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Der grüne Adler 21 30 Uhr

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Bis Sindo mit der Herde zurückkam, war die Dämmerung schon weit fortgeschritten. »Du kannst herauskommen, die Soldaten sind weg!«, rief er in die Höhle.

Es blieb still.

»Wir können nicht hier bleiben, wir müssen weiterziehen …« Er trat in die Höhle: »Nawid, bist du da?«

Drinnen war es stockfinster. Der Knabe war weg, das bemerkte Sindo auch ohne Taschenlampe. Und wenn er zur Straße hinunter ist? Musste er jetzt den Jungen suchen gehen? Nein, sagte sich der Hirte, zwei Ziegen genügen. Ganz zu schweigen vom Soldaten, den er auf seinem Gewissen hatte … Er starrte eine Weile in die Finsternis. Noch nie war es ihm in dieser Höhle unheimlich zumute gewesen. Aber heute war alles anders. Sie wirkte bedrohlich und – mächtiger als sonst.

»Hallo?«, flüsterte er beinahe andächtig.

Totenstille.

Also gut, gab er sich schließlich einen Ruck, band draußen die Leitziege im Steingehege fest und machte sich auf den Weg in die dunkle Schlucht hinunter. Wenn, dann ist er zur Straße gelaufen.

Je weiter er sich vom Unterstand entfernte, desto unruhiger wurde er.

Hat er denn gar keine Angst, oder ist er einfach nur dumm?

War der Hirte enttäuscht, oder rührte sich sein Gewissen? Immerhin hatte er des Knaben wegen einen Menschen getötet. Doch der Abstellplatz war leer. Ab und zu fuhr ein Auto vorbei, aber der Hirte hielt sich bedeckt. Dazwischen rief er vergeblich nach Nawid. Er ist nicht hier, es wird ihn jemand mitgenommen haben. Ist das meine Schuld, ich habe doch geholfen? Vielleicht ist er noch verstörter als die Ziegen.

Auf dem Rückweg zum Unterstand erinnerte er sich an den eigenen Vater. Einen Vater, an den er gar keine Erinnerung haben konnte. Kurz vor seiner Geburt war er von den Taliban getötet worden. Nicht von jenen, die jetzt hier waren. Sondern von den Taliban, welche die Muğāhidīn als amerikanische Verräter angesehen und reihenweise aufgeknüpft hatten. So hatte es ihm jedenfalls Onkel Borak erzählt, der den Waisen Sindo zwar aufgenommen, aber nie dessen Vater hatte sein wollen. Von seiner Mutter wusste er gar nichts. Die Frauen redeten nie von ihr. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte … ob sie geweint hatte, als sie ihn nach Bakhtingan schicken musste …?

Dieses Schwalbennest am kargen Felsen. Den Onkel würde er am Markt bald zu sehen bekommen. Und dann würde er für die verlorenen Ziegen Rede und Antwort stehen müssen. Kein Vergnügen, obwohl es der Onkel nicht schlecht mit ihm meinte. Das Geschäft ging immer vor.

Gerade jetzt inszenierte der Abendstern hinter den Bergspitzen seinen glänzenden Abgang. Wieso muss er immer der Sonne hintendreinhinken? Möchte er nicht manchmal lieber der Morgenstern sein?

Er hatte er sich so sehr auf das Fest gefreut – Laleh.

In Gedanken versunken entfachte er zurück in der Höhle wie gewohnt ein Feuer. Es würde kalt werden, in dieser Nacht. Der Ort wurde seit Menschengedenken von den Hirten als Unterschlupf benutzt. Parvaiz, sein alter Lehrmeister, hatte ihm alle Weiden, Pfade und Unterstände gezeigt. In den zugegebenermaßen wenigen Jahren, die er hierher kam, war er noch nie einem anderen Hirten begegnet. Vom Alten hatte er auch das Schlachten der Ziegen gelernt.

Das Feuer warf sein Schattenspiel tief in die Höhle hinein. Auf einmal sah er den zuckenden Soldaten vor sich. Als ob sie hinter ihm hergehinkt wären, erreichten damit die Erinnerungen an den Tag den Unterschlupf. Nicht nur das Zucken, sondern auch das gurgelnde Geräusch des Sterbens erwachte wieder zum Leben. Es war alles da, wenn auch anders. Hätte er nicht so schnell wie möglich von hier verschwinden sollen? Mit oder ohne Junge, die Soldaten würden sich nach Rache sehnen. Betreten von seiner eigenen Unbedarftheit seufzte er in das Feuer.

