Читать книгу Verborgene Spuren in Schloss Ludwigsburg - Daniel Schulz - Страница 16

2. „ Was andre vor euch zahlten/Die ihren Nahm aufs Scheis Haus mahlten “ – Graffiti und Depotfunde als historische Quellen

Оглавление

Graffiti gehören als mehr oder weniger spontane Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt zu den frühesten Ausdrucks- und Kommunikationsformen des Menschen.

Ein weiter Bogen lässt sich schlagen, der zeit- und kulturübergreifend vom stereotypen „hier war ich“ der römischen Legionäre an ägyptischen Tempelwänden, zu Graffiti von Pilgern in den Katakomben Roms, zu mittelalterlichen und neuzeitlichen Graffiti an Kirchenwänden und in Chorgestühlen bis hin zu den American-Graffiti in den Großstädten des 20. Jahrhunderts reicht, die schrill und bunt den Beton zieren oder verunstalten – es kommt auf den Blickwinkel an.

Das Hinterlassen eines Zeichens der Anwesenheit kann man als „einen archaischen Zug menschlichen Verhaltens“ sehen1. In der römischen Antike erfüllten die Wände manchmal sogar eine ähnliche Funktion wie unsere Gästebücher. Diesen Eindruck vermittelt der sehr beliebte Vers: „Wir kamen sehr gerne hierher, noch lieber wollen wir nun wieder gehen.“2 In der antiken Welt Graffiti finden sich auch an vielen Heiligtümern so genannte „Proskynemata“, ein Gruß an die Gottheit und eine Bitte um ihren Schutz. Das regelrechte Überziehen der Tempelwände und Bildwerke mit Graffiti bedeutete keine Schändung des Heiligtums, sondern war Ausdruck „eines naiven, spontanen, sehr persönlichen Glaubens, der einfach alles benutzte, um darauf seiner Bitte um Gnadenerweise oder seinem Dank einen schriftlichen Ausdruck zu geben.“3

Graffiti entstanden aber auch einfach aus einem gewissen Spieltrieb heraus: Wartende ritzten z.B. Zeichnungen und Spielbretter in Stufen, Säulen und Bänke und vertrieben sich so die Zeit.4

Graffiti finden sich seit der Antike in den verschiedensten Kulturdenkmälern, sei es Pompeji, der Limburger Dom, das Ludwigsburger Schloss oder der Berliner Reichstag (Tafel 8, S. 50). Pfäffikon, Erfurt, Limburg Maulbronn, Fingalshöhle, Weibertreu, Berliner Reichstag. Ebenso fanden Graffiti Eingang in Werke der bildenden Kunst (Tafel 9, S. 52).

Insofern sind Graffiti doch alltägliche Erscheinungen und das allgemeine Erstaunen, dass sie keine moderne Erfindung sind, kommt durch eine Wahrnehmungslücke der Kulturwissenschaften zustande, die Graffiti schlicht nur vereinzelt zur Kenntnis genommen haben.

Ältere Graffiti können abgrenzend als „historische Graffiti“ bezeichnet werden. Sie sind als eigenständige Quellengattung, als Dokument und Urkunde zu begreifen und bewegen sich zwischen „High and Low Art“: Spuren oder Hinterlassenschaften zwischen Hochkunst, Urkunde, Kritzelei und Vandalismus.

Auch Depotfunde – in die Zwischenböden eingefülltes oder dort entsorgtes Material – finden sich allerorts in Gebäuden. Es sind oft ungewöhnliche Zeugnisse der Alltagskultur, die allein durch die Deponierung die Zeiten überdauerten.

Betrachtet man nun beide Quellengattungen, Graffiti und Depotfunde im Ludwigsburger Schloss ergibt sich ein facettenreiches, wenngleich noch immer fragmentarisches Bild des Alltagslebens im Schloss. Dazu gesellen sich noch die Spuren, welche Nutzungen und Veränderungen an der Schlossanlage hinterlassen haben. Alle diese Spuren und Hinterlassenschaften begreife ich als „Zeitspuren“, die zusammen die über drei Jahrhunderte gewachsene Einheit des Schlosses bilden und die Dokumentation dieser Spuren sehe ich als Spurensicherung.5

Das Graffito ist eines der unmittelbarsten Werke, dass ein Mensch hinterlassen kann – „weil die Menschen den Stein, den Knochen, gebrannte Tontäfelchen, den Papyrus, das Papier, das Tonband, die Diskette bearbeitet haben, ihnen ihr Schaffen anvertraut haben, überleben ihre Werke ihren Schaffensprozeß; die Menschen gehen vorüber, die Werke bleiben.“6 Bei den Funden ist der Schuh derjenige Gegenstand, der am stärksten mit seinem Träger verbunden ist, weil sich in ihm im Lauf der Zeit der Abdruck des Körpers einprägt.

Doris Jones-Baker verweist auf Graffiti als Quellengattung und als Stimme der unprivilegierten Volksschichten, „belonging to the archaeology of history7, wenn auch die Absicht, die der Zeichner eines Graffito verfolgte, meist unbekannt bleibt und selten nachvollzogen werden kann. Graffiti sind somit Quellen einer informellen Geschichte von Menschen, die sonst in ihrem Leben keine Möglichkeit hatten sich darzustellen.

