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Todeskampf 9. Juni, 16 00 Uhr, südlich von Artin Jelow

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Das konnte nicht nur Müdigkeit sein, soviel war klar. Nach einiger Zeit gab Sindo den Versuch auf, Nawid zu wecken. Dieser befand sich den ganzen Tag über in einem lamentablen Zustand. Er redete wirres Zeug, zusammenhangslose Fetzen von einem Adler, grünen Scherben, Feuer …

Erst bei Tageslicht hatte er bemerkt, dass Nawids Handfläche ganz verbrannt und von den Strapazen des nächtlichen Marsches aufgerissen, eitrig und blutverkrustet war. Das sah wüst aus. So gut es ging, wusch er die großflächige Wunde aus – mehr wusste er nicht zu tun.

Währendem schwelgten die Ziegen im grünen Paradies und waren durch nichts abzulenken. Da der Hirte den Abstieg nur von den Erzählungen Parvaiz’ kannte, ging er nach dem Mittag ein Stück weit den Weg hinab. Die Welt schien bei einer großen Felswand zu enden. Der Bach, der sich genährt vom Schmelzwasser durch die Ebene zog, fiel dort in einen grenzenlosen Abgrund. Er kannte den Wasserfall, der im Frühling imposant aus dem Felsen schoss, von unten. Ein Pfad war nicht auszumachen, die Wand musste wohl auf der linken Seite umgangen werden.

Auch am späten Nachmittag war der Knabe nicht wachzukriegen. Er lag unverändert unruhig im Unterstand. Wie um Allahs Willen kommen wir denn je da runter?, fragte sich Sindo zum x-ten Mal. Er war zwar ein starker Bursche, aber der Junge war auch kein Kleinkind mehr. Schließlich entschloss er sich, zuerst diesen hinunterzubringen. Die Ziegen würde er später holen gehen, sie liefen von dieser Oase bestimmt nicht freiwillig weg.

Also packte er Nawid wie einen Sack Mehl über die Schultern und wankte los. Der Junge stöhnte ab und zu auf, ebenso Sindo vor Anstrengung. Bereits vor der Felswand wurde das Gelände steinig und steiler. So dauerte es nicht lange, bis Sindo auf dem losen Geröll ausrutschte und rückwärts auf Nawid fiel. Dieser heulte vor Schmerzen. Zusammen lösten sie eine kleine Lawine aus und rutschten wie in Zeitlupe in Richtung Abgrund. Erst kurz davor vermochte Sindo sie zu stoppen. Einige Felsbrocken krachten über die Wand ins tiefe Tal.

Es dauerte eine Weile, bis er sich vom Schreck erholt und Nawid wieder nach oben auf trittfesteren Boden geschleppt hatte. Auf den ersten Grasnarben blieben sie liegen, der eine schnaufend, der andere wimmernd. Mit dem Untergang der Sonne schloss der Bursche die Augen. Das schaffe ich nie!

»Wen haben wir denn da?«

Erschrocken fuhr Sindo herum. Ob der Anstrengung eingenickt, hatte er den Mann nicht gehört, der zu ihnen hochgestiegen kam.

»Sindo?«

Es war Gulzar, ein Ziegenhirte, der für Saeed arbeitete. Sindos Onkel Borak war immer schon neidisch auf Saeed gewesen, der von allem mehr und Besseres besaß: Mehr Ziegen, mehr Karakul-Lammfelle, grüneres Land, bessere Arbeiter, mehr Geld, schönere Frauen … Der Neid der Besitzer spiegelte sich in der Rivalität der Hirten. Aber am Ende hatten die beiden Besitzer mehr miteinander gemein als mit den jeweiligen Hirten und umgekehrt.

»Was in aller Welt machst du hier oben – in unserem Tal, wo Abidis Ziegen nichts zu suchen haben?«

Sindo begann schlagfertig: »Noch bin ich nicht im Tal …«, fügte jedoch sogleich an, »aber alleine komme ich auch nicht runter, mit dem verletzten Jungen hier.«

»Wer ist das?«

»Einer von Boraks Enkeln, er wollte unbedingt mit den Ziegen mitziehen.«

Der Hirte runzelte die Stirne: »Ein Sprössling Borak Abidis, der mit den Ziegen ziehen will, das passt schon mal nicht zusammen. Die Allianz-Soldaten heute redeten auf jeden Fall nicht von Abidi?«

Sindo stand auf, um den Schrecken zu verbergen, der ihn beim Wort Allianz durchfuhr. Verlegen hob er die Schultern.