Und dann sah er Nawid an der Wand stehen. Oder gaukelte ihm der flackernde Schein etwas vor, das gar nicht da war? Der Knabe stand nicht an der Wand. Dennoch stimmte etwas nicht. Es dauerte lange, bis er begriff. Es lag nicht an seinen Gedanken oder Halluzinationen. Sondern, handfester, daran, dass dort, wo die Höhle eigentlich hätte fertig sein sollen, ja immer schon fertig war, auf einmal ein Loch klaffte. Kein riesiges, er hätte knapp hindurchzukriechen vermocht, aber es war ein Loch. Er war sich sicher, dass es vorher nicht da gewesen war!

Aber woher kam es? Hatte es etwas mit Nawid zu tun? Der Hirte starrte mit offenem Mund darauf. Es zog ihn geradezu magisch an. Es musste etwas mit dem Jungen zu tun haben! Endlich stand er auf, nahm einen lodernden Ast und trat zum rückwärtigen Felsspalt, wo ihm das schwarze Nichts höhnisch entgegengähnte.

Die Hand hindurchstrecken?

Niemals!

Hindurchkriechen?

Auch das verwarf er. Nicht aus Angst, auch wenn ihm mulmig zu Mute war. Aber er war nicht für das Innen gemacht, mehr für das Außen. Vielleicht könnte er bei Tageslicht mehr erkennen? Je länger er darüber nachdachte, desto unruhiger wurde er. Nur einen Schritt entfernt war immer noch nichts zu erkennen. Schließlich streckte er den Ast hinein, um die Schwärze aus dem Loch zu vertreiben.

Vor Schreck ließ er das brennende Holz fallen und wich zurück. Zwei Schreie erklangen auf einmal. Der eine kam von ihm selber. Das wusste er ganz genau. In der Nische lag zusammengekrümmt eine blutbedeckte Leiche.

Diese schrie ebenfalls auf. Der feurige Ast war ihr auf die linke Hand gefallen, die sich reflexartig darum schloss, bevor sie ihn heftig zur Seite schleuderte, das Feuer erlosch und es wieder still wurde.

»Bist du es?« Es musste der Junge sein, wer sonst? Unsicher wich Sindo einen weiteren Schritt zurück.

»Sindo …?«, kam es wirr zurück. Es dauerte eine Weile, bis Nawid aus dem abgrundtiefen Dämmerzustand zurückfand, in den er vor geraumer Zeit hineingefallen war. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war sein Vater – geh nicht zu weit … und wie er ihn unter dem Auto hindurch angestarrt hatte. Es waren zwei gute Augen, die erloschen, kaum war der Schuss gefallen. Waren es nicht mehrere Schüsse gewesen? Ob er noch da lag? »Ich bin doch nicht weit weggegangen …«

»Nawid? Ist alles in Ordnung?«

»Ich weiß nicht.« Die Brandwunde an seiner linken Hand begann derart zu schmerzen, dass ihm das Wasser in die Augen trat. Aber das tat ihm nicht weh. Er biss sich auf die Zähne und wollte sich gerade aufrappeln, als zusammen mit dem letzten Aufglühen der Gluten neben ihm noch etwas anderes, Grünes aufglänzte.

In seinen nassen Augen tanzten die roten, orangen und bezaubernd grünen Glanzlichter wie in einem Kaleidoskop. Es war seltsam. Wunderschön, aber seltsam. Das Schauspiel dauerte bloß einen Atemzug und endete mit dem Verlöschen der Funken am Boden.

Was war denn das? Hatte er schon wieder geträumt? Er tastete mit der rechten Hand neben sich. Da war der Ast, der nur noch warm war. Und daneben lag etwas Kaltes und Glattes. Es fühlte sich an wie Glas, aber ohne scharfe Kanten. Es passte gut in die Kinderhand und wog schwerer als ein Stein. Ein Metallklumpen?

»Bist du verletzt?«, wollte Sindo wissen, da sich Nawid nicht weiter bewegte.

»Nein, es geht.« Er packte das Ding und schob es in seine Tasche, während er steif aus dem Loch kroch.