Die Depotfunde zeigen ein Bild des Alltags, der Lebens- und Arbeitswelt in der Residenz, wie es sich aus den schriftlichen Quellen, z.B. den Hofdiarien oder den Inventaren nicht erschließt. Es geht hier also um die Spuren einer Mikrogeschichte, nicht eine Geschichte der „kleinen Dinge“, sondern eine mikroskopische Untersuchung wesentlicher Spuren der Vergangenheit.8 Was immer seinen Weg auf die Schlosswände oder unter die Schlossböden gefunden hat, kam absichtlich dort hin. Der Wert dieses heute fragmentarischen Materials liegt in seiner Authentizität und Unmittelbarkeit, denn es sind Quellen aus erster Hand. Graffiti und Depotfunde müssen daher als Bestandteil des Denkmals gesehen werden. Paul Ricoeur betont, „daß jede beliebige Spur, die die Vergangenheit zurückgelassen hat, für den Historiker zu einem Dokument wird, sobald er diese Überreste aus einer Sachproblematik heraus zu befragen weiß.“9

2.1. Definition des Begriffs „Graffito“

In einem römischen Verbotstext sind für das Ritzen in Wände, die Termini „scariphare“ und „inscribere“ belegt. Zu bemerken ist, dass sowohl die Antike als auch das Mittelalter den Begriff Graffito nicht kennen. Der wurde erst im 18. Jahrhundert von Archäologen als Fachterminus eingeführt, den sie vom italienischen Wort „sgraffiare“ (zerkratzen) ableiteten, um so die in Pompeji und den Katakomben Roms entdeckten Inschriften und Zeichnungen zu benennen.10 In Unterscheidung zu diesen geritzten „Graffiti” bezeichneten die Archäologen aufgemalte Inschriften als „Dipinti”.

Nach meiner Definition sind Graffiti Ausdrucks- und Kommunikationsformen spontaner Art. Als Graffiti sind alle Inschriften oder Zeichnungen zu bezeichnen, die eine Person, egal mit welchen Hilfsmitteln und aus welchem Motiv heraus, an einem bestimmten Träger hinterlassen hat, der kein Papier ist. Innerhalb des Schlosses kann der Träger alles sein: Wände, Türen, Fenster etc. Die Wand ist als Träger für Graffiti am weitesten verbreitet. Dabei ist zu bedenken, dass früher Papier noch nicht wie heute ständig verfügbar war. Daher wurde die Wand häufig als „Notiz-“ oder „Skizzenblock“ benutzt. Werk- und Entwurfsskizzen sind in ihrer Art den Graffiti verwandt, und daher fasse ich diese auch unter den Graffito-Begriff.

Graffiti sind geritzt, eingemeißelt, eingeschnitten oder gezeichnet bzw. angeschrieben. Dass sie explizit unerlaubt oder unerwünscht angebracht wurden, lässt sich für die meisten historischen Objekte nicht nachweisen. Graffiti entstehen aber ungefragt und ohne Auftraggeber.

Die moderne Bewertung hat den Blick auf historische Graffiti verstellt, da sie immer von einer illegalen Handlung ausgeht. Langner weist darauf hin, dass schon in der römischen Antike das Beschreiben von Wänden allerorts üblich war. Geritzte Inschriften und Bilder hatten im Gegensatz zu eingemeißelten Inschriften nur einen flüchtigen und damit inoffiziellen Charakter, „so ist in den antiken Graffiti keine Wandschmiererei zu erblicken, die heimlich gegen die bestehenden Gesellschaftsstrukturen aufbegehrt […]. Ebenso wenig musste man sich eines Vergehens schuldig fühlen, das als Sachbeschädigung strafrechtliche Folgen hätte.“11

Es gibt zahlreiche Definitionen des Graffito-Begriffs.12 Die meisten beziehen sich vor allem auf antike Graffiti, die inzwischen gut erforscht sind.

Markus Scholz, definiert im Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Graffiti als „private und spontane Aufzeichnungen, die als handschriftliche Notizen, Zeichen oder bildliche Skizzen in Materialien bzw. Gegenstände eingeritzt wurden, die zum Beschriften eigentlich nicht vorgesehen waren.“13

Nach Charles Pietri, Reallexikon für Antike und Christentum, sind Graffiti „ veranlasst durch eine augenblickliche Situation, geschrieben mit irgendeinem beliebigen Instrument (gewöhnlich eingeritzt) auf ein zufälliges und zum Schreiben nicht vorgesehenes Material […].“14

André Bernand bezeichnet Graffiti als „parasitäre Inschriften“.15 Zwar entsprechen sie auch für ihn einer allgemeinen Gewohnheit, doch sind sie immer „ein Mittel nichtinstitutioneller Kommunikation, die es erlaubt, die unterschiedlichsten Meinungen, Haltungen, Gefühle oder Vorstellungen auszudrücken, fast immer anonym und die ganze Bandbreite der menschlichen Sprache verwendend.“16

Detlev Kraack und Peter Lingens sehen Graffiti als „graphische Zeugnisse (Kritzeleien, Zeichen, Buchstaben, Wortfolgen, Namenszüge, Zahlen, Wappen, Hausmarken, Bilder), die vor Ort auf oder in dafür nicht vorgesehene Flächen aller Art geschrieben oder geritzt werden.“17 Auch nach dieser Definition sind Graffiti inoffizieller, persönlicher Natur und spontan entstanden, aber trotzdem „können diejenigen, die sie anbringen, damit einen konkreten, auch offiziell wahrnehmbaren Zweck verfolgen.“ Dennoch entstehen Graffiti „niemals im Auftrag von Bauherren oder Behörden, sondern gemeinhin sogar unautorisiert und gegen den Willen des Besitzers eines Gebäudes […].“

Schließlich weist Norbert Siegl vom Wiener Graffiti-Archiv darauf hin, dass „Graffiti“ heute „ein Oberbegriff für viele thematisch und gestalterisch unterschiedliche Erscheinungsformen“ ist, die „auf fremden oder in öffentlicher Verwaltung befindlichen Oberflächen angebracht werden.“18

Graffiti – ungefragt und illegal? Nach allen Definitionen ist ein wichtiges Klassifikationsmerkmal des Graffito-Begriffs, dass eine Botschaft „ungefragt“ entstanden ist. Viele Definitionen operieren mit dem Begriff der Illegalität, womit aber keine wirkliche Trennschärfe zu erreichen ist, da historische Graffiti traditionell zur Kultur des Menschen gehören und nicht wie heute unter Strafandrohung standen.

