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Kein Werk vermag mich zu ermüden

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Leonardo träumte davon, dass Menschen eines Tages wie Vögel fliegen könnten. Natürlich konnte er diesen Traum nicht verwirklichen, doch sein eigener Geist befand sich lebenslang auf einer Art Höhenflug.

Seine außergewöhnliche Energie, sein enormes Durchhaltevermögen zeigt sich in seinen Schriften: „Sie werden sich in ihrer Jugendzeit über alle Maßen anstrengen“ oder „So wie das Eisen außer Gebrauch rostet und das stillstehende Wasser verdirbt oder bei Kälte gefriert, so verkommt der Geist ohne Übung“ oder „Lieber Tod als Erschöpfung“ und „Kein Werk vermag mich zu ermüden“.9

Während Leonardo Das letzte Abendmahl schuf, arbeitete Leonardo manchmal von Sonnenaufgang bis Mitternacht, ohne etwas zu essen oder zu trinken. Dann wieder vergingen drei oder vier Tage, an denen er sich gar nicht mit dem Gemälde befasste, sondern in Gedanken versunken rastlos hin und her lief. Aber trotz seiner erstaunlichen Konzentration und seiner unermüdlichen Schaffenskraft vollendete er nur relativ wenige Werke. Die meisten seiner Bilder, obwohl sorgfältig geplant und skizziert, blieben unvollständig.

Leonardo, dieses Multi-Genie, beschäftigte sich neben der Malerei auch mit Bildhauerei, mit mechanischen Erfindungen, militärischen Waffen und dem Bauingenieurswesen. Überall zeigen sich seine erstaunliche Vielseitigkeit und sein breit angelegtes Interesse. Aber wie seine Flugmaschine, die er nie realisierte, verblieb der größte Teil seiner Arbeiten im Ideenstadium oder in der Planungsphase. Interessanterweise störte das Leonardo nicht. Offenbar waren seine unvollendeten Werke für ihn keine Misserfolge und damit auch kein Grund zur Frustration. Er war stets auf merkwürdige Weise losgelöst von seinen Projekten, oft ging er zum nächsten über, bevor er das alte zu Ende gebracht hatte.

Vielleicht war das, was für andere als unvollendet erschien, für ihn bereits vollendet. Andernfalls wäre die Diskrepanz zwischen seinem unaufhörlichen Schaffensdrang und seinen unzähligen unvollendeten Arbeiten kaum zu überbrücken. Vielleicht entsprang seine Schaffenskraft aus der Synergie von Vollständigkeit und Unvollständigkeit. Wenn das so ist, wäre die Vollständigkeit des Unvollständigen zugleich die Unvollständigkeit des Vollständigen.

Der Geist der Renaissance habe, wie beschrieben, eher das Ganze, Umfassende, Universale im Blick als das Teilstück. Zweifellos hat Leonardo seine Welt auf diese Weise wahrgenommen. Jaspers bezieht sich darauf, wenn er sagt: „Er [Leonardo] betrachtete sein Werk als ein Ganzes und vertrat, dass alle seine Einzelwerke diesem Ganzen unterzuordnen seien.“10

Gleich, ob es sich um Gemälde, Skulpturen, die Erfindung von Maschinen und Apparaten, um Architektur oder Technik handelte: Sein Schaffen war ein Prozess, in dem Leonardo die Welt des Ganzen und Allgemeingültigen unter Einsatz seines gesamten Könnens in einem Teilstück abzubilden trachtete. Das heißt, es ging ihm um das Sichtbarmachen der unsichtbaren Welt. Daher kann ein auch noch so gelungenes und vollendetes Werk doch unvollkommen sein, solange es ein Phänomen innerhalb eines Teilbereichs der Welt darstellt. Wir Menschen können aber nicht dort stehen bleiben, sondern sind dazu bestimmt, unaufhörlich weiter zu fliegen und immer wieder zur nächsten Schöpfung vorzudringen.

Die letzten Worte, die der Buddha hinterließ, lauteten: „Alle Phänomene sind vergänglich. Arbeitet ohne nachzulassen weiter an der Vervollkommnung eurer Ausübung.“ Die wesentliche Lehre des Mahayana-Buddhismus fordert: „Verstärken Sie Ihr Vertrauen Tag für Tag und Monat für Monat. Sollten Sie in Ihrer Entschlossenheit auch nur ein wenig nachlassen, werden Dämonen sich das zunutze machen.“11 An anderer Stelle heißt es: „[Solange jemand in Illusionen lebt, nennt man ihn ein gewöhnliches Wesen, doch ist er erleuchtet, nennt man ihn einen Buddha.] Dies lässt sich mit einem blinden Spiegel vergleichen, der wie ein Juwel glänzt, sobald er poliert wird. Der Geist, momentan umwölkt von Illusionen aus der angeborenen Dunkelheit, ist wie ein blinder Spiegel. Doch poliert man ihn, wird er ganz sicher zu einem klaren Spiegel, der die wahre Natur allen Daseins und das wahre Wesen der Wirklichkeit zeigt.“12 Diese Worte drücken die tiefste Wahrheit des Lebens aus.

Von der Vollständigkeit der Unvollständigkeit zur Unvollständigkeit der Vollständigkeit – die Synergie aus diesen zwei Perspektiven ist die Quelle der unendlichen Kreativität des Lebens, ist die Dynamik des Daseins.

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