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Der Intellektuelle wird zum Seismographen

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Lange bevor die ökologischen Probleme breiter in der Gesellschaft und Politik diskutiert wurden, hatte Bernhart gegen die Naturfremde seiner theologischen Zeitgenossen sein Gegensatzdenken auch auf die Tierwelt und das Leiden der Tiere angewandt. Der Theologe, der die Ordnung der Schöpfung gefährdet und gestört sah, der bedrängt wurde durch das Wissen, dass in dieser Schöpfung Gottes von Anfang an nicht alles in der Harmonie ablief, wie die Menschen sich dies wünschen, vollzog hier nicht nur eine anthropologische Wende, sondern eine Hinwendung seiner Theologie zur gesamten Schöpfung. 1961 erschienen seine Reflexionen über die „unbeweinte Kreatur“, theologische Essays als Antwortversuche auf die Fragen eines Pfarrers, den das Leiden der Tiere im alpenländischen Winter bedrückte. Zugleich öffnen sie die Perspektive hin auf eine mögliche Sinnhaftigkeit dieses Leidens, nach der Erlösung der Tierwelt. In einer Zeit, da die Fortschrittsgläubigkeit noch nicht erschüttert war, verweist Bernhart auf die Gefahren, die die wachsende Beherrschung der Natur durch den Menschen bringt, und auf die Ambivalenz des technischen Fortschritts. „Indem er [= der Mensch] die Dinge sich erobert, wächst ihm auch die Gefahr, daß er unter die Dinge gerät, weil er die Macht, die ihm zuwächst, als Versuchung, die Schlüsselgewalt über das Dasein in die Hand zu bekommen, nur dann bestehen könnte, wenn er, je mächtiger er wird, um so mehr auch besser würde, reiner, großgemuter, wachsamer über sein Herz, aus dem von je auch alles Arge kommt.“15

Das Deuten der Geschichte versteht Bernhart als seelsorgerische Aufgabe. Christsein und Kirche-Sein bedeuten ihm zutiefst ein Verwobensein in Göttliches und Weltliches. So verweist er die Kirche, die er in ihren Schönheiten wie in ihren Falten und Runzeln wahrnimmt und darstellt, immer wieder auf ihre eigentliche Aufgabe, nämlich den Menschen zu seiner ewigkeitlichen Dimension hinzuführen. Dies geschieht nicht zuletzt in seinem Erfolgswerk „Der Vatikan als Weltmacht“ (1930). Der Titel darf freilich nicht den Eindruck erwecken, als habe sich Bernhart in erster Linie dem Institutionellen in der Kirche zugewandt. Kirche ist für ihn – in enger Anlehnung an Platons Vorstellung vom Staat – zuvorderst eine Gemeinschaft, die den Charakter der Seligpreisungen trägt, die nach dem Reich Gottes in der Geschichte verlangt. Nicht dürfe sie sich als Fremdkörper in dieser Schöpfung und der Geschichte betrachten, noch sich resigniert oder vorwurfsvoll aus dem Weltgeschehen zurückziehen. Die Christen seien vielmehr dafür zu öffnen, dass sie die enge Verquickung von Schöpfung und Kirche anerkennen und damit das Geschöpfliche und das Ereignishafte aufwerten.

Das ist der Stachel, der dem Intellektuellen, der Gott nicht nur mit dem Intellekt, sondern mit allen Fasern seines Gemütes, mit all seinen Kräften lieben will, nicht erlaubt, in irgendeinem Elfenbeinturm zu verbleiben; der ihn antreibt, immer wieder Einsprüche zu formulieren; der um den Stellenwert der Wandlung in der Schöpfung weiß und daher ständig Umlernen einfordert; der die Menschen vom Wissen zur Bildung führen will. Bildung, „verstanden als Habe und Bereitschaft des Intellekts wie als Reife des sittlichen Bewußtseins“,16 ein Bewusstsein dafür, dass nicht nur wir Menschen Fragen stellen, sondern uns als Gefragte erkennen. Verstanden als Schöpfung, die die Geschöpfe zurückbezieht auf den Bildner; die die Transzendenz auch in einer Zeit offenhält, da viele glaubten, sich bequem auf die innerweltlichen Erklärungen und Machbarkeiten beschränken zu können. Bernhart wusste auch in der Fortschrittseuphorie der 50er-Jahre um die Tragweite des intuitiven Wissens und plädierte in Vorträgen und Kleinschriften wiederholt dafür, das spirituelle Verhältnis des Menschen zur Allwirklichkeit als Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. „Das Unsägliche ist offenbar die echte Heimat des Menschen. Das weiß der Liebende, der verstummt in seinem Glück; das weiß der Erkennende, dem im Verstehen die Sprache versagt.“17 Damit war Bernhart einmal mehr seiner Zeit weit voraus – 1910, nach seiner Rede auf dem Augsburger Katholikentag, hatte Carl Sonnenschein ihm bereits zugerufen: „Herrlich, mein Lieber, herrlich – nur 20 Jahre zu früh!“

Was blieb und bleibt von Bernharts Impulsen? Die Joseph-Bernhart-Gesellschaft hat unter ihrem langjährigen Ersten Vorsitzenden Manfred Weitlauff in den letzten zwanzig Jahren einen Großteil auch der unveröffentlichten Werke in hervorragenden Editionen vorgelegt. Die Rezeption in der zünftigen Theologie darf jedoch eher spärlich genannt werden.