Es gibt nur wenige Hinweise aus der Antike, dass Graffiti unerwünscht waren. Auf der Wand eines Villengebäudes bei Wagen (Kanton St. Gallen, Schweiz) bricht ein begonnener Vers mitten im Wort ab. Vielleicht ist hier einmal ein Schreiber in flagranti ertappt worden? Ein Graffito im „Haus der Wagenlenker“ in Ostia teilt mit: „Jeder, der daherkommt, schreibt was er will auf die Wände; ich allein habe nichts drauf geschrieben. Ich nehme von hinten alle diese Wändekritzeler.“19

1483 kritisierte der Ulmer Dominikanermönch Felix Fabri die gängige Praxis der adeligen Pilger, die „durch eitlen Wahn verblendet“ ihren Namen an die Kirchenwände schreiben. „Manche unter ihnen ritzten gar mit eisernen Geräten und mit kleinen Hämmern ihre Namen in Säulen und Altäre aus Marmor, kurz: sie versetzten alles in Unruhe und sorgten für allerhand Ärger“.20 So berichtet Fabri von einem Mann, der immer einen Rötelstein dabei hatte und seinen Namen stets gut sichtbar anbrachte: „Bisweilen erstieg jener Tor sogar den Altar und brachte dort auf der Altarplatte die Buchstaben seines Namens an, sei es, dass er dabei mit besagtem Rötel, mit einem Dolch oder mit einem Stift zu Werke ging.“21 Dem Beispiel der Adligen folgend greifen dann „auch einfache Handwerker zu Kohlestückchen und schmieren ihre unbekannten Namen sowie Zeichen ihres einfältigen Charakters an die Wände.“22 So erinnert sich Fabri des Sprichworts: „Narrenhend beschisen den liuten die Wend“ (Narrenhände beschmieren den Leuten die Wände).23 So oder ähnlich ist dieser Spruch quer durch die Jahrhunderte immer wieder zu lesen, wurde gar zum Graffiti-Klassiker.24

In diesem Zusammenhang von Interesse ist die Gerichtslinde von Neuenstadt am Kocher.25 Der Neuenstadter Schulmeister Jakob Frischlin von Balingen beschreibt im Jahre 1606 die Anlage: „Gleich vor dem obern Thor zu der Newenstadt stehet ein wunderbarlich großer Lindenbaum, so breit und dick, dergleichen keiner in ganz Europa zu finden ist, welches Aest rings herum liegen auf 160 Seulen. […] Die Fürsten, Graven, EdeIIeut haben ihre Wappen an steinernen Säulen gehauen.“26

Nicht nur die Edelleute verewigten sich an den von ihnen gestifteten Säulen, welche die Äste der Linde stützen, sondern auch Bürger und Besucher der Anlage. Die frühesten Graffiti datieren ins 15. Jahrhundert.27 Im 16. Jahrhundert wollte die Obrigkeit dieser Sitte Einhalt gebieten und ließ am Eingang zur Gerichtslinde eine Verbotstafel mit folgender Inschrift anbringen: „Disi Lind stedt in Gots Handt, welcher do nei ged, der ein Seul kricz oder schreibt oder ein Unf(fug), der hat ein Hand verlor(en)“. Diese Tafel scheint aber keine Graffitischreiber abgehalten zu haben und dass jemals einer erwischt wurde und seine Hand verloren hat, ist nicht bekannt.

Noch heute verbieten allerorts Schilder „das Bekritzeln oder Beschmutzen der Wände“. Auch im Ludwigsburger Schloss hing eine solche Tafel (s. Tafel 14/13, S. 69). die aber kaum abschreckte.

Goethe teilt uns in „Dichtung und Wahrheit“ an verschiedenen Stellen mit, wie verbreitet im 18. und 19. Jahrhundert Graffiti waren. Er beschreibt Situationen, in denen er selbst Graffiti hinterließ, er schnitt sogar den Namen seiner Geliebten in einen Lindenbaum und 1764 verfasste Goethe ein Auftragsgedicht. In einem Lokal traf er sich mit dem Kunden und nahm dessen Änderungswünsche entgegen „und probierte die zu machenden Veränderungen auf der großen, fast den ganzen Tisch einnehmenden Schieferplatte, mit einem Griffel, der stets im Fenster lag, weil man auf dieser Steinfläche oft rechnete, sich mancherlei notierte, ja die Gehenden und Kommenden sich sogar Notizen dadurch mitteilten.“28

Im „Urfaust“ empfiehlt Mephistopheles einem Studenten, der ein Zimmer sucht, er solle zur Vermieterin Frau Sprizbierlein gehen. Dort müsse er für eine Unterkunft entrichten „Was andre vor euch zahlten/Die ihren Nahm aufs Scheis Haus mahlten.“29 Aber Goethe benutzt für das Hinterlassen seiner Spuren nie den Begriff Graffito, sondern immer nur eine Umschreibung für seine Tätigkeit, er ritzte, schnitt oder schrieb an.

Was bewegte den Inschriftensetzer? Gedenken an seinen Aufenthalt an einem bestimmten Ort? Sich selbst eine möglichst lang andauernde Memoria zu sichern, dem Vergessen der Mit- und Nachwelt entgegenzuwirken? Sofern Graffiti der Erinnerungskultur zuzuordnen sind, sind sie ihrem Charakter nach ein Eigendenkmal, das sich der Inschriftensetzer geschaffen hat.

Wir entscheiden auf Grund unserer kulturellen Semantik, was überliefernswerte Vergangenheit ist und was nicht. Das kulturelle Gedächtnis operiert dabei mit präzisen Ausblendungen und Nichtbeachtungen. Wenn wir bestimmte Teile der Vergangenheit für unwichtig erklären, dann ist es offensichtlich, dass es uns gar nicht um die Vergangenheit schlechthin geht, sondern nur um eine bestimmte, hochgradig selektierte und für wichtig gehaltene Vergangenheit.

