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Peter Wust (1884 – 1940) „Insecuritas humana“ und religiöser Glaube
Der christliche Existenzphilosoph Peter Wust Werner Schüßler Philosophie und Biographie
ОглавлениеIn einem Brief an den priesterlichen Freund Karl Pfleger vom 20. Dezember 1935 schreibt Peter Wust: „Ab und zu überkommt mich ein entsetzlicher Kathederekel. Und dann verbrauche ich entsetzlich viel Kraft. Diese Woche war’s besonders schlimm damit. Dann ist mir, als sei alles dummes Zeug, was ich sage, ja als hätte ich meinen Beruf vollkommen verfehlt. Es überkommt mich dann allemal mein armseliges Autodidaktenbewußtsein der Philosophie, d. h. der Gedanke, daß ich doch nur so nebenher in die Philosophie hineingewachsen bin.“1
Das sagt ein Mann, der, auf dem Höhepunkt seiner akademischen Karriere, sich jahrelang nichts anderes gewünscht hatte, als auf dem Katheder zu stehen, zu Menschen sprechen und sich nur noch mit der Philosophie beschäftigen zu können. Aber bis dahin sollte es ein langer und steiniger Weg werden, der durch viele Höhen und Tiefen geführt hat, ähnlich dem Leben des jüngeren der beiden Brüder in der Parabel vom verlorenen Sohn in Lukas 15,11 – 32. Mit dieser Parabel lässt Wust auch sein Hauptwerk „Ungewißheit und Wagnis“ beginnen, wird hier doch in wenigen Sätzen die „conditio humana“, so wie sie Wust versteht, deutlich: nämlich „die ganze Dialektik des Lebens nach seinem Wechselverhältnis von Gesichertheit und von Ungesichertheit“ (UW 38).2 Wusts Leben offenbart diese Dialektik, die im Zentrum seines Hauptwerkes steht, in einer ganz eigenen und tiefen Weise.3
Am 28. August 1884 in Rissenthal bei Losheim im Saarland geboren und in recht ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, erwacht in dem Jungen schon recht früh ein reges Interesse an Büchern. Der Pfarrer wird auf seine Begabung aufmerksam und bereitet ihn nach Abschluss der Volksschule auf das Gymnasium vor. Im Jahre 1900 besteht Wust die Aufnahmeprüfung für die Quarta des Friedrich-Wilhelm-Gymnasiums in Trier, und er zieht nun in das Bischöfliche Konvikt. Nach dem Wunsch der Eltern soll er später Theologie studieren und katholischer Priester werden. Aber dieses Vorhaben gibt er schon bald auf, nachdem er – nicht zuletzt durch die Lektüre von Dante, Manzoni und Goethe beeinflusst – in eine schwere Glaubenskrise gerät. Zu Hause gilt er nun bei seiner Familie als ein „Abtrünniger“, als ein „Verlorener Sohn“ (GW V, 242).4
Nach bestandener Reifeprüfung immatrikuliert sich Wust an der Berliner Universität für die Fächer Germanistik und Anglistik mit dem Ziel des Gymnasiallehrers. Aber schon bald ist er von der Philosophie begeistert; es ist der Philosoph Friedrich Paulsen, der „den Blitz des ,thaumazein‘, der großen Verwunderung“ (GW V, 243), in Wusts Seele hat fallen lassen, von der er nicht mehr loskommen sollte. Nach zwei Semestern wechselt er an die seiner Heimat näher gelegene Universität Straßburg. Hier ist er stark beeindruckt von dem katholischen Philosophiehistoriker Clemens Baeumker, der sich um die Erforschung der mittelalterlichen Philosophie besonders verdient gemacht hat.
