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Sprache als Gefahr, Sachverhalte zu verdinglichen
ОглавлениеLeonardo bezeichnete sich selbst als Empiriker und strebte danach, die Wirklichkeit genau so zu sehen, wie sie ist, ohne jedes Vorurteil. Er war misstrauisch, ja sogar feindselig gegenüber der Verdinglichung durch die Sprache, wenn sie Erfahrungen zu erfassen versucht und sie als feststehend wiedergibt. Seine Betonung des Visuellen und seine Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt von Sprache zeigen Ähnlichkeiten mit Nagarjuna, dem großen Denker des Mahayana-Buddhismus aus dem 2. oder 3. Jahrhundert n. Chr.
In seiner Mittleren Lehre hinterfragte Nagarjuna die Tendenz der Sprache, unsere Erfahrungen zu verdinglichen und dem Substanz zu geben, was von seiner Natur her keine Substanz hat. Nagarjuna bezog sich auf das buddhistische Konzept des bedingten Entstehens (jap. Engi) und der Substanzlosigkeit (jap. Kū) und erklärte:
„Der Buddha lehrte, dass die Natur des bedingten Entstehens nicht ausgelöscht und nicht geschaffen wird, weder vorübergehend noch ewig besteht, nicht einzeln und nicht zusammengesetzt ist; sie kommt nicht und sie geht nicht; sie überschreitet den Hochmut der Worte und ist die letztendliche Glückseligkeit.“13
Die Eigenschaft der Sprache, Phänomene zu verdinglichen, zerstört die dynamische Synergie von Vollständigkeit und Unvollständigkeit und erschafft die Illusion, dass ein vorläufiger Zustand stabil und ewig sei. Sowohl Leonardo als auch Nagarjuna warnten, dass diese falsche Vorstellung von Stabilität oder Sicherheit eine Selbstgefälligkeit fördere, die den Weg des geringsten Widerstands sucht. Leonardos warnende Worte, dass „Ungeduld die Mutter der Torheit“ sei14, offenbaren ihre tiefgründige Wahrheit, wenn man sie in diesem Licht betrachtet. Es bringt auch die Gefahren des Radikalismus ans Licht, der dann entsteht, wenn Ideale mit Substanz verwechselt werden. Ohne die wahre Natur von beidem zu verstehen, werden dann in aller Hast Überzeugungen umgesetzt.
Der Radikalismus in Politik und Gesellschaft ist heute ein großes Problem. Radikalismus hat nichts zu suchen bei den Bemühungen, Institutionen wie die Vereinten Nationen neu zu beleben. Die gestiegenen Erwartungen speisen sich aus einem allzu großen Optimismus angesichts dessen, welche Rolle eine solche Organisation zur Lösung von Konflikten spielen kann. Dies kann sich leicht in Misstrauen verwandeln, wenn die Ereignisse auch nur ein wenig den Erwartungen zuwiderlaufen. Dann bestünde die Gefahr, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten. Um Enttäuschung zu vermeiden, sollten wir uns an Leonardos Warnung erinnern: „Ungeduld ist die Mutter aller Torheit“.
Der renommierte Schweizer Kulturhistoriker und Kenner der Renaissance Jacob Burckhardt (1818–1897) schrieb: „Der große Mann ist ein solcher, ohne welchen die Welt uns unvollständig schiene.“15 Leonardo da Vinci war ein solcher Mann, der die italienische Renaissance mit unvergänglichem Licht erfüllte. In chaotischen Übergangzeiten wie dieser brauchen wir mehr Menschen, die so erhaben und unabhängig sind wie Leonardo. Die Entwicklung einer neuen Weltordnung, in deren Mittelpunkt die Vereinten Nationen stehen, wird schließlich davon abhängen, an wie viele solcher wahren Kosmopoliten wir appellieren können, diese gewaltige Aufgabe zu vollbringen.
In der ersten Zeile der Charta der Vereinten Nationen heißt es: „Wir, die Völker der Vereinten Nationen …“ Die Völker, also die Menschen, sind am wichtigsten, wenn es darum geht, Wege für Frieden und Stabilität zu finden. Alles hängt letztendlich von den Menschen selbst ab. Daher müssen die Vereinten Nationen die aktive Unterstützung aller Bürger dieser Erde gewinnen, wenn sie zu einem „Parlament der Menschheit“ werden sollen, vor dem jede Stimme Gehör findet.
Was ist Leben? Was ist der Wert eines Menschen? Was ist das Wichtigste beim Aufbau von Freundschaften zwischen Nationen und Völkern? Wenn wir diese Fragen angehen wollen, muss ein neuer Humanismus unseren Umgang miteinander bestimmen. Ein Humanismus, der die Entwicklung von Kultur nährt und den Austausch zwischen den Kulturen vertieft, bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer einzigartigen Unterschiede. Dies ist das Ideal, das in der Magna Charta der europäischen Universitäten verkündet und von allen höheren Bildungseinrichtungen in der ganzen Welt unterzeichnet wurde.
Als Buddhist bin ich entschlossen, das Erbe Leonardos weiterzutragen. Zusammen können wir es schaffen, in eine neue Morgendämmerung der Menschheitsgeschichte einzutreten.
∗ Vortrag Daisaku Ikedas an der Universität Bologna, Italien, 1. Juni 1994.