Hauptziel von Denkmalschutz und Denkmalpflege ist es, Quellen und Zeugnisse menschlicher Geschichte zu schützen, zu erhalten und dadurch einen Beitrag zur Landesgeschichte zu leisten. Für unser Geschichtsbild und unsere historische Identität ist die Bewahrung und Erhaltung der gebauten oder im Boden verborgenen Geschichtsdokumente wesentlich und unentbehrlich. Debatten über den Denkmalschutz sind daher letztendlich Debatten über die historische und kulturelle Identität schlechthin.

Ohne Zweifel können auch Graffiti ein Kulturdenkmal und eine Geschichtsquelle sein. Umso bedauerlicher ist es, dass die Denkmalpflege dazu bisher keine eindeutige Stellung bezogen hat. Lediglich nach Artikel 1 der Konvention der UNESCO gelten als Kulturerbe auch Inschriften, obwohl hier eher offizielle Bauinschriften gemeint sind.30 Das wesentliche Ziel der Denkmalpflege sollte sein, das Denkmal als Urkunde mit seinen Eigenheiten und Charakteristika zu erhalten: „Erst die Originalität der Bausubstanz in ihrer ablesbar handwerklichen Handschrift und mit den mehr oder minder ausgeprägten Spuren des Alterns dieser Gebäude ist die Geschichte selbst.“31 Doch scheinbar können wir uns nur schwer mit den Prozessen der Vergänglichkeit abfinden. „Man hofft, Alterung durch Auffrischung kompensieren zu können und verlorene Qualitäten nachschaffend wieder erstehen zu lassen.“32 Dabei gilt es aber zu bedenken, „daß es streng genommen kein Original gibt, dass dieser Begriff eine Fiktion ist, weil er die Geschichtlichkeit, der jedes Kunstwerk zwangsläufig unterworfen ist, ausklammert.“33

Als Original ist daher nicht nur der Zustand der Erbauungszeit eines Baudenkmals zu sehen, sondern die Summe aller Zeitschichten, denn der originale Zustand schreibt sich ständig fort. Ziel muss deshalb sein, möglichst viele signifikante materielle Quellen aus vergangenen Zeiten zu erhalten als lesbare Urkunden kultureller Zusammenhänge. Schutz- oder Revitalisierungsmaßnahmen sollen Informationen nicht durch Entfernung wesentlicher Partien verstümmeln und unlesbar machen, denn die materielle Quelle gilt „als Indizienbeweis geschichtlicher Vorgänge“.34

Zur Authentizität eines Denkmals gehören daher auch seine Graffiti, denn sie sind die Spuren derjenigen, die das Denkmal erbauten, benutzten oder gesehen haben. Vergessen wir nicht, dass sich der Denkmalbegriff nicht nur auf große künstlerische Schöpfungen bezieht, sondern auch auf bescheidene Werke, die im Lauf der Zeit eine kulturelle Bedeutung bekommen haben.

2.2 Von Graffiti gezeichnete Baudenkmäler

Die Graffiti in Schloss Ludwigsburg weder Ausnahmeerscheinung, noch Einzelphänomen, sondern zahlreiche Bauwerke sind von Graffiti gezeichnet. Folgen wir kurz diesen Spuren durch die Jahrhunderte und werfen einen kurzen Blick auf die Wände der Kirche von Pfäffikon, des Erfurter und Limburger Doms, des Klosters Maulbronn und des Berliner Reichstags.

In der Kirche von Pfäffikon im Kanton Zürich sind Graffiti aus dem spätmittelalterlichen Baualltag überliefert, die erotische Symbole und Bezüge zum Karneval darstellen (Tafel 8/1, 2). Dreiecke mit Kreisen an den Ecken und im Zentrum, lassen sich als Vulva verstehen, Vögel sind beim Balztanz dargestellt. Männliche Masken mit Narrenkappen haben phallische Nasen. Unmissverständlich ist eine Frauendarstellung: Unter ihrem Kleid präsentiert sie sich nackt.

Die Graffiti wurden unmittelbar nach Abschluss der Bauarbeiten in den feuchten Putz geritzt und können anlässlich der Abschlussfeier der Verputzarbeiten, des Frondienstes oder der Kirchweihe entstanden sein. Vielleicht entstammen sie einem Moment ohne Bauaufsicht und hinter den Darstellungen steckt die „heimliche und hämische Lust, etwas Unanständiges zu tun, das nachher verdeckt wird und nur noch für den Eingeweihten existiert.“35 Noch heute reizt eine weiße Wand zum Bekritzeln „wie viel mehr muss sie das in einer Zeit getan haben, als Papier ein wertvolles Gut war.“36

Am hohen Chor des Erfurter Doms befinden sich in den Wandfeldern zwischen den Strebepfeilern zahlreiche schlecht erhaltene, verwischte und verblasste mittelalterliche Graffiti. Da das ursprüngliche Bodenniveau vor den Strebepfeilern tiefer lag als heute, müssen die Zeichner auf einem Gerüst gestanden sein. Besonders auffällig sind mehrere Kirchendarstellungen. Die am besten erhaltene Zeichnung zeigt einen lang gestreckten Kirchenbau mit zwei Türmen, deren geschwungene Helmspitzen sich ähnlich dem heutigen Severiturm nach oben verjüngen (Tafel 8/3), dazu die Jahreszahlen 140437 und 1614. Eine andere Zeichnung zeigt eine Kirche mit Lang- und Querhaus, flankiert von schlanken, hohen Türmen und einem Dachreiter (Tafel 8/4). Die Zeichnungen geben Aufschluss über die ehemalige Bebauung des Domhügels, denn sie könnten eine Südostansicht des Petersberges mit seinem Kloster, dem Domhügel und weiteren Kirchen darstellen. Damit handelt es sich wohl um eine der ältesten Stadtansichten Erfurts.38

Beachtlich ist der Bestand mittelalterlicher Graffiti im 1190 begonnen Dom zu Limburg.39 Auf den Galerien gibt es zahlreiche geritzte Figurengraffiti u.a. einen Ritter zu Pferd (Tafel 8/5). Besonders auffällig ist eine Kohlezeichnung mit zwei kämpfenden Drachen und einem am Boden liegenden Mann mit abwehrender Geste (Tafel 8/6). Am nördlichen Langhaus zeigen Baurisse aus dem 13. Jahrhundert eine Fensterrose (Tafel 8/7) und mehrere gotische Spitzbögen und an der Südwand direkt am Westportal befindet sich ein in den Putz geritzter Kirchengrundriss, der ein Langhaus und einen Chor mit Kapellenkranz zeigt.