»Wie kommst du überhaupt hier hoch?«

»Über den alten Pass.«

Gulzars Stirn bekam noch mehr Runzeln.

»Die Hubschrauber haben gestern meine Herde bis zum Pass hinaufgescheut, und ich hatte sie erst wieder beisammen, als es schon dunkel war. Parvaiz hat mir einmal erzählt, dass dahinter ein Unterstand ist.«

Diese Referenz regelte die Sache fürs Erste. »Was ist mit dem Kleinen?«

»Keine Ahnung, er hat sich die Hand verbrannt und ist seitdem fiebrig.«

Ohne viel Federlesen schulterte der stattliche Mann den Jungen und wies Sindo an, seine Ziegen und Sachen zu holen. »Kennst du überhaupt den Weg an der Felswand vorbei?«

»Nein«, gestand Sindo verlegen, »wir sind fast abgestürzt.«

»Deshalb hat Aram mich hochgeschickt, um nachzusehen. Folge mir«

Die Venus zog bereits den Abendhimmel nach sich, als sie im Lager unten ankamen. Gulzar legte Nawid neben dem Feuer zu Boden und gab seinem Anführer Bescheid.

Dieser begrüßte Sindo, als wäre er einer seiner eigenen Leute: »Du hast Glück, dass wir dich gehört haben. Alleine hättest du den Weg ins Tal nicht gefunden. Geh jetzt und versorg deine Ziegen. Hinter der Mauer nach der Herde findest du Platz. Ich kümmere mich um den Jungen.«

Aram war der erfahrenste und angesehenste Hirte der Region und wurde nach Parvaiz’ Tod von den meisten als neuer Ältester anerkannt. Er war ein Tādschīke, mit wettergegerbter Haut, grauem Bart und starken Händen. Die ansehnliche Erscheinung beeindruckte Sindo. Er bedankte sich und tat, wie er geheißen.

Als er zurückkehrte, lag Nawid am selben Ort, mit einer Decke zugedeckt. Die bunt zusammengewürfelte Schar der Hirten hatte sich am Feuer versammelt. Hazāra neben Turkmenen, Usbeken neben Aymāqs neben Nuristani; nur keine Paschtunen. Jeder der Gruppe war seinem eigenen Stamm zugeordnet. Aber alle Hirten zusammen bildeten eine Qawm. Nicht Herkunft oder Kultur, sondern ihre Arbeit machte sie zu einer Schicksalsgemeinschaft. Der Älteste konnte nur regeln, was nicht anderswo geregelt wurde – und das war nicht viel. Aber in einer Situation wie dieser gebührte ihm das letzte Wort. Also hieß Aram Sindo neben sich sitzen und begann.

»Die Hubschrauber haben deine Herde den Pass hinaufgejagt?«

»Ja«, antwortete Sindo unsicher.

»Das wievielte Mal bist du schon alleine unterwegs?«

»Zum zweiten Mal.«

»Wenn ich mich recht entsinne, bist du ein Neffe von Borak Abidi?«

»Ja.«

»Und der Junge ist ein Enkel von ihm, sagst du?«

Sindo nickte ausweichend.

Nach einer Pause fuhr der Alte fort: »Und du hast gestern keine Alliierten getroffen?«

»… nein.« Die Fragen verunsicherten Sindo zunehmend.

»Und seine Hand hat einfach so Feuer gefangen; Feuer, das Allah vom Himmel geschickt hat? Und die Soldaten suchen einfach so einen Mörder und einen Komplizen. Und die Amerikaner jagen einfach so Ziegen in der Gegend herum …?«

Arams eingefallene Augen lächelte sanft, als er die Worte sprach.

Was hätte Sindo dem Alten antworten sollen? Dass er der Mörder war? Dass er nur dank dem Amerikaner überhaupt noch lebte? Zwar durfte er annehmen, dass der Nachfolger von Parvaiz auf seiner Seite stehen würde. Aber woher konnte er wissen, was Aram im Schilde führte?

»Sindo-Kalil Abidi«, fuhr dieser in ernstem Ton fort.

Überrascht blickte ihn der Bursche an, woher kannte der Alte seinen vollen Namen?

