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Menschenblut 17 00 Uhr

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Sindo und Nawid waren noch keine zwanzig Minuten hochgestiegen, als sie die schweren Fahrzeuge unten im Tal hörten. Sie kommen! Und weiter hetzten sie. Der Ältere hastig und nervös, der Jüngere außer Atem und wie in Trance.

Die ersten Ziegen, die ihren Weg kreuzten, beruhigten den Hirten spürbar. Die Leitziege trottete den beiden nichtsahnend hinterher, gefolgt vom Rest der Herde. Wenn wir es nur bis zum Unterschlupf schaffen, bevor uns die Soldaten sehen können, betete Sindo vor sich hin, sonst ist es vorbei.

Schweigend sputeten sie sich eine weitere halbe Stunde bergaufwärts. Dann hörten sie die Hubschrauber. Einer flog hoch über sie hinweg.

Gegen die Amerikaner haben wir keine Chance.

Der felsige Unterstand war zum Greifen nahe. Aber was nutzte es, sich in einem Hirtenunterschlupf zu verstecken, mit einer ganzen Armee auf den Fersen? Sindo verließ aller Mut und er blieb stehen.

»Sind das deine Ziegen«, fragte Nawid, nachdem er Sindo eingeholt hatte, in einer komischen Mischung aus Atemlosigkeit und Unbeteiligtsein?

Sindo sah ihn irritiert an: »Ja – ähm, nein …« Aber sie verraten uns, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Siehst du den Felsspalt da oben? Dort können wir uns verstecken.«

Sie erreichten die Höhle, als der Lärm der Maschinen immer lauter wurde.

»Geh hinein und verkriech dich so weit nach hinten, wie du kannst!«

»Und du?«

»Ich werde zu den Ziegen schauen«, antwortete Sindo resigniert, was soll ich sonst tun?

»Ich bleibe bei dir«. Langsam fanden die Worte zu Nawid zurück.

»Besser du gehst rein, wer weiß, was alles noch passiert.« Auch wenn ihm das Herz in die Hosen rutschte, versuchte er, so gut es ging, hoffnungsvoll zu wirken. In seiner Verzweiflung wurde ihm jedoch klar, was zu tun war. Er musste die Verfolger von der Höhle weglocken. »Geh! Ich werde sie ablenken.«

Ohne sich nochmals umzublicken, sprang er den Hang hinauf. Er rief die Leitziege, welche jedoch unbeirrt stehen blieb. Schließlich war ihr Nachtquartier im Steingehege neben dem Unterschlupf und die Sonne hatte die nach Osten ausgerichteten Hänge bereits im Stich gelassen. Nawids unbeholfener Versuch, das Tier wegzuscheuchen, beförderte nur dessen Starrsinn.

»Verschwind jetzt!«, rief Sindo über die Schultern zurück.

Er war noch keine hundert Meter weiter oben, als die Hubscharuber Springböcken gleich über die kleine Kuppe vor dem Schlupfwinkel auftauchten. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die voll ausgerüsteten Infanteristen sprangen in unmittelbarer Nähe von Sindo aus den schwebenden Maschinen.

Der Hirte drehte sich zu ihnen um und hob zitternd die Hände über den Kopf. Seine Haare standen waagrecht nach hinten und er beugte sich gegen den Wind vor. Nur keine falsche Bewegung, sonst geht es mir wie Mishal.

Innert Sekunden legten die Amerikaner den Afghanen flach auf den Boden. Bevor die Hubschrauber aufstiegen waren, um in Stellung zu gehen, hatten die Soldaten ihn nach Waffen durchsucht und den Dolch sichergestellt. Zwei fassten ihn darauf an den Oberarmen und stellten ihn auf die Füße. Generalmajor DeWitt trat mit dem noch blutigen Dolch in der Hand vor den jungen Mann.

Sindo starrte darauf. Er hatte keine Zeit gefunden, das Blut abzuwischen.

»Ich bin Generalmajor DeWitt und Befehlshaber der amerikanischen Truppen hier. Was ist vorgefallen?«

Zur Überraschung des Burschen sprach der Offizier Darī. Sindo antwortete nicht.

»Wie heißt du?«

Nur nichts Falsches machen. »Sindo-Kalil Abidi – aus Bakhtingan«, sagte er, ohne aufzublicken.

DeWitt schwieg und schaute ihn ernst an. Schließlich wiederholte er: »Was ist vorgefallen?«

»Ich weiß nicht«, wich Sindo aus.

»Wo ist der andere?«

Sindo hob die Schulter, ohne den Amerikaner anzusehen. Nur keinen falschen Blick …

DeWitt spürte dessen Angst, oder war sie nur gespielt? Er musste auf der Hut sein. »Wo ist der andere?«, sagte er mit Nachdruck.

