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Das Prinzip der „vollkommenen Ausstattung“
ОглавлениеDas buddhistische Prinzip der „vollkommenen Ausstattung“ stellt sicher, dass die fundamentale Ordnung, zu der wir erwachen, nicht partiell oder befangen ist, sondern allumfassend und nicht nur alle Menschen betrifft, sondern die Natur und das ganze Universum. Es bezieht sich auf die Universalität und die dem Leben zugrunde liegende Harmonie, und zwar in einer Dimension, die vollkommen anders ist als die von Wissenschaft oder Verstand. Letztere sind abstrakte Begriffe; abgeschlossen, unpersönlich und strukturiert. In ihrem eigenen Bereich haben sie die gewaltige Macht, unsere Lebensweise mit unglaublicher Geschwindigkeit umzustülpen. Nachdem wir aber die Tragödien des 20. Jahrhunderts mit ihren Millionen von Toten erlebt haben, können wir nicht länger hoffnungsfreudig bleiben, was den ungeprüften Einsatz von Wissenschaft und Verstand angeht.
Nach buddhistischem Denken ist Universalität eine symbiotische Ordnung, worin Menschheit, Natur und der Kosmos koexistieren, worin Mikrokosmos und Makrokosmos zu einer einzigen lebendigen Einheit verwoben sind. Im Buddhismus wird die Idee der Symbiose durch die Vorstellung des „bedingten Entstehens“ (jap. Engi) ausgedrückt. Gleichgültig, ob es sich um eine menschliche Gesellschaft oder das Reich der Natur handelt: Nichts existiert für sich, alle Phänomene unterstützen einander, sind wechselseitig miteinander verbunden und bilden einen lebendigen Kosmos. Hat man dies einmal begriffen, dann kann man die angemessene Rolle des Verstandes festlegen.
Nach dieser Sichtweise ist Lewins Sensibilität einzigartig. Im Grase auf dem Rücken liegend und den wolkenlosen Himmel betrachtend, denkt Lewin:
„Weiß ich denn nicht, dass dieser Himmel ein unendlicher Raum und kein begrenztes kreisrundes Gewölbe ist? Aber ich kann meine Augen zusammenkneifen und meine Sehkraft bis zum äußersten anstrengen – immer wird mir der Himmel rund und begrenzt erscheinen, und trotz meines Wissens um den endlosen Raum habe ich doch unbestreitbar Recht, wenn ich ein fest umrissenes blaues Gewölbe sehe, ja noch mehr Recht, als wenn ich alle meine Kräfte zusammennehmen und darüber hinausblicken könnte.“8
Lewin kehrt nicht zur primitiven Astronomie zurück. Er bringt durch seinen fein geschliffenen und subtilen Geist eine weitsichtige Kritik der Moderne zum Ausdruck. Lewin nimmt das Universum nicht als ein ödes Gebiet wahr, beherrscht von klarem Rationalismus. Für ihn ist es voll pulsierenden Lebens, mit all der menschlichen Wärme, die aus Freude und Trost, Liebe und Hingabe, Mitleid und Sympathie entsteht.
Tolstois Beharren auf der Universalität ist besonders relevant für die Probleme der heutigen Menschheit. Es fordert die Engstirnigkeit jedes ausgeprägten ethnischen Bewusstseins heraus, eine der Hauptursachen für Konflikte innerhalb von Nationen und zwischen diesen. Lewin gießt kaltes Wasser auf die selbstzerstörerische ethnische Leidenschaft, die den serbisch-türkischen Krieg als heroisch erscheinen ließ:
„Aber man opfert sich nicht bloß, sondern schlägt die Türken tot […]. Das Volk bringt Opfer, es ist dazu um seines Seelenheils willen bereit; aber es ist nicht bereit zu morden.“9
Ohne einen universellen Geist wie Tolstoi werden wir niemals das Heraufziehen eines neuen Zeitalters der Humanität und der Globalisierung erblicken. Der „russische Geist“, von dem Dostojewski (1821–1881) sprach, hat Anteil an dieser Universalität. Beide sind empfänglich für humanistische Ziele und beide spiegeln den Glauben wider, dass alle Menschen in Harmonie leben können und sollten. Das Streben nach wahrem Glück ist vergebens, wenn es nicht in diesem Geiste geschieht. Ich glaube, dass das Leben nur dann wahrhaft erfüllend sein kann, wenn man selbstlos für das Wohl der anderen arbeitet. Gleichzeitig kann auch der innere Frieden nur erlangt werden, wenn man sein Bewusstsein erweitert und das „geringere Selbst“ von den Fallstricken des Egoismus befreit, um das „größere Selbst“ aufzuwecken, was eins sein wird mit dem Leben des ganzen Universums.