Im spärlichen Schein des Feuers schaute ihn Sindo verwundert an: »Wie um Himmels Willen hast du dieses Loch gemacht?«

»Ich? Ich habe es nicht gemacht, es war schon da …«, antwortete Nawid. Oder doch, überlegte er sich? »Ich – bin hineingefallen.«

»Hineingefallen? Aber da ist die Höhle fertig, und in den Felsen fällt man nicht einfach so hinein.«

Nawid überlegte angestrengt: »Als geschossen wurde, habe ich mich ganz fest an die Wand gedrückt, und dann fiel ich nach hinten.«

Sindo schüttelte den Kopf. Der Gedanke an die Schüsse und seine beiden verlorenen Ziegen brachte ihn in die kalte Nacht zurück. Es war jetzt keine Zeit, diesem Loch nachzuhängen, wahrscheinlich lagen da nur ein paar lose Felsbrocken, die er früher nie bemerkt hatte.

»Wer hat geschossen?«, fragte Nawid.

»Die Milizsoldaten haben zwei meiner Ziegen getötet«, murrte der Hirte, »wir müssen weg von hier, sie werden nach uns suchen.«

»Wohin?«

»Weg von der Höhle, hinauf in die Berge.«

Nawid machte ein betrübtes Gesicht. Hatte er gehofft, er würde zur Mutter nach Hause gehen können? Jedoch kümmerte etwas anderes ihn mehr, er musste es einfach wissen,

»Ist Vater – noch unten?«

»Nein, die Amerikaner haben die Leichen mitgenommen«, antwortete Sindo, ohne aufzublicken. Er war bereits dabei, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken und trat den Rest des Feuers aus. Er hatte einen waghalsigen Entschluss gefasst. Sie würden über den alten Schmugglerpfad auf ein Hochplateau auf der anderen Seite der Berge gehen, wo sie den Tag unbehelligt verbringen konnten. Den Abstieg von dort durch die große Felswand in das Nebental würden sie dann schon irgendwie schaffen.

Parvaiz hatte ihm von diesem Weg erzählt. Die Muğāhidīn nutzten ihn, um die russischen Stellungen zu umgehen. Aber er war seit Urzeiten begangen, von Räubern, die Karawanen plünderten; oder von den Paschtunen, die gegen die Engländer kämpften … Also würde es auch für sie klappen.

Vor dem Unterschlupf blickte der Hirte zum sternenklaren Himmel hoch. Es war noch nicht Mitternacht und kalt. Selber warf er sich seine Decke um und gab Nawid eines seiner alten Felle. Obwohl er nicht richtig zählen konnte, wusste er nach kurzer Zeit, dass alle seine Ziegen da waren. Alle mit Ausnahme von Starla und Siria!

»Bleib dicht hinter mir und pass auf den Weg auf, wir gehen über einen steilen Pass in ein Tal, wohin die Soldaten uns nicht so leicht folgen werden.« Damit liefen sie los. Vorbei an der Stelle, wo die Amerikaner Sindo am späten Nachmittag gestellt hatten.

Sindo vermisste Parvaiz, den alten Hirten aus Bakhtingan, mit dem er so lange unterwegs gewesen war und der ihm alles beigebracht hatte. Er vermisste die Geschichten, die der alte Mann abends erzählt hatte, und seine Gelassenheit und Zufriedenheit. Er war ihm mehr ein Vater als sein eigener Onkel, der ihm bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass er in seiner Schuld stehe und für ihn arbeiten müsse.

Noch auf dem Sterbebett schwärmte Parvaiz vom Leben, dem kommenden Frühling und den Frauen … seine letzten Worte jedoch klangen irgendwie seltsam: »Weißt du, Sindo, Allah hat alle Menschen gleich gemacht. Aber es gibt Menschen, die ernsthaft glauben, einige seien gleicher als andere. Vor diesen hüte dich. Suche die Menschen, die im anderen ihresgleichen sehen.«

Was er wohl damit gemeint hat? Besser sein, ja, aber gleicher sein als andere, wie soll das gehen? Parvaiz erschien ihm immer schon als weiser Mann, obwohl dieser, genau wie er selber, niemals eine Schule von innen gesehen hatte.

Die Ziegen zeigten ihre Unsicherheit darüber, wohin dieser nächtliche Marsch führen sollte, auf ihre Weise. Das Leittier und seine Nebenbuhler drängten sich zum Hirten, die weniger Ehrgeizigen und Jüngeren scharten sich um den Knaben.

Für Nawid war es das erste Mal überhaupt, dass er in der Nacht im unwegsamen Gelände unterwegs war. Er war in der Stadt aufgewachsen und dort zur Schule gegangen. Nicht zu den Gottesanbetern, sondern in eine richtige Schule. Und er lernte gerne. Draußen zu spielen bedeutete ihm mehr notwendige Abwechslung als Freude.

