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Dialektik von Geborgenheit und Ungeborgenheit
ОглавлениеWusts Hauptwerk „Ungewißheit und Wagnis“ setzt – wie schon eingangs angedeutet – mit der neutestamentlichen Parabel vom verlorenen Sohn (Lk 15,11 – 32) ein. Hiernach verlässt ja bekanntlich der jüngere der beiden ungleichen Brüder, allen Warnungen des weise vorsorgenden Vaters zum Trotz, die Gesichertheit des väterlichen Hauses und stürzt sich in das Wagnis einer unbekannten Welt. Wust deutet diese Parabel als ein Bild des Menschseins als solchen. Hiernach verlangt das Leben in seiner Sinnganzheit die unaufhebbare Dialektik von Geborgenheit und Ungeborgenheit. Es ist nicht so, als gäbe es nur die beiden Seiten der Geborgenheit oder der Ungeborgenheit. Sondern diese beiden Seiten sind dialektisch ineinander verschlungen: Es gibt eine Ungeborgenheit in der Geborgenheit, und es gibt eine Geborgenheit in der Ungeborgenheit. Wust führt dazu aus:
„Wohl hat zunächst die Gesichertheit des Lebens ihr Recht und ihren ganz tiefen Sinn. Und man wird es selbstverständlich finden, daß der Mensch auf sie hinstrebt und sich gegen die Ungesichertheit des Lebens zu schützen sucht. Das Leben selbst aber, wenn man es auf sein Wesen hin näher untersucht, scheint viel eher mit der Ungesichertheit insgeheim im Bunde zu sein als mit der Gesichertheit, und zwar nicht etwa, wie der Mensch aus seiner Alltagssicht so leicht anzunehmen geneigt ist, weil es ihm aus einer ihm eingeborenen Feindseligkeit heraus sein Glück mißgönnen würde, sondern vielleicht gerade deshalb, weil erst die Ungesichertheit zu jener besonderen Art von Gesichertheit führt, die den Menschen als Menschen über sich selbst hinausdrängt und ihn damit erst ganz zu sich emporhebt.“ (UW 30 f.)
Wust sieht in der Ungesichertheit also immer auch einen positiven Sinn. Es geht ihm dabei in keiner Weise darum, jeglicher Tradition und allem Ordnungsstreben des Menschen den Kampf anzusagen „und gewissermaßen das Prinzip einer Revolution in Permanenz auf seine Fahne [zu] schreiben“ (UW 38). Aber nach Wust steht „das Sekuritätsstreben der Menschen (...) so sehr im Vordergrunde aller Lebenserfahrung, daß es geradezu einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf, um die positive Bedeutung der Ungesichertheit als ein ernstes metaphysisches Problem des Lebens in den Blickpunkt der Alltagsmenschen zu bringen“ (UW 37 f.). Wust will die „Totalität des Lebens“ (UW 31) sichtbar machen. Das ist ihm zufolge aber nur möglich, wenn die ganze Dialektik des Lebens nach seinem Wechselverhältnis von Gesichertheit und Ungesichertheit im Auge behalten wird.
Die Daseinssituation des Menschen unterscheidet sich nach Wust nicht nur gradhaft von der Daseinssituation des Tieres, sondern wesenhaft. Es liegt hier ein „seinsmäßiger ,hiatus‘“ (UW 40) vor. Was meint er damit? „Das Tier ist von Natur ein ,animal securum‘, ein Wesen der Seinsbehütetheit. Demgegenüber ist der Mensch ebenso naturhaft das ,animal insecurum‘ schlechthin, das Wesen, dem die Ungesichertheit von Hause aus in seine ganze Struktur mithineingegeben ist.“ (Ebd.) Diese Insecuritas humana kann man von zwei Seiten aus betrachten, sowohl von der objektiven als auch von der subjektiven Seite her. „Objektiv betrachtet, ist der Mensch ein Wesen der Ungesichertheit. Dem entspricht auf der subjektiven Seite seine Ungewißheit in den entscheidendsten Fragen seines Daseins.“ (Ebd.) Aber diese Ungewissheit gibt dem Menschen auch wiederum den nötigen Spielraum für seinen Selbsteinsatz, für das Wagnis, also für jene Form der Freiheit, die nur ihm eigen ist.
Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch als „Sinnenwesen und Geistwesen“ „gewissermaßen in eine paradoxe Situation versetzt“ (UW 45): Er ist nämlich von seinem Wesen her „heimatlos“ – wie Wust sagt. Und in dieser Heimatlosigkeit ist der Wesenskern seiner Insecuritas zu suchen. Wust beschreibt diese Heimatlosigkeit so:
„Es ist dem Menschen zugemutet, dauernd in einem dialektischen Schwebezustand zu existieren, indem sein Wesen stets nach zwei Seiten hin ponderiert, ohne daß jemals ein Gleichgewicht hergestellt werden kann. Zwischen (...) Bios und Logos ist der Mensch so eingespannt, daß er sowohl beiden Bereichen zugehört als auch in keinem der beiden Bereiche wahrhaft ansässig ist. Ein ewiger, unschlichtbarer Widerstreit in ihm zwingt ihn dazu, seine Existenz von Augenblick zu Augenblick im Kampfe mit sich selbst zu erringen, und niemals kann er hoffen, diesen Kampf endgültig durchgekämpft zu haben. Hier erst kommt der tiefere Sinn einer Indefinitheit zum Vorschein, die selig-unselige Unendlichkeitsbestimmtheit seines Wesens.“ (UW 45 f.)