»Wer – «

»Keine Lüge!«

Ohne den Blick vom jungen Afghanen abzuwenden, gab er den anderen Handzeichen, worauf sich zwei Vierergruppen zerstreuten. Besorgt schielte Sindo in Richtung der Felsspalte, neben der die Ziegenherde um das Gehege drängte. DeWitt hatte die Reaktion erwartet und wies die beiden Gruppen entsprechend über Funk an, den Spalt zu sichern.

»Vorsichtig!«, befahl er, während er sich selber in Richtung des Felsens bewegte.

Die GIs näherten sich von der Seite, so dass sie selber nicht zur Zielscheibe werden konnten. Den Tieren wurde das nun doch zu viel. Der Leitziege folgend, begannen sie, sich gemächlich dem kargen Grünzeug entlang talaufwärts zu fressen.

DeWitt stieg gegen den Spalt hinab, zwei Soldaten schleppten Sindo hinterher. Aus der nahen Deckung heraus und so, dass es Sindo begriff, befahl er Bereitschaft, die Kluft mit einer Handgranate zu säubern und zu stürmen.

»Was ist vorgefallen? Ich frage nicht noch einmal.«

Sindo überlegte, ob er nicht doch alles abstreiten sollte. Nur nichts Falsches sagen.

DeWitt hob die Hand. Er war sich nicht sicher, ob der Afghane einlenken würde.

»Nein …«, flüsterte Sindo schließlich. Zitternd sah er den Amerikaner an. Für das, was er getan hatte, musste er alleine geradestehen.

DeWitt zog seine Sonnenbrille ab. Der Jugendliche besaß ausgesprochen feine Gesichtszüge mit dunklen Mongolenaugen. Ein Turkmene? Ein Hazāra? Schwer zu sagen. Er ließ seinen Arm sinken, für ethnologische Studien blieb keine Zeit.

»… es ist ein Junge, sein Vater wurde unten von den Soldaten getötet.«

Der Offizier besaß genügend Menschenkenntnis, um die Wahrheit im Ausdruck seines Gegenübers zu erkennen. Doch da war noch mehr. Und er besaß auch genügend Erfahrung, um die Heimtücke zu kennen, mit der hier gelogen wurde. Also fragte er knapp: »Und?«

»Der Soldat wollte ihn schänden und – ich habe ihn … getötet!« Eine Träne quoll hervor. Sindo war sich nicht im Klaren, ob um dessentwillen, was er getan hatte oder um dessentwillen, was mit ihm geschehen würde. Auf keinen Fall aber wollte er vor dem Amerikaner als Schwächling dastehen, also senkte er sein Haupt.

Der Offizier gab seinen Leuten einige Befehle in Englisch und schritt näher zur Höhle, ständig darauf bedacht, in Deckung zu bleiben. Auf sein Zeichen hin rückten die GIs mit Sindo nach. Neben dem Spalt stehend, befahl er ihm: »Ruf den Jungen!«

»Nawid, komm heraus«, rief Sindo zögerlich.

Keine Antwort.

Dann bestimmter: »Du musst herauskommen …!«

Aber nichts rührte sich.

Vom Tal herauf näherten sich die ersten Milizsoldaten.

Burhān würde die beiden Afghanen töten, eine entsprechende Situation zu provozieren, dürfte ihm nicht schwer fallen. Das galt es unbedingt zu vermeiden; weniger wegen möglicher weiterer Opfer als aus strategischen Überlegungen. Schließlich durften sie sich nicht beliebig ins Bockshorn jagen lassen. Sonst waren dieser Krieg und damit ihr Auftrag nicht wie geplant schon bald zu Ende. Und er würde noch weitere Jahre seines Lebens am Hindukusch verbringen müssen.

»Ich werde hineingehen«, sagte DeWitt kurz entschlossen zu Colonel McColin, »halten Sie die anrückenden Milizen im Auge!«

»Sir, Sie können da nicht reingehen«, erwiderte der Offizier. Nach kurzem Zögern fügte er an: »Ich werde ihn herausholen.«

»Und was willst du ihm sagen?«

»Meine Sprache verstehen alle, das Reden überlasse ich dir, aber nicht alleine, in einer Höhle, von der wir nicht wissen, was oder wer sich darin versteckt!«

McColin hatte Recht, aber der Generalmajor war darauf bedacht, die Situation zu deeskalieren, und zwar schnell. Zu ihm gebeugt flüsterte er: »George, ich möchte den Jungen nicht vor der Miliz exponieren, unter meinen Augen lasse ich kein weiteres Massaker zu!«

»Ich verstehe«, quittierte der Colonel und gab entsprechende Anweisungen.