Die Graffiti wurden ab 1974 bei der Gesamtrestaurierung des Doms entdeckt und freigelegt, aber nicht umfassend publiziert. So widmet eine Publikation 1985 diesen historischen Quellen nur ein paar Zeilen, obwohl der Autor feststellt, dass die Baurisse „zu den frühesten Ritzzeichnungen dieser Art in Deutschland“ gehören.40

Graffiti finden sich nicht nur an den Wänden von Gebäuden, sondern auch an der Ausstattung. Ein neuzeitliches Beispiel sind die Graffiti von Schülern im Chorgestühl des Maulbronner Klosters (Tafel 8/8). Nach Einführung der Reformation in Württemberg wurden unter Herzog Ulrich die Klöster aufgelöst. In Maulbronn wurde eine Klosterschule eingerichtet, um vor allem Prediger auszubilden.

Eine Quelle zur Kenntnis der Maulbronner Klosterschüler sind Graffiti, die sich fast im ganzen Gebäudekomplex, aber vor allem im Chorgestühl finden.41 Es war sicher eine mühevolle und zeitraubende Arbeit, seinen Namen in das harte Eichenholz einzuschnitzen. Daher scheinen viele Schüler sich mit dem Einritzen ihrer Initialen begnügt zu haben, deren Auflösung nur dann möglich ist, wenn eine Jahreszahl beigefügt wurde. Die Graffiti gehören hier zu den Gebräuchen, die mit dem Schul- und Universitätsleben verbunden waren, daher finden sich solche Namensgraffiti auch in anderen württembergischen Klosterschulen: In Bebenhausen im Kreuzgang, in Blaubeuren im Chor der Klosterkirche und auf den Figuren des Hochaltars oder in Alpirsbach in den Zellen des Dorments.42 Anscheinend war es eine geduldete Sitte „dass sich die Schüler in dieser Weise verewigten, denn es handelt sich nicht um rasch hingeworfene Graffiti, sondern häufig um kunstvoll ausgeführte Inschriften.“43 Auch in den Karzern der Universitäten verewigten sich die einsitzenden Studenten traditionell an den Wänden.44 Freilich finden sich in Maulbronn aber auch Graffiti der Bildungsreisenden des 18. und 19. Jahrhunderts, die das Kloster als touristisches Highlight aufsuchten (Tafel 8/9).


Tafel 8: 1, 2 Spätmittelalterliche Graffiti aus einer Kirche in Pfäffikon, Kanton Zürich; 3, 4 Graffiti am Erfurter Dom zeigen verschiedene Ansichten von Kirchenbauten; Mittelalterliche Graffiti im Limburger Dom: 5 Ritter zu Pferd; 6 Kampf zweier Drachen; 7 Riss einer Fensterrose. 8 Von Klosterschülern ins Chorgestühl eingeritzte Graffiti in Maulbronn. 9 Bildungsreisende hinterließen ihre Spuren neben dem Eingang zur Klosterkirche, Graffiti des 19. Jahrhunderts. 10 Kyrillische Inschriften im Reichstag. Nach Übergang des Reichstags in den Westsektor verewigten sich auch Amerikaner oder hier ein Brite. 11 Restaurierte Graffiti im Reichstag, 2004.

Als Beispiel für moderne Graffiti sei der Berliner Reichstag vorgestellt. Mit dem Umbau des Parlamentsgebäudes für den Deutschen Bundestag durch Norman Foster traten zahlreiche „Geschichtsspuren“ hervor. Zunächst kam nach dem Rückbau moderner Umbauten die ursprüngliche Architektur des späten 19. Jahrhunderts wieder zum Vorschein, dann die Graffiti von 1945, die von den Soldaten der siegreichen Sowjetarmee nach der Eroberung Berlins an die Wände gekritzelt wurden, „jede einzelne davon ein lange der Vergessenheit anheim gefallener Hinweis auf leidvolle persönliche Erfahrungen.“45 Heute lässt sich kaum mehr die tatsächliche Zahl der sowjetischen Inschriften am Mauerwerk des Reichstagsgebäudes ermitteln, doch historische Abbildungen zeigen, dass das gesamte Bauwerk im Innern übermannshoch mit kyrillischen Schriftzügen bedeckt war (Tafel 8/10, 11).

Viele Graffiti nehmen Bezug auf die zeitlich geographischen Wendepunkte im Krieg, als sich der Kriegsverlauf zugunsten der Sowjets wendete. Immer wieder wird der Zielpunkt „Berlin“ genannt. Inschriften wie „Odessa-Berlin“, „Moskau-Berlin und zurück“, „Stalingrad-Berlin 22.6.41-8.5.45“, beschwören durch die Länge der im Kampf zurückgelegten Strecke die Größe des Sieges. Die Bandbreite der Inschriften reichte von flüchtigen Notierungen aus einer Laune des Augenblicks heraus, bis zu feierlichen Setzungen: „Am Tag des Sieges über den Faschismus senden wir Kampfesgrüße an alle Angehörigen der ruhmreichen Roten Armee! Die Garde-Oberstleutnants der Nachrichtentruppe“46. Inschriften, die eine deutliche Häme des Siegers gegenüber den Besiegten erkennen lassen, lauten: „Am 3. Mai 1945 besichtigten der Odessaer Peskin und der Leningrader Shitmarjow die Ruinen von Berlin. Das machte sie froh und zufrieden!“, „Für Leningrad haben sie voll bezahlt!“ oder: „Hier war und hat ausgespuckt: Gornin47. Das gewählte Medium erlaubt einen Rückschluss auf den jeweiligen Autor: den einfachen Soldaten stand meist nur Holzkohle oder Kreide zur Verfügung, während Offiziere farbige Ölkreide einsetzten, mit der sie beim Vormarsch auf Berlin ihre Geländekarten markiert hatten.

