Читать книгу Humanismus - Daisaku Ikeda - Страница 12
Verbunden mit der Totalität
ОглавлениеDie Idee der Integration wird mit dem buddhistischen Begriff Kechi-en ausgedrückt (wörtlich: sich einer Verbindung anschließen; es bezeichnet eine kausale Beziehung oder eine Funktion, welche das Leben mit seiner Umgebung verbindet). Diese Idee stammt aus der Theorie des „bedingten Entstehens“, einem seit der Zeit Shakyamunis wichtigen buddhistischen Konstrukt. Die Idee des bedingten Entstehens besagt, dass jedes Phänomen, gesellschaftlich oder natürlich, das Ergebnis seiner Verbindung mit etwas anderem ist. Nichts kann in vollständiger Isolation existieren; alles steht miteinander in Verbindung. Meist denken wir in räumlichen Begriffen, was die Interaktionen angeht. Die buddhistische Vorstellung ist aber mehrdimensional und schließt auch die Zeit mit ein. Am Grund des japanischen Bewusstseins der Empathie und der Koexistenz mit der Natur, das Claudel und Malraux so sehr ansprach, liegt ein primitiver Animismus, oder viel mehr eine Auffassung, die im buddhistischen Konzept des bedingten Entstehens wurzelt.
Traditionelle Kunstformen wie die Teezeremonie, das Blumenstecken, die Gärten, dekorierte Schiebetüren oder das Papierfalten sind nicht dazu geschaffen, inhärente Werte oder eine Bedeutung an sich zu haben. Ihre volle Bedeutung erlangen sie nur und erst, wenn sie ihren „Raum“ im Zentrum des gewöhnlichen Alltagslebens bekommen. Ihr Wert hängt von Kechi-en ab, von der Verbindung, die sie mit dem Raum um sich aufnehmen. Auch traditionelle Formen der japanischen Dichtung wie etwa Renga (verbundene Verse) und Haiku wären niemals ohne den Raum entstanden, in welchem sich viele Menschen versammeln und wortwörtlich Verbindungen zwischen dem Ort, sich selbst und ihren Versen hervorbringen konnten.
Im Mahayana-Buddhismus beschreibt der Ausdruck Kū (zuweilen als Leere bezeichnet) die Realität aller Dinge als aus dem Kechi-en entstehend. Noch heute gibt es die Tendenz, die Idee des Kū mit der Vorstellung des Nichts zu assoziieren. Dafür ist zum guten Teil der Buddhismus selbst, besonders der Hinayana-Buddhismus, verantwortlich. Das Hinayana-Denken lässt eine Art Nihilismus zu, indem gelehrt wird, dass Erleuchtung durch die Verneinung weltlicher Werte erstrebt wird. Der Mahayana-Buddhismus setzt dagegen die Idee des Kū in einen vollständig anderen Rahmen als das erstgenannte statische, nihilistische Verständnis. Der Mahayna-Buddhismus sieht die Realität im ewigen Fließen; es ist die fließende Bewegung des Lebens selbst. Die Philosophie Henri Bergsons, in welcher die Realität eher in der Kontinuität aller Phänomene denn in ihrem ewigen Charakter angesiedelt ist, ist in der Tat näher am Ideal des Mahayana, als dies für den Hinayana-Buddhismus gilt.
Die Dynamik, die unablässig durch die Mahayana-Vorstellung des Kū strömt, nenne ich das „schöpferische Leben“. Das schöpferische Leben ist vollständig der Überwindung des individuellen Selbst gewidmet, indem beständig die Grenzen von Raum und Zeit auf der Suche nach dem universellen Selbst überschritten werden. Das schöpferische Leben bringt einen neuen Durchbruch, führt jeden Tag zur Selbst-Erneuerung und ist stets auf den ursprünglichen Rhythmus des Universums eingestellt. Dadurch bewirkt es eine vollständige Umwandlung. Vor einiger Zeit wurde ein Buch mit Gesprächen veröffentlicht, die ich mit René Huyghe von der Académie Française geführt hatte. Dabei traf Huyghe ins Zentrum des Mahayana-Buddhismus, indem er dessen Wesen als „spirituelles Leben“ bezeichnete, was er so erklärte, dass „wir mit der Totalität“ verbunden seien und „vereint mit dem schöpferischen Handeln der Zukunft, auf welches das Universum sich hinbewegt“.2