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Kosmischer Humanismus
ОглавлениеFünf Jahrzehnte sind vergangen, seit der Präsident der Vereinigten Staaten, Franklin D. Roosevelt, maßgeblich an der Gründung der Vereinten Nationen mitwirkte. Er hatte sich das Vermächtnis Thomas W. Wilsons2, einer seiner Amtsvorgänger und Schlüsselfigur in der Errichtung des Völkerbunds, zu eigen gemacht. Roosevelt besaß wie Wilson eine idealistische, globale und humanitäre Vision, die den Gründungsgeist dieser neuen Weltorganisation bestimmte und schließlich zu ihrer entscheidenden Antriebskraft wurde.
Roosevelt konnte den sowjetischen Staatsführer Josef Stalin und den englischen Premier Winston Churchill schließlich von der Notwendigkeit globaler Sicherheit überzeugen. Roosevelt strebte nach einem Humanismus im breitesten Maßstab. Einige Historiker belächelten dies als „kosmischen Humanismus“. Gewiss, viele wichtige Funktionen der UNO waren während des Kalten Kriegs buchstäblich außer Kraft gesetzt. Heute jedoch drängen Menschen auf der ganzen Welt darauf, die UNO solle zu ihrem Gründungsgedanken zurückkehren und nochmals die Verwirklichung von allumfassender Sicherheit und Weltfrieden anstreben. Angesichts dieses Bedürfnisses erscheint ein Humanismus von kosmischem Ausmaß nicht mehr als reiner Idealismus.
Als ich über diese Fragen nachdachte, erinnerte ich mich an den großen Künstler der Renaissance, Leonardo da Vinci. Der Brückenschlag zwischen ihm und den Vereinten Nationen mag zuerst etwas überspannt scheinen. Doch Leonardo scheint auf seinem Lebensweg, der sich durch innere Gelassenheit und Unabhängigkeit auszeichnet, alle weltlichen Konventionen seiner Zeit hinsichtlich dessen, was gut oder böse ausmacht, überwunden zu haben. Die Vereinten Nationen hingegen bleiben, so wie sie gerade beschaffen sind, im endlosen Gezerre sich widerstreitender nationaler Interessen verstrickt.
Doch ich denke, wir müssen die langfristige und die kurzfristige Perspektive im Auge behalten. Karl Jaspers schrieb einmal: „Leonardo und Michelangelo sind zwei Welten, zwischen denen es kaum Berührungspunkte gibt: Leonardo ein Kosmopolit, Michelangelo ein Patriot.“3 Diese Beobachtung zeigt die Dimension von Leonardos Sichtweise – und sie hat einen Bezug zu den Vereinten Nationen. Sie legt nahe, dass kein Zeitalter vor uns die Sichtweise Leonardos so nötig hatte wie das unsrige.
Eine Lektion, die wir von Leonardo lernen sollten, ist die Wichtigkeit der Selbstbeherrschung. Er war ein völlig freies und unabhängiges Individuum; nicht nur frei von den Zwängen der Religion und der gesellschaftlichen Wertvorstellungen, sondern auch von Bindungen an Nation, Familie, Freunde und Bekannte. Er war ein echter Weltbürger, uneinnehmbar, unübertroffen.
Leonardo wurde als uneheliches Kind geboren und er blieb selbst sein ganzes Leben lang unverheiratet. Man weiß nur wenig über seine familiären Verhältnisse. Seine Verbundenheit zum Ort seiner Geburt, der Republik Florenz, war eher schwach ausgeprägt.
Ohne zu zögern, siedelte er nach seiner Lehrzeit in Florenz nach Mailand über, wo er fast 17 Jahre unter dem Patronat von Herzog Ludovico Sforza arbeitete. Nach dessen Fall stand Leonardo für kurze Zeit in den Diensten von Cesare Borgia, dem mächtigen Herzog der Romagna. Später führten ihn seine Projekte und Interessen nach Florenz, Rom und Mailand. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er auf Einladung von Franz I in Frankreich, wo er auch verstarb.
Leonardo war bei alledem kein gefühlloser Mensch, noch fehlte ihm die Moral; sein Leben war vielmehr durchdrungen von der Würde eines Nonkonformisten, der klar und konzentriert seiner Berufung folgte.
Wie auch immer seine Lebensbedingungen waren oder mit welchen Projekten er sich beschäftigte: Leonardo zeigte wenig Interesse an haarspalterischen Diskussionen über Themen wie Vaterlandsliebe, Feind oder Freund, gut oder böse, schön oder hässlich, Gewinn und Verlust. Er strebte vielmehr nach einem Lebenszustand, der es ihm erlaubte, die Dinge aus einer gewissen Distanz zu betrachten. Ruhm oder Reichtum lockten ihn nicht, doch auch der Obrigkeit widersetzte er sich nicht. Seine kompromisslose einzigartige Widmung galt den eigenen Interessen, seinen vielfältigen Forschungen. Dabei berührten ihn weltliche Verhaltensnormen nicht im Geringsten.
Leonardo malte die geheimnisvoll lächelnde Mona Lisa ebenso wie die erbittert kämpfenden Soldaten der Schlacht von Anghiari. Derselbe Leonardo, der sich der Hydrodynamik widmete, untersuchte die Physiologie von Pflanzen, analysierte den Vogelflug und zeigte auch großes Interesse an der menschlichen Anatomie.
Unabhängig von dem, was über Leonardo gesagt wird: Sein Genie war viel zu gewaltig, als dass man es an gesellschaftlichen Normen messen sollte. Die innere Freiheit, mit der er sich über weltliche Belange erhob, bietet uns einen Einblick in das Wesen eines wahrhaft befreiten Weltbürgers. Leonardos Leben offenbart die einzigartige Freiheit und Kraft der italienischen Renaissance.
Wie konnte Leonardo eine solche Freiheit erlangen? Offenbar durch die Beherrschung seines Selbst. So schrieb er: „Du kannst weder eine größere noch eine geringere Herrschaft besitzen als die über dich selbst.“4 Dies war sein erster und oberster Grundsatz, auf dem alle anderen basierten. Die Selbstbeherrschung gestattete ihm, flexibel auf alle Realitäten zu reagieren. Die Konventionen seiner Zeit – wie Loyalität, Güte, Schönheit – waren für ihn nur zweit- oder drittrangig.
Dem entsprechend hatte Leonardo keinerlei Bedenken, die Einladung des französischen Königs anzunehmen, obwohl dieser für den Sturz seines früheren Mäzens, Ludovico Sforza, verantwortlich war. War dies ein Verrat oder mangelnde Integrität? Ich sehe darin eher einen weiten geistigen Horizont und Großzügigkeit.