1910 macht Wust sein Staatsexamen; im selben Jahr heiratet er Käthe Müller, um dann für ein Jahr als „Seminarkandidat“ an die Friedrich-Werdersche Oberrealschule in Berlin zu gehen, bevor er 1911 für vier Jahre als „Probekandidat“ an die Oberrealschule nach Neuß am Rhein versetzt wird. In diesen Jahren wird ihm bewusst, dass er im Lehrerberuf nicht recht aufgeht. Der „Konflikt zwischen Brotwissenschaft und Lieblingswissenschaft“ (ebd.) führt schließlich dazu, dass er sich – neben seinem Lehrerberuf – für eine Promotion in Philosophie entscheidet. 1914 promoviert er an der Universität Bonn unter der Leitung von Oswald Külpe mit einer Arbeit über „John Stuart Mills Grundlegung der Geisteswissenschaften“ zum Doktor der Philosophie. Zu Anfang noch im neukantianischen Denken verhaftet, drängt es ihn schon bald zu einer „neuen Unmittelbarkeit“, zu einer „originalen Aufrollung der ewigen Probleme selbst“ (GW VIII, 23). Den entscheidenden Anstoß in diese Richtung sollten ihm später Georg Simmel, Ernst Troeltsch und in ganz besonderem Maße Max Scheler geben.
1915 wechselt Wust als Oberlehrer an das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium nach Trier, um nur sechs Jahre später an das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium nach Köln und zwei Jahre später an das dortige Dreikönigs-Gymnasium zu wechseln. In Köln macht er schon bald die Bekanntschaft mit Max Scheler. Wust selbst spricht in diesem Zusammenhang von „einer völligen inneren Umwandlung“, „einer ,Metanoia‘ größten Stiles“ (GW V, 264). In Scheler glaubt Wust „die große philosophische Achsendrehung“ zu sehen, „die dem ganzen Zeitalter die Wendung zum Objektiven geben sollte“ (GW V, 250 f.). Scheler ermutigt Wust in seinen akademischen Zukunftsplänen, doch scheitert das Vorhaben einer Habilitation daran, dass er seine inzwischen auf drei Kinder angewachsene Familie ernähren muss, was ihn dazu zwingt, den Lehrerberuf beizubehalten.
1930 wird Wust dann, für ihn selbst unerwartet und gegen den Willen der Fakultät, durch den Preußischen Kultusminister Adolf Grimme zum ordentlichen Professor für Philosophie an die Westfälische Wilhelms-Universität in Münster berufen. Hier wächst sein Bekanntheitsgrad stetig; so sitzen dem Professor im Auditorium Maximum bald über 400 Studierende zu Füßen, und in den Jahren nach 1933 werden es noch mehr.
Kurz vor Weihnachten 1937 bemerkt Wust an seinem Gaumen eine Wunde, die genau dort entstanden war, wo der Tabakdampf seiner langen Pfeife unmittelbar anschlug. Im Oktober 1938 erfolgt dann eine erste Operation, nachdem eine Röntgenbestrahlung keine dauerhafte Besserung ergeben hat und eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde. Doch schon bald darauf verschlechtert sich sein Gesundheitszustand derart, dass Wust die Lehre an der Universität einstellen muss; am 16. Februar 1939 hält er seine letzte Vorlesung (vgl. GW VIII, 115 f.).
Es erfolgen zwar noch zwei weitere Operationen, doch alles hilft nichts mehr. Auf eine Genesung scheint keine Aussicht mehr zu sein. Am 3. April 1940 stirbt Wust qualvoll an seiner Krankheit. – So weit die äußeren Daten seines Lebensweges.
Die innere Lebensgeschichte liest sich anders und ist für uns auch aufschlussreicher. Von etwa 1905 ab – es wurde schon angedeutet – hat Wust dem christlichen Glauben ziemlich passiv gegenübergestanden: „Ich zerriß zwar nicht die Fäden, die mich äußerlich noch an die Kirche knüpften“, schreibt er, „aber ich hatte im Grunde den Glauben verloren.“ (GW V, 252) Das ändert sich, als er 1918 die Bekanntschaft mit Ernst Troeltsch macht. Wust berichtet darüber: „Bei Gelegenheit einer Tagung in Unterrichtsfragen war ich am 4. Oktober 1918 zu dem berühmten Religionsphilosophen Ernst Troeltsch, mit dem ich damals im Briefwechsel stand, zu einer kurzen Aussprache unter vier Augen eingeladen worden. Tief erschüttert von der Situation der Zeit, versuchte Troeltsch damals neue Kräfte des Glaubens in mir aufsteigen zu lassen. ,Diese äußere Niederlage, die wir jetzt erleben‘, so sagte er mir, ,braucht Sie nicht zur Verzweiflung zu führen. Denn diese äußere Niederlage ist nur die konsequente Folge jener inneren Niederlage, die wir bereits seit dem Tode Hegels dauernd erleiden, insofern wir den großen alten Väterglauben an die souveräne Macht des Geistes aufgegeben haben.‘ Wie ein Blitzschlag durchzuckten diese Worte in jenem Augenblick meine Seele, und nun fügte Troeltsch, anspielend auf meine Glaubensnöte, die ich ihm brieflich geschildert hatte, noch die Mahnung hinzu: ,Sie sind noch jung. Wenn Sie noch etwas für die Kräfteerneuerung unseres Volkes tun wollen, dann kehren Sie zurück zum uralten Glauben der Väter und setzen Sie sich in der Philosophie ein für die Wiederkehr der Metaphysik gegen alle müde Skepsis einer in sich unfruchtbaren Erkenntnistheorie.‘“ (GW V, 252 f.)