Die Wandoberflächen und damit auch die Graffiti hatten durch den Umbau in den 1960er Jahren stark gelitten, die Steinoberflächen waren aber durch die Kriegseinwirkungen schon vor ihrer Beschriftung stark verschmutzt. Dazu kamen noch die Spuren vom Reichstagsbrand 1933. Die Brandspuren und Verschmutzungen durch die Kriegszerstörung, auf denen die Graffiti aufliegen, sollten wegen der repräsentativen Nutzung des Reichstags reduziert werden. Die komplette Abnahme der Verschmutzungen schied aber von vornherein aus, denn das Resultat wären „herausstechende Graffiti auf sauberen Untergründen“ gewesen, „eine historisch nie existente Erscheinung, die die geschichtliche Aussage verfälscht und den dokumentarischen Wert“ gemindert hätte.48

Zwei besondere Orte der Erinnerungskultur führen uns wieder zur Ludwigsburger, bzw. württembergischen Geschichte zurück: Die Fingalshöhle bei Obernzenn in Franken (Tafel 9/1) und die Burgruine Weibertreu über Weinsberg (Tafel 9/7, 8).

Die Fingalshöhle ist ein alter Steinbruch und erhielt die Bezeichnung ‚Höhle‘ von einem inzwischen verschütteten Felsenkeller, der erst einer Urfersheimer Brauerei und später einem Bauern aus Sontheim als Lagerkeller diente. Während des Dreißigjährigen Krieges und der Napoleonischen Feldzüge soll das Gelände vom Militär als Quartier und von den Bewohnern umliegender Ortschaften als Versteck genutzt worden sein.

Doch was hat diese vermeintliche Höhle mit dem Ludwigsburger Schloss zu tun? Die Wände sind bedeckt mit Inschriften der Adelsgeschlechter Seckendorff, Rothenhan und Guttenberg. Mitglieder der Familie von Seckendorff standen auch in württembergischen Diensten. Freiherrn Johann Carl Christoph von Seckendorff (1747-1814) war Staatsminister König Friedrichs und wurde 1810 in den Grafenstand erhoben. Seine Frau Auguste Luise von Seckendorff, geborene von Biedenfeld (1760-1806) war Staatsdame der Königin Charlotte Mathilde (Tafel 9/02).49 Auch Mehrere Hofdamen der Königin stammten aus der Familie Seckendorff. Von ihrer Anwesenheit im Schloss zeugen heute noch Umschläge und Brieffragmente, die in den Fehlböden gefunden wurden. (Tafel 9/03).


Tafel 9: 1 Fingalshöhle bei Obernzenn in Franken; 2 Johann Carl Christoph von Seckendorff, herzoglich württembergischer Kammerherr, Regierungsrat und Kreisdirektorialgesandter und Auguste Luise von Seckendorff, geborene von Biedenfeld mit ihren Kindern, Aquarell von Caroline Eisenlohe 1791. 3 Brief an Madame de Seckedorff; 4, 5 Graffiti in der Fingalshöhle„Auguste von Guttenberg XIII. Sept. MBCCXCIV [1794]“, „ieanette [Jeanette] von Seckendorff 1799“ und „Caroline von Seckendorff 1799“. 6 Graffito des Kanonier „Bondu_“ in der Fingalshöhle, 1806. 7 Inschriften im „dicken Turm“ der Weibertreu, Postkarte um 1900; 8 Weibertreu, so genannte Königsmauer.

Im ausgehenden 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zog es die adlige Gesellschaft immer wieder aus Schloss Obernzenn hinaus in die Fingalshöhle. Diese Bezeichnung verdankt der Ort der sentimentalen Hinwendung zur Natur und einem Sinn fürs Mystische in der heraufziehenden Epoche der Romantik. Der Steinbruch bezieht seinen Namen von einer Gestalt der irisch-schottischen Sagenwelt und der Ossiandichtung. Abgeleitet wurde er nämlich von der sagenumwobenen Fingalshöhle auf der Hebrideninsel Staffa, einer mächtigen Basaltgrotte.

Zur Erinnerung an eine fröhliche Landpartie ließ man damals Namen und Jahre in die geglätteten Felswände hauen. Somit dokumentieren die Inschriften das Lebensgefühl der gehobenen Gesellschaft um 1800. In den Stein gehauen ist u.a. zu lesen: „H. v. Seckendorff“, „Alexander von Seckendorff“, „ieanette [Jeanette] von Seckendorff 1799“, „Caroline von Seckendorff 1799“ (Tafel 9/4, 5), „Louis von Seckendorff 1799“, „Ernst Carl v. S. 1799“. Auch Damen der Familie Rotenhan verewigten hier eine Zusammenkunft: „1802/Wilhelmine v. Truchsess/Geb. v. Rotenhan/Marie v. Rotenhan/Sophie v. Rotenhan/Auguste v. Rotenhan“.