DeWitt zog Waffe und Taschenlampe hervor und schlüpfte durch den schmalen Felsspalt. Dahinter öffnete sich eine unerwartet geräumige Höhle. Neben einer Feuerstelle sah er eine ausgebreitete Wolldecke und ein Bündel liegen. Es roch nach kaltem Rauch. Der Ort schien als Unterschlupf genutzt zu werden, nur von den Hirten?

Auf den ersten Blick konnte der Amerikaner keine Gefahr ausmachen. Niemand war zu sehen oder zu hören. Im hinteren Teil verengte sich die Höhle ähnlich wie beim Eingang. Vorsichtig durchquerte er die Kluft und zündete mit der Lampe in den Spalt. Das Weiß zweier Augen leuchtete im Lichtkegel auf. Es ließ ihn nicht los.

»Komm mit erhobenen Händen hervor!« Der Amerikaner zielte unablässig mit der Waffe in Richtung des Augenpaares. »Ich tue dir nichts.«

Nawid konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen. Die Pistole wirkte bedrohlich, die Worte nicht. Was war zu tun? Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, trat er schließlich einen kleinen Schritt vor und hob die Arme. Nachdem nichts passierte, einen weiteren, und noch einen. Bis er fast in der Mitte des Unterschlupfs stand.

DeWitt hielt ihn scharf im Visier, als er um ihn herumging, um den hinteren Teil zu inspizieren. Die Kaverne war dort fertig, niemand versteckte sich mehr. Er musterte das eingetrocknete Blut auf Nawids Gewand. Er ist nicht verletzt, wie sonst könnte er so da stehen. Als er wieder vor dem Jungen stand, senkte er die Waffe.

»Ich bin Generalmajor DeWitt und Befehlshaber der amerikanischen Truppen. War das auf dem Parkplatz dein Vater?« Er brauchte die Antwort nicht abzuwarten, der Blick des Knaben verriet es. »Weshalb wurde er getötet?«

Nawids Augen wurden wässrig: »Ich …«

»Noch zweihundert Meter, Sir«, rief der Colonel in die Höhle.

Sie mussten jetzt gehen. »Wenn du willst, nehmen wir dich mit und bringen dich nach Hause?«

Der Junge stand bewegungslos mit erhobenen Händen da. Beim Gedanken an seine Mutter begann er zu schluchzen.

»Sir?«

»Komm!« Der Generalmajor wollte den Jungen packen. Der jedoch wich erschrocken einen Schritt zurück.

»Sir!«

»Willst du hierbleiben?«

Nawid glitt zurück in das Dunkel der Höhle.

»Okay, dann …« Ist auch besser – wenn Burhān den Knaben nicht zu Gesicht bekommt. DeWitt trat rückwärts durch den engen Felsspalt ins Freie.

»Und?«, wollte McColin wissen.

»Wir gehen den Milizen entgegen und werden sie mit dem Konvoi wie geplant nach Mazār-i šarīf geleiten. Die Hubschrauber sollen auf dem Parkplatz warten. Kein Wort von den Jungen«, befahl er den nahe stehenden Soldaten.

Zu Sindo sagte er: »Du bleibst hier und passt auf den Knaben auf – versteck dich da oben und lass dich nicht blicken – und dann verschwindet von hier!«

Der Hirte machte sich schleunigst davon.

Nawid bereute seine Entscheidung, kaum hatte der Amerikaner den Unterschlupf verlassen. Was, wenn die anderen Männer zurückkommen? Schließlich ging er zum Ausgang. Aber es war niemand mehr da. Auch nicht die Ziegen oder Sindo. Einzig die Milizsoldaten sah er keine hundert Meter weiter unten um eine Ecke biegen. Erneut von Panik ergriffen, schlüpfte er in die Höhle zurück.

Gleich ist es vorbei, sie werden kommen und mich töten!

Sein Atem ging schwer. Er zwängte sich so weit wie möglich in die hinterste Felskluft. Schweiß trat ihm auf die Stirn und er begann unkontrolliert zu schlottern. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag verlor er die Kontrolle über seine Gedanken und seinen Körper. Langsam begann seine Welt zu verblassen, ohne dass ihm schwarz vor Augen geworden wäre. Ohne Zeitgefühl harrte er aus, gebannt wie die Maus vor der Schlange, bis ihn ein Schuss aufschreckte.

Die Soldaten sind zurück und haben Sindo getötet.

Dann fiel ein zweiter Schuss. Galt er ihm, war er jetzt tot?

