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Verbindende Kraft

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Kunst ist der unzähmbare Ausdruck menschlicher Spiritualität. Das ist heute so, und so war es schon immer. In jede der Myriaden von Gestalten, die Kunst annimmt, ist das Symbol der höchsten und letzten Realität eingeprägt. Das Erschaffen eines Kunstwerks findet innerhalb bestimmter räumlicher Grenzen statt. Doch durch den Schöpfungsprozess sucht sich die Seele des Künstlers mit der höchsten Realität zu vereinen, die man als das kosmische Leben bezeichnen könnte. Das Leben selbst ist ein lebendiges Kunstwerk, geboren aus der dynamischen Verbindung des Selbst (dem Mikrokosmos) mit dem Universum (dem Makrokosmos).

Kunst ist für den Geist das, was Brot für den Körper ist. Durch Kunst gelangen wir zur Einheit mit dem Transzendenten, atmen dessen Rhythmus und nehmen die Energie auf, die wir zur spirituellen Erneuerung brauchen. Kunst dient auch dazu, das innere Wesen zu reinigen und den geistigen Aufbruch zu bewirken, der von Aristoteles als Katharsis bezeichnet wird. Was aber ist diese Eigenschaft der Kunst, die bewirkt, dass sie eine so grundlegende und noch andauernde Rolle im Leben der Menschen einnimmt? Ich glaube, es ist ihre Fähigkeit zur Integration; ihre Fähigkeit, die Ganzheit aller Dinge zu enthüllen. In einer frühen Szene im Faust lässt Goethe den Faust verzückt ausrufen, „wie alles sich zum Ganzen webt,/Eins in dem andern wirkt und lebt!“ (Zeile 447, 448). Wenn wir uns diese wunderbare Feststellung aneignen, dass alles Lebendige miteinander verbunden ist, dann wird Kunst zum elementaren Mittel, durch welches die Menschen ihre Verbundenheit mit anderen Menschen entdecken – und die Menschheit ihre Verbundenheit mit der Natur und mit dem Universum.

Sei es nun Dichtung, Malerei oder Musik: Jedes Juwel wahrhaft künstlerischen Ausdrucks kann in uns einen unbeschreiblichen Impuls auslösen, der uns rasch durch den Lichthimmel trägt; er lässt uns diese Erfahrung mit anderen teilen, wobei sich dessen Wirklichkeit nochmals bekräftigt. Diese Kraft der Kunst zu integrieren – sie wirkt in den Menschen, indem sie dem Endlichen den Weg zur Unendlichkeit öffnet und der Besonderheit einer bestimmten Erfahrung die universelle Bedeutung zukommen lässt. Immer schon hat Religion durch Kunst es vermocht, die Einheit mit dem Universum herzustellen, wie wir an der Verflechtung von Kunst und religiösem Ritus im antiken Drama erkennen können. Die englische Schriftstellerin Jane E. Harrison schreibt, dass es „ursprünglich derselbe Impuls“ war, der die Menschen „in die Kirche und ins Theater“ brachte.1

Laut einer Anekdote, die ich einst hörte, verspürte ein japanischer Autor diesen Impuls, als er vor Jahren eine Reise nach Europa unternahm. Bei einem Besuch im Louvre wurde er, nachdem er eine ganze Reihe von Meisterwerken der westlichen Kunst betrachtet hatte, nach seinen Eindrücken befragt. Seine unmittelbare Beobachtung war: „Alles ist so christlich!“ Eine solche Reaktion, mag sie auch übertrieben sein, enthüllt dennoch die ehrliche Überraschung darüber, wie gründlich die Kunst des Westens vom Christentum genährt wurde. Die Feststellung, wie „christlich“ doch die Kunst schien, war vielleicht die Art und Weise, auf die der asiatische Besucher, mitten in die westliche Kunst versetzt, diese Begegnung mit der höchsten Wirklichkeit, die er an jenem Ort spürte, in Worte zu fassen versuchte. Die Kathedralen in Paris und Chartres, diese architektonische Zusammenfassung der Weltsicht des mittelalterlichen Christentums – sie verkörpern die Ehrfurcht gebietende Fähigkeit der Kunst, die Wirklichkeit der Welt in die höchste Wirklichkeit zu integrieren. Und in der Verschmelzung dieser beiden Sphären begaben sich die Menschen auf eine leidenschaftliche Suche nach einem erfüllenden Leben.

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