»Du bist jung und unerfahren. Dein Onkel denkt mehr an sich als an andere. Aber du bist nicht dein Onkel, und du hattest einen guten Meister. Oder etwa nicht?«

Der junge Hirte bejahte.

»Wirklich? Ich meine, hat er dich nicht gelehrt, dass der Zusammenhalt unter seinesgleichen wichtig ist? Und dass man seinesgleichen nicht anlügen soll? Erst recht nicht, wenn man alleine ist – und Angst hat?«

Aram hielt inne und blickte dem jungen Hirten direkt in die Augen. »Und glaube mir, du bist alleine und du hast Angst!«

Sindo wurde ganz heiß. Das also hatte der sterbende Parvaiz damit gemeint, suche deinesgleichen. »Ich habe Unrecht getan«, sagte er nach einer Weile kaum hörbar. Er jedoch hatte das Gefühl, den Satz regelrecht in die Nacht hinausgeschrien zu haben. Innerlich hörte er dessen Echo, du hast getötet, du bist verloren, du bist verdammt … Eine Träne rollte über seine Wange.

Aram fasste Sindos Arm und wippte rhythmisch vor und zurück: »Was immer du getan hast, Allah wird darüber urteilen. Aber es betrifft uns alle. Die Soldaten der Allianz suchen dich, und sie werden einen Grund dafür haben. Ob der Grund richtig oder falsch ist, liegt nicht an mir zu entscheiden. Doch Allah hat heute dein Schicksal in meine Hand gelegt – und glaube mir, ich nehme es nicht leicht. Wir sind Hirten, in einer Welt, die schon seit langer Zeit zerbrochen daliegt. Doch es war nicht immer so. Sollen wir selber daran zerbrechen? Ist es nicht unsere Pflicht, wenigstens das, was in unserer Macht steht, zusammenzuhalten?«

Damit ließ er ihn los. Selbst das Knistern des Feuers verstummte gebannt, als Sindo schließlich erzählte, was am Vortag geschehen war. Am Ende herrschte betretene Stille.

»Ich habe mich nicht getäuscht«, seufzte Aram.

Ein Hirte, der eben zum Feuer getreten war, beugte sich zum Ältesten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dieser nickte.

»Der Knabe braucht Medizin«, sagte er daraufhin zu Sindo, »sonst wird er sterben, sobald das giftige Blut den Weg von der Hand ins Herz gefunden hat. Das ist noch vor Sonnenaufgang der Fall. Ihab bringt euch zusammen mit meinen verletzten trächtigen Ziegen nach Artin Jelow zu Hamida. Deine Tiere nehmen wir mit uns. So werden die Soldaten keine Herde mit einem Hirten und einem Jungen zum Tiermarkt kommen sehen.«

Mit diesen Worten beendete Aram die Runde und die Hirten verzogen sich zum Schlafen. Es lag noch ein anstrengender Tagesmarsch vor ihnen, bevor dann der Markt in Artin Jelow nach dem Maghrib, dem Gebet nach dem Sonnenuntergang, mit einem großen Fest eröffnet würde.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sich Sindo bei Aram, bevor er zu seinen Tieren ging.

»Du bist ein guter Mensch und hast mutiger gehandelt als die meisten von uns zu handeln gewagt hätten. Allah wird dich beschützen. Und ich werde das meine dazu tun.«

Kaum hatte er sich hingelegt, als er von Ihab geweckt wurde. Müde bestieg er den Pick-up, wo Nawid eingehüllt lag. Er bewegte sich nicht und Sindo wurde das Gefühl nicht los, neben einem Toten zu sitzen. Ihab hievte die beiden trächtigen Karakul-Geißen mit den gebrochenen Hinterläufen auf die Ladefläche.

Die rumpelnde Fahrt zog sich in die Länge. Nur langsam verstrich die Nacht.

Im Morgengrauen näherten sie sich der großen Straße. Ihab gab Sindo ein Zeichen, sich flach hinzulegen und die schwere Plane über sich und Nawid zu ziehen. Wenn irgendwo Milizen postiert waren, dann bestimmt auf der nahen Abzweigung nach Artin Jelow. Aber keine Patrouille stand dort. Ungehindert legten sie die letzte Meile bis zum Dorf zurück.

