälten Lächeln. Ausgrabungen waren für ihn mehr Pflicht als Vergnügen. »Wer ist denn Ihr Herr, wenn ich fragen darf?«

»Muhammad-Atif Bahjat-Khan, Anführer der Stammesältesten der Hamidzai aus Faizābād. Er möchte Sie in Kabul persönlich kennen lernen, nach dem Welt-Kongress in Delhi und vor Ihrer Arbeit in den Minen südlich von Kabul.«

Ganz schön durchdacht, ging es dem Professor durch den Sinn. Er musste sich jedoch eingestehen, dass weder sein Engagement bei den ›Archäologen ohne Grenzen‹ noch seine Teilnahme am Archäographie-Weltkongress in Delhi Geheimnisse waren.

Der laue Frühsommerabend war zur kühlen Nacht geworden, als die drei den Institutshof durchquerten. Berniér telefonierte mit Margrit: »Es tut mir leid Schatz … Ja, ich weiß, es wird eine kurze Nacht werden … Ich muss jetzt auflegen. Bis dann.«

Das archäologische Labor war menschenleer, was dem Professor für einmal gelegen kam. Im Halbdunkeln gingen sie durch den Präparations-Saal. Auf den Tischen lagen neben altertümlichen Fundstücken auch Fossilien aller Art. »Wir teilen das Labor mit dem Anthropologischen Institut, manchmal kommen auch die Rechtsmediziner mit besonders kniffligen ›Stücken‹ herüber.« Am Ende des Raums versperrte eine schwere Stahltüre mit Warnschildern den Durchgang. Berniér tippte einen Kode ein und legte die Hand auf den Autorisierungsscanner. »Hier haben wir den einzigartigen Gravitonen-3D-Scanner in Betrieb, ein Prototyp des CERN«, erklärte der Professor stolz, »aber das wissen Sie ja bereits.«

Roshan lächelte vielsagend zurück.

Während des Hochfahrens des zimmergroßen Apparats untersuchte der Archäographe den Stein oberflächlich unter dem Mikroskop. »Sehen Sie die winzigen Verunreinigungen in den Vertiefungen des Wappens?« Er deutete auf sandkörnergroße Objekte auf dem Bildschirm. »Es könnte ein Hinweis auf die Verwendung als Siegelstein sein.« Mit einer Haarglaskanüle sammelte er vorsichtig einige Stückchen ein. »Assistent Meyer wird morgen die chemische Zusammensetzung und das Alter der Proben analysieren.«

Unterdessen war der Scanner bereit und die Aufnahme in kürzester Zeit gefertigt. »Die Aufbereitung der Daten auf den Hochleistungsrechnern im Genf wird eine Weile in Anspruch nehmen«, erklärte Berniér, als sie den gesicherten Bereich verließen und er Roshan den grünen Stein zurückgab. »Was werden Sie mit ihm tun?«

»Wir bringen ihn in Sicherheit. Wer weiß, vielleicht benötigen wir ihn noch für weitere Untersuchungen?«

»Hm, der Gravitonen-Scan lässt nicht mehr viel zum Entdecken übrig – die Frage ist nur, ob wir die Daten sinnvoll interpretieren können. Wir werden ja sehen.« Der Institutsleiter begleitete die beiden Afghanen bis zum Tor des Innenhofs.

»Muhammad-Atif wird Sie am Flughafen von Kabul abholen lassen und persönlich zur Fundstelle begleiten. Material und Hilfskräfte werden nach Ihren Wünschen zur Verfügung stehen. Falls Sie etwas benötigen, melden Sie sich bitte bei mir.« Roshan überreichte Berniér eine Visitenkarte mit seinem Namen und einer E-Mail-Adresse darauf.

»Monsieur Al-Khalīlī, ich nehme an, dass Sie Ihren Auftraggeber gut kennen. Aber woher wollen Sie wissen, dass es ihm am Ende nicht doch nur um Geld und Reichtum geht?«

»Sie erkennen die Menschen anhand ihrer Taten, nicht ihrer Worte. Bewahren Sie sich Ihr eigenes Urteil und Sie werden sehen.« Lächelnd reichte er dem Professor die Hand. Mustafa verneigte sich ungelenk und zusammen verließen die Besucher den Campus. Ein schwarzer Mercedes fuhr vor.

Chauffeur? Berniér schaute ihnen grübelnd nach. Mitternacht war schon vorüber. In weniger als achtzehn Stunden würde er im Flugzeug nach Indien sitzen, und er hatte noch einiges vorzubereiten. Und da war Margrit, von der er sich für die nächsten Wochen verabschieden musste …

Die verlorene Legende Afghanistans

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