Und zu allem Unbill war er todmüde, hungrig und durstig. So stolperte er ständig und fiel immer wieder hin. Wenigstens lenkten ihn diese äußeren Strapazen von den inneren Bildern ab, die ihn in der Höhle heimgesucht hatten. Selbst die ungewöhnlichen Schatten und Umrisse der Felszacken, die der Viertelmond fabrizierte, bedrohten ihn nicht.

Nicht zuletzt der Tiere wegen. Ihre lebhafte und verspielte Weise beruhigte schließlich auch Nawid. Einzig die verbrannte und vom Stolpern zusätzlich geschundene Hand ließ ihm keine Ruhe. Wenn er sie in die Tasche steckte und den Stein umklammerte, linderte das den Schmerz erheblich. Unwissend, woher die kühlende Wirkung kommen sollte, malte er sich aus, dass der Brocken magische Kräfte haben müsse. Wieso sonst hätte er in der Höhle dermaßen wundersam gefunkelt?

Sindo schaute immer wieder zurück, wegen seiner Herde und dem Jungen. Während des immer steileren Aufstieges dämmerte ihm eines: Durch seine Tat hatte er für diesen Verantwortung übernommen. Egal, ob es ein Paschtune, ein Stadtmensch oder ein weinerlicher Knabe war – er war alleine und ohne ihn verloren. So wie ich, so wie Parvaiz für mich. Gleicher oder meinesgleichen …? Ob er wollte oder nicht – wenigstens bis er ihn sicher nach Hause schicken könnte.

Je näher sie dem Pass kamen, desto abschüssiger wurde das Gelände. Einen Pfad gab es schon lange nicht mehr und bei den heikelsten Passagen über die Geröllhalden nahm Sindo Nawid bei der Hand. Das Trampeln der Herde und das Poltern der losen Steine, die talwärts flogen, waren die einzigen Geräusche, welche die Stille der Nacht durchbrachen.

Endlich oben angekommen, sank Nawid erschöpft zu Boden.

»Hier, trink etwas«, hielt ihm Sindo den Schlauch hin.

Dieser nahm ein, zwei Schluck und streckte ihn zurück.

»Du musst mehr trinken!«

Aber das Wasser brannte Nawid derart in der Kehle, dass er nicht mehr hinunter brachte: »Ich kann nicht.«

»Es ist nicht weit bis zur Hochebene hinunter, dort machen wir Rast. Siehst du das Steinmännchen hier?«, versuchte ihn Sindo abzulenken.

Nawid drehte den Kopf und betrachtete den Steinhaufen, auf dem oben zwei große Hörner thronten. Überraschenderweise erinnerte es ihn an einen kleinen buddhistischen Tempel, wie er ihn schon einmal in einem Buch gesehen hatte.

»Es ist ein uraltes Wegzeichen der Berge, die Hörner und rote Farbe ziehen die bösen Geister an. Und die Taliban zerstören sie alle, weil sie von den Ungläubigen aus dem Osten errichtet wurden und voll von Aberglauben sind. Das stimmt wohl, aber sie wurden zu einer Zeit gebaut, als Mohammed noch gar nicht gelebt hatte … Sie haben ja keine Ahnung. Ohne sie sind selbst wir Hirten in den Bergen schneller verloren als ein Viper zuschnappen kann.«

»Woher weißt du das«, die Neugierde des Jungen war geweckt.

»Der alte Parvaiz hat es mir erzählt. Aber es gibt nur noch wenige, die so aussehen wie dieses hier. Die meisten haben wir zu formlosen Steinhaufen umgebaut, damit wir nicht verloren gehen.«

Der Mond verschwand hinter dem Horizont und beide, verschwitzt wie sie waren, begannen unter der klirrenden Milchstraße zu frieren. Als ob das fahle Licht sie zuvor gewärmt hätte. Der Abstieg war noch beschwerlicher als der Aufstieg. Nun fiel auch der robustere und kräftigere Sindo mehrmals hin oder rutschte ein Stück weit hinunter. Einzig die Tiere blieben trittsicher.

Sie haben ja auch vier Beine, dachte sich Nawid, als er einmal mehr zu Boden gestürzt war und einen Augenblick liegen blieb, um zu verschnaufen. Eine junge Ziege, die ihm unterdessen sehr anhing, hüpfte dann jeweils herbei und zupfte ihn am Gewand. Für sie war es ein Spiel.

Als die Nacht am kältesten und dunkelsten war, gelangten sie auf die Hochebene. Die Tiere schnupperten das unberührte Gras von weitem. Das Plateau war abgelegen und vom Tal her nur schwer zugänglich. Die Hirten suchten es erst im Hochsommer auf, wenn die tiefer gelegenen Hänge nicht mehr genügend zu Futtern boten.