Den Adeligen gleich taten es Bürger und Soldaten der napoleonischen Armee, die in den umliegenden Ortschaften lagerten. Ein Kanonier aus Napoleons Truppen brachte eine große Inschrift an, mit zwei Kanonen und einer Kanonenkugel verziert: „BONDU_/CANONNIER/A CHEVAL [zu Pferd] AU/3.E RÉGIMENT/CORPS IMPERIAL/PREMIERE/COMPAGNIE/LE 2. MAI 1806“ (Tafel 9/6).50

Ebenfalls auf Französisch verfasst ist ein Nachruf auf Ludwig Heinrich Vollrath von Erckert. Hauptmann von Erckert befehligte im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ein Regiment, das der Ansbacher Markgraf Alexander als Subsidientruppen an den König von England vermietet hatte. Die fränkischen Söldner hatten den Auftrag, die britischen Truppen gegen die aufständischen Siedler zu unterstützen. Am 10. Oktober 1777 fiel der Kompaniechef bei der Schlacht von Montgomery.51 Zu lesen ist auf dem Fels: „Le Capitaine V. L. de/Erckert/Fut tue à l‘attaque a Mongom/mery en Amrique 16. Oct./1777. A l’age de 42 ans/Son souvenir est gravé/plus profondément dans/le cœur de sa veuve que/son Nom sur cette pierre“ – Sein Andenken ist tiefer im Herzen seiner Witwe eingegraben, als sein Name auf diesem Stein. Ein Verwandter im Dienst der Obernzenner Seckendorff verfasste wohl die Inschrift, allerdings mit einem falschen Todestag. Durch diese vielfältigen Graffiti wird dieser Ort schließlich „schier zum ‚orbis pictus‘, zum Lesebuch der Weltgeschichte.“52

Die Burgruine Weibertreu in Weinsberg ist ein ganz besonderer Ort der Erinnerungskultur. Der Dichter Justinus Kerner bemühte sich um die Erhaltung der Ruine und rief zu diesem Zweck 1823 den „Frauenverein Weinsberg“ ins Leben. Kerner führte Freunde und Besucher zur Burg und ließ in den Nischen des „Dicken Turms“ Äolsharfen einbauen.53

Sein Sohn Theobald Kerner initiierte das „steinerne Album“ im Dichterturm: Die Namen der Burgbesucher wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, häufig mit dem Jahr ihres Besuchs, in die Mauern gemeißelt (Tafel 9/7). Es handelt sich hier somit nicht um Graffiti im klassischen Sinn, sondern um offizielle Inschriften, zu denen sich Verse von Kerner, Karl Mayer, Eduard Mörike und Nikolaus Lena gesellen. Adelige Besucher wurden prominent an der sogenannten Königsmauer verewigt (Tafel 9/8). Zu finden sind in der Burg u.a. die Namen von: D. Schubart 1770, A. v, Arnim 1822, Schleiermacher 1830, Cl. Brentano, der Maler Ludwig Richter, Thouret, Wilhelm Hauff, König Karl oder Graf Alexander von Württemberg. Graf Alexander hatte übrigens den Seracher Dichterkreis gegründet, dem Ludwig Uhland, Nikolaus Lenau, Emma Niendorf, Gustav Schwab, Justinus Kerner, Hermann Kurz, Karl Mayer und Karl August Varnhagen von Ense angehörten. Sie trafen sich seit 1831 regelmäßig bei Esslingen am Neckar auf Schloss Serach, dem Sommersitz des Grafen Alexander von Württemberg, aber auch bei Kerner in Weinsberg. Die Ruine Weibertreu wurde durch das „steinerne Album“ zum Denkmal der schwäbischen Romantik.

Bleiben wir noch kurz im württembergischen, denn mit Herzog Carl Eugen ist in Bezug auf ein Graffito eine pikante Geschichte von dessen erster italienischer Reise verknüpft, die ein Schreiben von Papst Benedikt XIV an Kardinal Tencin vom 23. Mai 1753 offenbart. Der Papst berichtete er wollte dem Herzog von Modena antike Statuen abkaufen, die in dessen Villa d’Este in Tivoli stehen. „Unter Ihnen ist eine schöne nackte Venus, und auf einer Hinterbacke von ihr hat man, eingeritzt mit der Spitze eines Diamanten, den Namen des Herzogs von Württemberg gefunden, und auf der anderen den der Fürstin, seiner Frau; Eingriffe, ausgeführt von beiden, als sie kurz vor der Abreise aus Rom in Tivoli waren.“54 Bis 1830 stand jene Venusfigur im Salon des Kapitolinischen Museums und ist seitdem nicht mehr auffindbar.55

Auch mit dem Ende von Carl Eugens Karlsakademie ist ein Graffito verknüpft. Anlässlich der Auflösung der Akademie 1794 unter Herzog Ludwig Eugen, sollten die Gebäude zu Pferdeställen umgebaut werden. Der ehemalige Akademist Johann Christoph Friedrich Haug schrieb mit Kreide folgendes Epigramm über die Tür: „Olim musis, nunc mulis (Einst den Musen, nun den Maultieren).“56

2.3 Graffiti als Motiv in der bildenden Kunst

Graffiti finden sich nicht nur auf Gegenständen jeglicher Art, sondern auch als Motiv in der Bildenden Kunst, bis sie schließlich im 20. Jahrhundert selbst zur Kunstform werden. Daher sei hier kurz eine kleine Auswahl von Kunstwerken verschiedener Jahrhunderte vorgestellt.

Bereits in der Antike gibt es das Graffito als Bildmotiv. Ein griechisches Vasenbild mit einer Szene aus einem Frauengemach eines vornehmen attischen Hauses zeigt die sitzende Hausherrin, die ihren Schmuck abgelegt und den Klängen einer Flötenspielerin lauscht, während eine Dienerin die Schmucktruhe hinausträgt (Tafel 10/1). Auf die mit Beschlägen verzierte Holztür ist eine Büste geritzt oder gemalt. Graffito, Verschlüsse der Truhe oder Türbeschläge zeigen, dass es dem Maler „nicht um eine scherzhafte, sondern eine ungewöhnlich realistische Darstellung57 dieses attischen Hauses ging.

Die ausgesprochen große Anzahl bildlicher Graffiti und ihre starke Präsenz in den Wohnräumen zeigt ihren kommunikativen Stellenwert in der antiken Gesellschaft. Graffiti waren ein Bestandteil einer populären Alltagskultur, die sich von den Formen der Hochkultur deutlich absetzten.