Aber es war noch nicht fertig, es fiel ein weiterer Schuss, und noch einer, immer mehr, ohne Ende. Mit jedem Schuss sah Nawid seinen Vater aufs Neue sterben. Die Macht der Vorstellung drückte den Jungen fester und fester in die Nische. Er hatte keine Ahnung, wann der Horror endlich aufhörte und er rücklings in ein abgrundtiefes Loch zu stürzen begann.

Etwas unterhalb des Unterschlupfes traf DeWitt auf Burhān und seine Milizionäre. Er war auf alles gefasst. Der Colonel bildete die Nachhut und dirigierte seine GIs in taktisch günstige Positionen, ohne dass es die anderen bemerkten.

»Hier ist nichts, keine hinterhältigen Taliban! Der Ziegenhirte hat Schüsse von der Straße her gehört, aber keine Kämpfer gesehen.«

»Das soll ich glauben?«, keuchte Burhān keck.

»Glaub, was du willst«, erwidertet der Amerikaner scharf, »wir leben noch, sind nicht angegriffen worden und haben unsere Befehle auszuführen. Anweisungen von deinem General notabene, die Gefangenen sicher nach Mazār-i šarīf zu eskortieren – und nicht Babysitter für deine eigenen Leute spielen. Ist das klar?!«

Der afghanische Offizier lief puterrot an.

»Sind wir uns einig?«, sagte DeWitt nachdrücklich.

»Ja«, presste der Paschtune zornig hervor und machte auf dem Absatz kehrt. Nicht ohne zuvor den Bergkamm genau zu mustern. Guckte da nicht jemand hinter einem Felsen hervor? Der Ziegenhirte? Während dem Abstieg dachte er schnaubend an die Mörder seines ihm treu ergebenen Leibwächters. Ich werde diesen Bengel und seine Helfer erledigen – so wahr mir Allah helfe – sobald der räudige Wachhund wieder in seinem klimatisierten Stall in Mazār sitzt. Als sie die zerstreute Herde erreichten, zog er seine Pistole und tötete zwei Ziegen. Das austretende Blut vergrößerte seine Wut nur noch mehr. Vor seinen Augen sah er das Menschenblut fließen, nach dem ihm dürstete.

Burhāns Gebaren und Grinsen waren für den nachfolgenden Generalmajor ein offenes Buch: Der Milizionär würde zurückkehren und Rache nehmen.

Von oben herab beobachtete Sindo den Abzug der Soldaten. Sobald sie außer Sicht waren, machte er sich zur Höhle auf. Dann fielen die beiden Schüsse. Erschrocken ging der Hirte in Deckung. Als sich nach einiger Zeit nichts regte, beschloss er, bis zur Kuppe hinabzuschleichen. Er musste sicher sein, dass die Männer weg waren, bevor er mit Nawid weggehen konnte. Und den Ziegen!

Von der Kuppe herab konnte er sehen, wie sie zur Straße hinabstiegen, die inzwischen selber im Schatten lag. Mit scharfen Augen sah er auch, dass zwei Soldaten der Allianz etwas auf den Schultern trugen. Ziegen? Meine Ziegen?, ging es ihm durch den Kopf.

Nullkommanichts war alles vergessen.

Sie haben mir zwei Ziegen geschossen – Lumpenpack! Das habe ich nun davon. Er war drauf und dran hinabzustürmen, als er in den Bergflanken über ihm die anderen Tiere ausmachte, welche dorthin geflüchtet waren. Hoch über den Felskanten sah er einen Steinadler im letzten Licht der Sonne davonfliegen. Der Verlust von zwei Ziegen würde ihn mehr als seinen Verdienst kosten. Fluchend kletterte er die steilen Geröllhalden hoch, um das Leittier zu holen.

Je anstrengender der Aufstieg, desto ruhiger wurde er – immerhin hatte er einen Jungen gerettet, ohne dafür selber getötet zu werden. Hätte er nicht zuerst zum Jungen gehen sollen? Sindo langte sich an den Kopf. Der Siebzehnjährige war nicht gewohnt, so viele Entscheidungen auf einmal zu treffen. Und dieser Krieg machte alles nur noch schwieriger. Und er hatte heute zum ersten Mal getötet …

Beim Abstellplatz angekommen, luden die Amerikaner die beiden Leichen in die Hubschrauber. Jamal, der noch immer neben dem Renault stand, blutete heftig aus der unterdessen krumm hervorstehenden Nase und einer großen Platzwunde am Hinterkopf. Es war das letzte Mal, dass ihn DeWitt sah. In der beginnenden Dämmerung kehrten die beiden Hubschrauber mit ihrer Besatzung in die Basis zurück. Die Berge bereiteten sich endgültig auf die kommende Nacht vor.

Die verlorene Legende Afghanistans

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