Bernhart ist in mehrfacher Hinsicht eine atypische Gestalt der Theologenzunft seiner Zeit. Er ist durch die neuscholastische Schule gegangen, deren Antworten auf die Grundprobleme des Lebens und Seins ihn aber nicht befriedigen konnten. Durch eigene historische Forschungen in der Theologie und Philosophie des Mittelalters wollte er die neuscholastische Theologie in ihrem Problembewusstsein und ihren Lösungsansätzen weiten, aktualisieren, und musste sie so letztlich aufsprengen. Mehrfach wurde ihm eine mystische „Erlebnistheologie“ bescheinigt.18 Er hat damit zu einem subtilen Aufbruch beigetragen, der zwar nie die Breite und zunächst weite und begeisterte Resonanz eines Romano Guardini gefunden hat, wegen seines Ringens um den Menschen in Gott und Gott im Menschen und wegen seines Dialoges mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaften jedoch auch heute noch aktuell ist.

Am Beispiel Bernharts zeigt sich: Historisches Forschen kann zu kritischer Distanz befähigen, ein Sensorium für das jeweils Erforderliche, für die Würde und Aufgabe des „Augenblicks“ schaffen. Das Marginale schärft den Blick. Die Spannung von „einzeln“ und „allgemein“, induktiv und deduktiv gilt es auszuhalten. Man möchte wünschen, dass vor allem sein Schöpfungsdenken, die creatio continua und sein Gegensatzdenken bis in den Schöpfer hinein, weitergeführt und in den unterschiedlichsten Bereichen der theologischen Disziplinen die entsprechenden Konsequenzen durchdacht werden, etwa seine Aussage, dass das malum bereits in Gottes Schöpfergedanken ist, in Hinsicht auf die Rede von der Notwendigkeit der satisfactio.

Schriften von Joseph Bernhart: Bernhardische und Eckhartische Mystik in ihren Beziehungen und Gegensätzen. Eine dogmengeschichtliche Untersuchung. Kempten/München 1912 – (Hg.:) Gebete großer Seelen (1915). Neu hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1999 – Tragik im Weltlauf (1917). Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1990 – Der Kaplan. Aufzeichnungen aus einem Leben (1919). Mit Schriften u. Beiträgen zum Thema aus den Jahren 1912 – 1969 neu hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1986 – (Hg.:) Der Frankfurter. Eine deutsche Theologie. Leipzig 1920 – Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance (1922). Mit Schriften und Beiträgen zum Thema aus den Jahren 1912 – 1969 neu hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 2000 – Der Vatikan als Thron der Welt. (Ab 1930 u. d. T.: Der Vatikan als Weltmacht. Geschichte und Gestalt des Papsttums.) Leipzig 1929 – Sinn der Geschichte (1931). Mit Vorträgen u. Aufsätzen zum Thema aus den Jahren 1918 bis 1961. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1994 – Meister Eckhart und Nietzsche. Ein Vergleich für die Gegenwart. Berlin 1934 – (Hg.:) Thomas von Aquino. Summe der Theologie. 3 Bde. Stuttgart 1934/38 – De profundis (1935). Weißenhorn 51985 – (Hg.:) Der stumme Jubel. Ein mystischer Chor. Salzburg/Leipzig 1936 – (Hg.:) Heilige und Tiere (1937). Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1997 – Totengedächtnis. München 1940 – Vom Mysterium der Geschichte. Kolmar i. E. 1944 – Chaos und Dämonie. Von den göttlichen Schatten der Schöpfung (1950). Neu hg. v. Georg Schwaiger. Weißenhorn 1988 – Bonifatius, 672/75 – 754. Apostel der Deutschen (1950). Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 2004 – Gestalten christlicher Mystik und Spiritualität. Mit einem Anhang: Schriften und Beiträge zur christlichen Spiritualität aus den Jahren 1908 – 1954. Hg. von Manfred Weitlauff. Weißenhorn 2004 – Wissen und Bildung. Zwei Vorträge. München 1955 – Die unbeweinte Kreatur. Reflexionen über das Tier (1961). Neu hg. v. Georg Schwaiger. Weißenhorn 1987 – Zeit-Deutungen. Schriften, Beiträge und bislang unveröffentlichte Vorträge zu Problemen der Politik und Kultur aus den Jahren 1918 – 1962. Hg. v. Manfred Weitlauff u. Thomas Groll. Weißenhorn 2007 – Thomas Morus. Roman. Weißenhorn 1979 – Erinnerungen. 1881 – 1930. 2 Bde. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1992 – Tagebücher und Notizen 1935 – 1947. Hg. v. Manfred Weitlauff. Weißenhorn 1997.

Sekundärliteratur: Rainer Bendel: Das Kirchenbild Joseph Bernharts. St. Ottilien 1993 – Ders.: Joseph Bernhart (1881 – 1969). In: Manfred Weitlauff (Hg.): Lebensbilder aus dem Bistum Augsburg. Vom Mittelalter bis in die neueste Zeit. Augsburg 2005, 507 – 525 – Ders./Lydia Bendel-Maidl: Mystik oder Scholastik als Wege zu Nietzsche. Joseph Bernhart und Theodor Steinbüchel im Vergleich. In: Gotthard Fuchs/Ulrich Willers (Hg.): Theodizee im Zeichen von Dionysos. Friedrich Nietzsches Fragen jenseits von Moral und Religion. Münster 2002 – Diess./Andreas Goldschmidt: Dämonisierung des Nationalsozialismus. Vergangenheitsbewältigung in theologischen Schriften Joseph Bernharts, Romano Guardinis und Alois Winklhofers. In: Kirchliche Zeitgeschichte 13 (2000) 138 – 177 – Lorenz Wachinger (Hg.): Joseph Bernhart. Leben und Werk in Selbstzeugnissen. Weißenhorn 1981 – Manfred Weitlauff (Hg.): Joseph Bernhart (1881 – 1969), ein bedeutender Repräsentant katholischen Geisteslebens im 20. Jahrhundert. Augsburg 2000.

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