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Leonardo und die buddhistische Philosophie
ОглавлениеLeonardos Fähigkeit, gesellschaftliche Konventionen hinter sich zu lassen, erinnert an das buddhistische Prinzip Shusseken – aus der Welt (der Begierden) heraustreten. Seken bedeutet Unterschiede. Shusseken heißt also die Unterschiede, die Unterscheidungen zwischen Gewinn und Verlust, Liebe und Hass, schön und hässlich, gut und böse zu überwinden und sich aus der Abhängigkeit von ihnen zu befreien.
Das Lotos-Sutra, die höchste Lehre des Buddhismus, spricht davon, „die Lebewesen zu leiten und sich von ihren Anhaftungen trennen lassen“.5 In einem der wichtigsten Kommentare dazu heißt es, „das Wort ‚trennen‘ sei im Sinne von ‚erkennen‘ zu lesen.“6 Es genügt also nicht, sich einfach von seinen Anhaftungen zu trennen; wir müssen sie auch klar und sorgfältig betrachten, um sie als das zu erkennen, was sie sind. Daher bedeutet „aus der Welt (der Begierden) heraustreten“ den Aufbau eines starken Selbst, das in der Lage ist, mit jeglicher Anhaftung richtig umzugehen.
Friedrich Nietzsche war ein weiterer Mensch, der die Konventionen von Gut und Böse ignorierte. Von Leonardo sagte er einst: „Leonardo kannte den Osten“ – eine Bemerkung, die meines Erachtens auf die Ähnlichkeit zwischen Leonardos Geist und der östlichen Philosophie hinweist. Das Sutra und Leonardo sind gewissermaßen wie ein rein polierter Spiegel: Beide strahlen eine Lebenseinstellung aus, die das Weltlich-Gewöhnliche übersteigen und beide können die Realität klar wiedergeben.7
Die Leonardo-Biografie des russischen Schriftstellers Mereschkowski enthält eine unvergessliche Textstelle, in der Leonardos Freiheit von jeglicher Anhaftung überzeugend Gestalt annimmt. Der Künstler beobachtet zusammen mit seinem Lieblingsschüler (Francesco Melzi) auf einer Anhöhe, wie die von seinem Herrn Ludovico Sforza geführte Armee durch die französischen Truppen geschlagen wird:
„Alles, was Du hier siehst, Francesco, war einst der Meeresboden jenes Ozeans, der den größten Teil Europas, Afrikas und Asiens bedeckte. […]
Wieder fiel sein Blick auf die Rauchwölkchen in der Ferne und das Aufblitzen der Kanonenfeuer. Sie erschienen ihm jetzt im rosigen Schein der Abendsonne, so unendlich klein, so friedlich, dass ihm der Gedanke, sie rührten von einer Schlacht, in der Menschen sich gegenseitig hinmordeten, schwerfiel. […]
Es ist doch ganz einerlei, wer den anderen besiegt. […] Vaterland, Politik, Ruhm, Krieg, Untergang der Reiche, Aufruhr der Völker, alles, was den Menschen groß und mächtig dünkt, gleicht es nicht dem im Abendrote glänzenden Wölkchen Pulverrauches inmitten der Klarheit des ganzen Weltalls?“8
Jemandem, der Selbstbeherrschung erlangt hat, kann die Realität des Krieges nur kleingeistig erscheinen. In seiner Beschreibung von Leonardos Losgelöstheit gelingt es Mereschkowski, ein Bild des „kosmischen Humanismus“ einzufangen.
Die Soka Gakkai International basiert auf den buddhistischen Lehren von Nichiren. In unserer Philosophie der menschlichen Revolution hallt Leonardos Geist der Selbstbeherrschung kräftig wider. Weil wir unsere Überzeugungen leben wollen, unterstützen wir die Vereinten Nationen und engagieren uns auf vielfältige Weise für die Förderung von Frieden und Kultur. Durch diesen Einsatz hoffen wir, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. Gleichzeitig jedoch betonen wir sehr stark die innere Transformation des Einzelnen – wir nennen dies die menschliche Revolution.
Wir nähern uns dem Ende dieses unruhigen 20. Jahrhunderts, das gerade in den letzten Jahren von tragischen ethnischen Konflikten gezeichnet war. Offensichtlich funktioniert der bisherige modus operandi mit seinem Fokus auf die äußeren Ursachen von Systemen und Ereignissen nicht wirklich zu unserem Wohl. Daher glaube ich: Wenn wir die anstehenden Probleme lösen wollen, müssen wir eher eine Haltung wie die von Leonardo kultivieren – eine Haltung, die von Selbstbeherrschung bestimmt ist.