Die provisorischen Zäune, wo die zahlreich erwarteten Herden eingepfercht und feilgeboten werden konnten, waren nicht zu übersehen. Kurz vor dem Dorfeingang bogen sie rechts ab, um wenig später vor einer baufälligen Hütte anzuhalten. Ihab wartete noch einen Moment, bevor er ausstieg und anklopfte.

»Wer ist es?«, wollte eine knarzende Frauenstimme aus dem Inneren wissen.

»Aram schickt mich, ich habe einen kranken Jungen, der Medizin braucht.«

Es dauerte, bis der Schließbalken angehoben wurde und sich die Türe öffnete. Die alte Frau streckte ihren mit einem schwarzen Tuch verhüllten Kopf heraus und hob die Talglampe hoch: »Wen schickt er mir?«

Unsicher, ob er oder der Junge gemeint war, schlug Ihab die Blache zurück und trug Nawid zur Türe. Sindo stieg vom Wagen und begrüßte die Heilerin ebenfalls vor der Türe.

Hamida verzog ihr Gesicht: »Das ist keine Herberge«, murrte sie und wollte die Türe zuschlagen.

Ihab jedoch schob flink den Fuß in den Spalt: »Der Junge wird sterben, wenn er keine Medizin erhält …«

»Der Tod wartet schon lange hinter dem Haus.« Ohne weiteren Widerstand schlurfte sie zurück.

Ihab gab Sindo mit dem Kopf ein Zeichen, ihm zu folgen und die Türe zu schließen. Ohne den spärlichen Schein der Lampe wäre es drinnen noch immer finstere Nacht gewesen. Der Fahrer legte Nawid neben der kalten Feuerstelle auf den Boden und erhob sich. Er streckte Hamida, die abwartend in einer Ecke stand, etwas hin.

»Das hat mir Aram für dich gegeben – dafür, dass du niemanden beherbergst.«

Die Heilerin verstand sehr wohl: »Der alte Aram, wie eh und je«, lachte sie versöhnlicher. »Wann kommt er?«

»Wie immer. Zur rechten Zeit, zum Fest morgen Abend.«

Ihab gab Sindo eine Decke in die Hand: »Pass auf den Jungen auf! Aram wird nach dir schicken, wenn er hier ist.«

Damit verschwand der kräftige Mann aus der dunklen Hütte.

Die Heilerin kniete sich auf den Boden und betrachtete Nawid eingehend. Ächzend erhob sie sich und kramte eine verstaubte Flasche aus dem Gestell hervor. Mit unerwartet ruhigen Händen goss sie ein paar Tropfen in einen Becher, den sie mit Wasser auffüllte und Sindo hinstreckte.

»Hier, trink das.«

»Aber ich bin nicht …«

Ihr Blick verbot jede weitere Widerrede. Er schielte zu ihr hinüber, als er den Becher ansetzte um ihn gleich wieder sinken zu lassen.

»Bei Allah, er wird erst gesund, wenn du gesund bist«, sagte sie ungeduldig, »jetzt trink!«

Verdattert trank Sindo und merkte erst jetzt, wie durstig er war.

»Ja, trink mehr«, sagte sie knapp, während sie eine kleine Medikamentendose mit dem roten Halbmond auf der Etikette vom Gestell nahm. Erneut kniete sie zu Nawid nieder und streckte die Hand erwartungsvoll nach hinten aus. Sindo reichte ihr den gefüllten Becher. Hamida murmelte unverständlich und flößte dem Jungen das versetzte Wasser und die Pillen ein.

»Jetzt schlaft, ihr müsst zu Kräften kommen«, befahl sie unwirsch in den Raum hinein und blies die Lampe aus. Ohne sich umzusehen, verließ sie die Hütte, um nicht eher wieder zu kommen, bis die beiden Fremden weg wären. So hielt sie es immer, wenn sie Unbekannte behandeln musste. Und von diesen hatte sie schon viele behandelt: Engländer, Russen, Chinesen, Franzosen, Inder, Pakistani, Deutsche, Alliierte, Taliban, Paschtu …


Sindo wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Blinzelnd rieb er sich die Augen und stand auf. Seine Glieder schmerzten und er fühlte sich keineswegs erholt. Durch das kleine Fenster sah er die Sonne, die ihrem Untergang entgegen wanderte.

Nawid schlief neben der Feuerstelle. Sein Atem war ruhig und regelmäßig.

Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, trat Sindo vor die Hütte. Die Vorbereitungen für das Fest am anderen Ende des Dorfes waren nicht zu überhören. Es war höchste Zeit, Amar zu suchen. Respektive seine Ziegenherde. Oder eigentlich Onkel Borak, der sicher schon ungeduldig war. Nicht wegen den Ziegen, diese bildeten nur ein kleines Nebengeschäft. Hauptsächlich verdiente der Onkel sein Geld mit Yak-Zuchttieren und Pferdefohlen.

Zunächst jedoch verspürte er einen Bärenhunger. Aber ohne Geld aus der Tasche des Onkels war es unmöglich, während dem Fest etwas Essbares zu kriegen. Er blickte nochmals in die Hütte, wo Nawid unverändert dalag. Er schloss die Türe hinter sich und durchquerte das Dorf. Die Gassen und Straßen zwischen den Häusern quollen von Leben über. Doch das war nichts im Vergleich zum außerhalb liegenden Gelände, das für den Markt reserviert war. Obwohl der Handel erst am kommenden Tag mit dem Fadschr, dem Morgengebet, beginnen würde. Die schönsten Tiere standen zur Schau, zwischen stolzen Bauern, wohlbetuchten Händlern, verhüllten Frauen, schreienden Verkäufern, schaulustigem Gesinde, spielenden Kindern, beobachtenden Alten, lachenden Hirten …

Der Bursche genoss das Bad in der Menschenmenge. Alle Strapazen des Frühjahreszuges, vor allem die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden, schienen wie weggeblasen. Und die eigentliche Herausforderung trat in den Vordergrund: Laleh. Er musste sich dringend etwas einfallen lassen. Aber mit leerem Magen ließ sich nicht klar denken und ohne Geld war nichts zu machen.

Wie gerufen trat ihm in diesem Augenblick Ali in die Quere. Der kleingewachsene junge Mann musterte seinen schmutzigen Cousin abschätzig.

»Ich hoffe, die Ziegen machen einen besseren Eindruck als du – sonst …«

Den Hohn geflissentlich überhörend, erwiderte Sindo: »As-salāmu ʿalaikum, Ali-Haidar, ältester Sohn Borak Abidis. Ich hoffe, ihr macht gute Geschäfte dieses Jahr.«

»Das überlass nur uns, Dreckskerl.«

Er war es gewohnt, von seinem Cousin beleidigt zu werden. Und er hatte es sich angewöhnt, nicht mehr darauf einzugehen. Ganz gleich, was geschah, am Ende musste immer er für den Zank büßen.

»Wieso bist du nicht bei den Viechern, wo du hingehörst? Wo sind sie überhaupt?«

»Wo ist Onkel – «

Sindo verschlug es die Sprache, als er über Alis Schultern den Soldaten mit der großen Hakennase vom Abstellplatz, Jamal, erkannte. Seine Hände begannen unwillkürlich zu zittern. Die Blicke von Sindo und Jamal kreuzten sich für den Bruchteil einer Sekunde. Sogleich wandte sich Sindo von Ali ab und bahnte sich hektisch einen Weg durch die Menge. Mörder! Panik überkam ihn und er begann zu laufen.

Ali zeterte ihm nach. Der war im Moment das kleinste Übel.

Aber die Aufmerksamkeit von Jamal war damit endgültig geweckt. Seinem Instinkt folgend, setzte der Soldat dem weglaufenden Jugendlichen nach. Es gab hundert Erklärungen dafür, wieso zwei Männer an einem Fest wie diesem streitend aneinandergerieten. Aber er konnte die Angst des Flüchtenden förmlich riechen. Sie hinterließen in der dichten Masse eine Spur von angerempelten Menschen, ähnlich einem Schiff, das eine Spur aufgewühlten Seewassers hinter sich herzog. Bis sich der Milizionär eines Besseren besann und stehen blieb. Für den Moment genügte es, wenn er wusste, wohin sich der Bursche wenden würde. Dann konnten sie ihn immer noch schnappen und ausquetschen.

Am anderen Ende des Dorfes angekommen, drehte sich Sindo um. Er hatte den Verfolger abgeschüttelt. Nach einer Verschnaufpause ging er so ruhig er konnte zur der Hütte. Immer wieder blickte er zurück, aber der Soldat mit der Hakennase war nicht mehr auszumachen. Er musste darauf hoffen, dass ihm Aram helfen würde.

Die verlorene Legende Afghanistans

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