In einem Brief an Karl Pfleger bekennt Wust Jahre später: „Dieser 4. Oktober 1918 war das Damaskus meines bisherigen Liberalismus und meiner kantianischen Metaphysikscheu. Ernst Troeltsch hat damals in mir die Bresche in meine Skepsis geschlagen und mich wenigstens wieder zum Glauben an so etwas wie einen persönlichen Gott zurückgeführt.“5
Wust greift dieses Anliegen Troeltschs in seinem ersten größeren Werk, „Die Auferstehung der Metaphysik“, von 1920 auf (vgl. GW I). Die Begegnung mit Troeltsch versteht Wust als einen „ersten schweren Stoß der Gnade“, der schließlich dazu führt, dass er in den Ostertagen 1923 wieder „in die Arme der ,Una Sancta Ecclesia‘“ zurückkehrt. „Seit jenem Heimkehrtag aber war alle müde Skepsis mit einem Male hinweggefegt worden“, schreibt Wust. „Seit jenem Tage war ich wieder naiv gläubig wie ein Kind. Seitdem beschäftigte mich auch die Erscheinung der Naivität, der ich 1925 in dem Buche ,Naivität und Pietät‘ [vgl. GW II] meine besondere Aufmerksamkeit zugewendet habe. In dieser Schrift konzentrierte sich mir das ganze tiefgreifende Kontrasterlebnis, das ich seit etwa dreißig Jahren in dem Übergang von der Ruhe der Dorfidylle zur unseligen Unruhe des städtischen Lebens immer tiefer erfahren hatte. Und dahinter steckte ja auch das ganze quälende Menschenrätsel, das in den späteren Jahren die Philosophie immer mehr in ihren Bann lockte.“ (GW V, 253 f.)
In der Polarität von Naivität und Pietät sieht Wust „ein Tor, das zu den wunderbarsten Geheimnissen der Menschennatur und der Geistesbewegung in der Menschheitsgeschichte führen konnte, wenn nur jemand den rechten Schlüssel fand, um dieses Tor zu öffnen“ (GW V, 255). Das in „Naivität und Pietät“ angesprochene Thema führt Wust weiter „zu der Frage nach der ewigen Unruhe des Menschengeistes“ (ebd.), die er in dem 1928 veröffentlichten Werk „Die Dialektik des Geistes“ (vgl. GW III/1 u. 2) aufarbeitet. – Es waren wohl diese drei Werke, die ihn auch ohne Habilitation berufungsfähig machten.
Im Jahre 1937 erscheint dann sein bedeutendstes Werk, geradezu eine Zusammenfassung seiner Grundgedanken, unter dem Titel „Ungewißheit und Wagnis“.6 „,Ungewißheit und Wagnis‘ schrieb ich 1936 in zwölf Wochen – es war eine Entladung“, heißt es in einem Brief an Karl Pfleger. „Das sind rasch vorübergleitende Optima der Gnade – hinterher bin ich ein Häuflein abgebrannter Asche.“7
In der Zeit der Krankheit überarbeitet und vollendet Wust noch seine Lebenserinnerungen „Gestalten und Gedanken“ (vgl. GW V 41 – 257), und am 18. Dezember 1939 schreibt er sein bekanntes „Abschiedswort“ an seine Studentinnen und Studenten, in dem er das Gebet und nicht die Reflexion als den „Zauberschlüssel“ bezeichnet, „der einem das letzte Tor zur Weisheit des Lebens erschließen könne“.8