Читать книгу Humanismus - Daisaku Ikeda - Страница 14
Die Tanz-Metapher
ОглавлениеDie Entfaltung des schöpferischen Lebens umfasst gemäß des Lotos-Sutra alle Bereiche des menschlichen Lebens – in Begriffen Kierkegaards die religiöse, ethische und die ästhetische Dimension. Sie kommen zueinander, um ein Ganzes, ein dynamisches kosmisches Fließen zu bilden, das wieder und wieder veredelt und geläutert wird und das Bild eines vielfarbigen Kreisels evoziert, der sich immer schneller dreht, bis sich am Ende alle Farben zu einem einzigen, atemberaubenden Schimmer vereinen. Ein kurzer Absatz fasst die Essenz des Lotos-Sutra in diese schlichten und schönen Worte: „Auch wenn ihr nicht der verehrungswürdige Mahākāshyapa seid, solltet ihr doch alle einen Tanz aufführen. Auch wenn ihr nicht Shāriputra seid, solltet ihr aufspringen und tanzen. Als Bodhisattva Hervorragender Lebenswandel aus der Erde aufstieg, geschah das nicht im Tanz?“4
Mahākāshyapa und Shāriputra, die als Personifikationen der Intelligenz gelten, gehörten zu Shakyamunis ersten Schülern. „Tanz“ ist hier die Metapher für die Freude, die sie spürten, als sie die Lehren des Lotos-Sutra vernahmen. Sie ließen die Lebensfreude aufkommen, die dann erscheint, wenn man die höchste Wirklichkeit des Universums erfasst und den höchsten Wert der Menschheit. Bodhisattva Hervorragender Lebenswandel stand an der Spitze unzähliger Bodhisattvas, und Shakyamuni rief sie aus der Erde, als er das Lotos-Sutra erklärte; diese Unzähligen, die beauftragt waren, das Gesetz nach Shakyamunis Tod zu verkünden.
„Alle führen einen Tanz auf“, „springt auf und tanzt“, „tanzend aufsteigen“ sind starke künstlerische Bilder voller buddhistischer Symbolik, die das kraftvolle Leben und die Energie jener Bodhisattvas beschreiben, die aus der Erde erscheinen. Sie drücken die lebhafte Dynamik des schöpferischen Lebens aus. Wenn ich den Begriff „Symbol“ benutze, habe ich dabei die herrliche Tradition der französischen symbolistischen Literatur im Sinn. Auch im Lotos-Sutra, das ja als Drama des individuellen Lebenszyklus gelesen werden kann, soll die Tanz-Metapher weniger ein konkretes Bild als vielmehr die Erhabenheit des schöpferischen Lebens aufscheinen lassen. Daher symbolisiert das Bild von regelrechten Wellen hervorspringender Bodhisattvas die höchste Freude bei dem zutiefst menschlichen Streben, in Harmonie zu sein mit dem fundamentalen Gesetz des Universums, und es symbolisiert die Erfüllung, gewonnen aus dem ständigen Bemühen, zur menschlichen Gesellschaft beizutragen.
Die schlichte Schönheit der Tanz-Metapher ruft uns einen Abschnitt eines Dialogs Der Tanz und die Seele (1924) von Paul Valéry (1871–1945) ins Gedächtnis. Dort greift Valéry eine Bemerkung Sokrates’ auf, nachdem er eine tanzende Frau erblickt hat.
„Während diese Entzückung und Schwingung des Lebens, während diese unübertreffliche Spannung, dieses Hingerissensein in die höchste Beweglichkeit, deren man fähig ist, die Eigenschaften und Kräfte der Flamme besitzt; und dass alles, was Schande ist, Überdruss, Nichtigkeit, und der ganze eintönige Unterhalt des Daseins sich darin aufzehrt, so dass in unseren Augen der Glanz des Göttlichen sich spiegelt, das in einer Sterblichen Platz hat.“5
Dieser Abschnitt von Valéry befindet sich in einem gänzlich anderen Genre als das buddhistische Sutra. Dennoch benutzen beide die Tanz-Metapher als Möglichkeit, eine derart unaussprechliche Reinheit der Bewegung in Worte zu fassen und somit ein Bild von der göttlichen Natur der Kunst zu liefern.