Sindo hatte seine liebe Mühe, die Herde zusammenzuhalten. Er konnte sie in der Nacht unmöglich unbeaufsichtigt fressen lassen, also band er die Leitziege neben dem zerfallenen Unterstand an. »Morgen könnte ihr hier schlemmen«, liebkoste er sie.

Nur der hintere Teil der Steinhütte besaß noch ein Stück Dach. Dort breitete er die Decke und die Felle aus. Aus der Tasche reichte er Nawid, der sich bereits hingelegt hatte, ein Stück Brot.

»Ich kann nicht essen.«

»Aber du musst, wir haben morgen noch einen weiten Weg vor uns!«

Nawid setzte sich auf und kaute am Hirtenbrot. Dass es hart war, war nicht das Problem, er kannte das von zu Hause in Mazār. Aber schon beim ersten Bissen überfiel ihn ein noch nie dagewesener Ekel. So sehr er versuchte, das zerkaute Brot zu schlucken – es gelang nicht.

Schließlich würgte er es gewaltsam herunter. Mit der Folge, dass es postwendend mitsamt dem restlichen spärlichen Mageninhalt wieder hochkam. Nawid kroch zur Seite und musste sich fürchterlich übergeben. So lange, bis er nur noch Galle spuckte. Letztlich kippte er zur Seite und blieb erschöpft liegen. Der Frost der Sternennacht nahm endgültig von ihm Besitz. Mehr noch als von außen spürte er die Kälte von innen.

Sindo reichte ihm den Wasserbeutel, so dass er wenigstens den Mund etwas ausspülen konnte. Aber er nahm keinen einzigen Schluck. Er musterte den bibbernden Jungen besorgt. War das nur Erschöpfung? Er schleppte ihn auf die Felle und deckte ihn zu.

Mit den Zähnen klappernd hauchte Nawid: »Danke.«

Sindo rief Zarina herbei, die kleine Ziege, die sich unterwegs mit Nawid angefreundet hatte.

»Du musst sie festhalten, sonst läuft sie wieder davon. Dafür gibt sie dir warm.« Damit bugsierte er das Tierlein zu den Fellen.

Zarina legte sich widerstandslos hin und begann alsbald, am Arm des Jungen zu knabbern, den er über sie gelegt hatte. Zum ersten Mal huschte ein Lächeln über das Gesicht Nawids, was Sindo selbst im Dunkeln deutlich wahrnahm. Befriedigt ob seines Erfolges legte er sich auf seine Decke und wickelte sich ein.

Nawid befiel augenblicklich ein böser Traum.

Aus dem Nichts erschien ein kleiner grüner Punkt, der ständig wuchs. Je größer er wurde, desto deutlicher nahm er die Form eines grünen Vogels an. Die Schwärze um ihn herum formte sich zu schwarzen Vögeln. Als der Punkt groß genug war, erkannte er im Grünen den Adler wieder, der ihn vom Vater weggeführt hatte. Aus höhnenden Augen sprühten rote Funken.

Mit dem wahnsinnigen Blick des zu Tode gehetzten Tieres griff der grüne Adler die schwarzen Geier um ihn herum an. Biss um Biss riss er ihnen saftige Fleischstücke aus dem Körper. Bis sein Federkleid vollgetränkt mit lauwarmen Blut verklebte und er in die Tiefe zu stürzen begann. Unaufhaltsam, an der schmalen Brücke zum Himmel vorbei direkt in die Feuergrube der ǧahannam, der Hölle.

Der Adler gewinnt immer, hörte er sich wütend schreien, während nun dessen Augen grün zu funkeln begannen. Das strahlende Grün begann sich langsam über das rot glühende Federkleid auszubreiten, zu einem unsäglichen Preis: Jeden Hieb, den er vorhin den Aasgeiern zugefügt hatte, spürte er nun siebenfach an sich selber.

Jeder ist schuld, krächzte eine Stimme.

Unsägliche Schmerzen wanderten von den Flügelspitzen seine Arme hoch in die Brust, als würde seine Haut ständig von neuem verbrennen. Bis die Qual unerträglich wurde und das Herz erreichte.

Was habe ich getan?

Scharfkantige, grüne Glasscherben zerschnitten ihm langsam jede Muskelfaser des Herzens, bis es aufhörte zu schlagen. Mit einem spitzen Knall explodierte der Vogel und es wurde auf einmal still und leer.

Die verlorene Legende Afghanistans

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