Diese Heimatlosigkeit sieht Wust durch eine tragische Dialektik gekennzeichnet, die daraus resultiert, dass der Zustand einer absolut unanfechtbaren Selbstsicherheit prinzipiell nicht zu erreichen ist. So bleibt selbst der ausgeglichenste Mensch von dieser Situation der Insecuritas dauernd überschattet. Diese grundsätzliche Dialektik der menschlichen Daseinssituation rührt letztlich daher, dass es dem Menschen eben nicht möglich ist, sich von der „metaphysischen Spannung seiner Natur“ abzulösen, die darin besteht, dass er weder reines Tier noch reiner Geist ist. Uns Menschen ist eben „die schöne, sinnliche Naturunmittelbarkeit des Tieres“ ebenso versagt wie das Extrem eines reinen Spiritualismus. Lehnt sich hier der Logos gegen den Bios auf, so dort der Bios gegen den Logos (UW 47).
Dieser objektiven Seite der Insecuritas humana entspricht nun „die subjektive Seite der menschlichen Ungewißheit“ (UW 48). Natürlich hat der Mensch dem Tier die Wissensmöglichkeit und auch das wirkliche Wissen voraus. Und doch zeigt sich auch hier wieder der schon bekannte dialektische Zwischenzustand seiner ganzen Natur. Und diesen hat kein anderer als Platon in seinem meisterhaften Dialog „Symposion“ dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er hier die Situation des Menschen mythologisch mit Hilfe eines halbgöttlichen Wesens, eines Dämons, nämlich „Eros“, darzustellen sucht. Eros ist ja hiernach das selig-unselige Kind aus der Ehe zwischen einer sterblichen Mutter und einem von den Göttern stammenden unsterblichen Vater. Penia, die Armut, empfängt von Poros, dem Reichtum, und sie gebiert Eros, dieses irdisch-überirdische Zwischenwesen.20 Und es ist nach Platon dieser Eros, der das Wesen des Menschen entscheidend bestimmt: Trotz seines Wissens lebt der Mensch in der Ungewissheit. Wust bezeichnet ihn darum auch als „metaphysisches Sucherwesen“: „Der Mensch ist der ewige Glückssucher, der unermüdliche Wahrheitssucher, der nie zur Ruhe gelangende Gottsucher.“ (UW 49) Und er ist das alles, weil er bei aller Möglichkeit zum Wissen letztlich doch in der Ungewissheit bleibt. Bei aller prinzipiellen Evidenzmöglichkeit bleibt doch auch immer die Ungewissheit der Evidenz. Augustinus und Cusanus haben hierfür ja bekanntlich den Ausdruck der docta ignorantia geprägt.
Der Spielraum dieser Insecuritas humana ist nach Wust so weit und umfassend wie das menschliche Dasein selbst. Sowohl das Einzelleben als auch das Gemeinschaftsleben unterliegen diesem Gesetz der Insecuritas. So wechseln sich in der Geschichte Epochen der Sekurität mit solchen der Irrationalität und Unberechenbarkeit ab. Und das Einzelleben des Menschen steht nicht minder unter dem Gesetz dieser Dialektik. In deutlicher Anlehnung an Schelers Unterscheidung zwischen Herrschaftswissen, Bildungswissen und Erlösungswissen21 – wobei das erste das Wissen von Technik und Wissenschaften meint, das zweite das philosophische und das dritte das religiöse – sieht Wust beim Menschen näherhin drei Bereiche der Insecuritas: den Bereich der vitalen Existenz, den der geistigen Existenz und den der übernatürlichen Existenz. In keinem dieser Bereiche, das ist die Grundeinsicht Wusts, kommt der Mensch zu einer letzten Gesichertheit bzw. Gewissheit. Und doch führt ihn das übernatürliche Wagnis der Glaubensweisheit „in die übernatürliche Situation einer ,Securitas insecuritatis‘“ (UW 185): Der Mensch fühlt sich hier letztlich geborgen in der Ungeborgenheit. Das kommt ja auch schon in der eingangs beleuchteten Parabel vom verlorenen Sohn zum Ausdruck. „Spontan stimmt man der Lebenshaltung des älteren Bruders bei, aber die Symbolik weist hin auf die Dialektik zwischen der Gesichertheit und der Ungesichertheit. Denn der Umweg des jüngeren Bruders über die Ungesichertheit der Fremde läßt ihn schließlich tiefer in der Geborgenheit des Vaterhauses ausruhen, als der ältere in seiner alltäglichen und oberflächlichen Lebensgesichertheit.“22