Zwei Bordellszenen des so genannten „Braunschweiger Monogrammisten“, einem niederländischen Meister des 16. Jahrhunderts, sind ein interessantes Zeugnis für das Beschreiben von Wänden.58 Der Monogrammist hat mit seinen Bildern von Gasthäusern und Bordellen die ersten rein profanen, sittenschildernden Tafelbilder der Niederlande geschaffen. Nicht nur die Tatsache der Sittenschilderung ist bemerkenswert, sondern auch die Milieuwahl. Diese „ungeschminkte Schilderung von Lokalen, die zugleich Gasthaus und Bordell in einem sind, deren Besucher – Bauern und Soldaten – teils Karten spielen, teils mit Mädchen essen und trinken, teils sich in separate Gemächer zurückziehen“,59 ist die eigentlich neue, kunstgeschichtlich folgenreiche Tat des Malers. Aber auch diesen Bildern liegt eine moralisierende Absicht zugrunde, denn im Prinzip reihen sich die Bordellszenen in die Tradition der Lasterdarstellungen und die Geschichte vom „verlorenen Sohn“ ein. Das 1540-1550 entstandene Frankfurter Bild (Tafel 10/2) enthält zwei deutliche moralische Fingerzeige: Im Bildmittelgrund auf der Treppe präsentiert ein Freier in seiner linken Hand eine Kugel, „die hier vielleicht am ehesten als Anspielung auf die Unbeständigkeit des Liebesglücks gesehen werden kann.“60 In einer Infrarotaufnahme ist zu sehen, dass der Freier links im Nebenzimmer ursprünglich als Mönch dargestellt war, dessen Tonsur und Kutte durch eine Übermalung verdeckt wurden. Diese Entdeckung lässt die Frankfurter Bordellszene in neuem Licht erscheinen, denn der Franziskanermönch „hat das Freudenhaus offenkundig nicht in der Absicht betreten, den dort Anwesenden die Sündhaftigkeit ihres Tuns vor Augen zu führen: Er tritt vielmehr selbst als Freier auf.“61 Die sich in dieser Bilderfindung niederschlagende Kritik an den kirchlichen Zuständen der Zeit steht im erhaltenen Œuvre des „Braunschweiger Monogrammisten“ isoliert da. Dies könnte erklären, weshalb ein späterer Besitzer die Bildaussage dadurch entschärfen ließ, dass der Franziskaner in einen weltlichen Bordellbesucher verwandelt wurde.62


Tafel 10: 1 Graffito auf einer Tür eines vornehmen attischen Hauses, Vasenmalerei. 2 Braunschweiger Monogrammist, Soldaten und Mädchen in einem Bordell. An den Wänden sind zahlreiche Schrift- und Bildgraffiti zu sehen. 3 Braunschweiger Monogrammist, Lockere Gesellschaft (Bordellszene), 1535/1540. 4 Pieter van Laer, „Die Künstlertaverne“, 1630, deren Wände mit Graffiti übersät sind.5 Graffito als Karikatur des Malers; 6 Selbstportrait van Laer’s.

Die Holz- und Steinwände der Räume sind mit Graffiti bedeckt – unleserliche Sprüche und Zeichnungen. Am Kamin fällt aber die Zeichnung eines Vogels mit Menschenkopf auf und die Schuldenstriche daneben betreffen den Konsum der Gäste.63 Sander ist es gelungen, an der Seite des Kaminmantels Wortfetzen zu entschlüsseln. In der oberen Zeile steht „porn (…) anus [eventuell auch als „anis“ oder „anas“ zu lesen]. Als Bedeutung kämen pornia („das Bordell“) oder porna („die Dirne“) bzw. anus („der Hintern“) oder anus („die Alte“; im verächtlichen Sinne) […] in Betracht.“ Das letzte Wort in der unteren Zeile verweist ebenfalls auf den erotisch-vulgären Bereich: „fornix („das Bordell“), fornicatrix („die Dirne“).“64

Das Berliner Bild von 1535/40 zeigt ebenfalls Graffiti und verschiedene symbolische Zeichen an den Wänden (Tafel 10/3). Im Eingang hängt ein Käfig, der symbolisiert, „dass hier ‚lockere Vögel‘ anwesend sind.“65 Auffallend ist eine Inschrift auf dem Verschlag neben der Eingangstür, bei der jeder Anfangsbuchstabe „D“ eines Wortes aus einem mit weißer Kreide gezeichneten Phallus gebildet ist. Nach Stahl lautet die Inschrift: „dit dinck doet die dochter dalen66Dies Ding lässt die Tochter sinken“. Auf der linken Seite ist ein eingebauter Zwischenstock zu sehen. Aus einer Öffnung neigt sich eine Frau hinaus und scheint etwas auf die Holzwand zu schreiben. Graffiti bilden hier „die kennzeichnenden obszönen Spuren derartiger Häuser.“67 Sie erfüllen damit einen moralisierenden Zweck in den Bildern des „Braunschweiger Monogrammisten“.

Ein anderes Werk, in dem Graffiti eine Rolle spielen, stammt aus dem 17. Jahrhundert. Die „Künstlertaverne“ von Pieter van Laer68, um 1630 entstanden, setzt sich ironisch mit der Hochkunst auseinander (Tafel 10/4). Gezeigt wird der Innenraum eines Gasthauses, das van Laer und sein Künstlerkreis in Rom frequentierten. An den Wänden sind zahlreiche Zeichnungen zu sehen, so mag man sich die Taverne auch in der Realität vorstellen. An der Wand steht der Anfang des Wortes „Bamboots“, eine Variante von van Laer‘s römischen Spitzname „Bamboccio“. Die Figuren entsprechen ihrer Ausführung nach zwar Karikaturen, zitieren aber ikonografische Traditionen: Auf der rechten Seite symbolisiert das Skelett mit dem Stundenglas den Tod, daneben steht eine monströse Figur des Pan. Auf der linken Seite der Wand karikierte sich der Maler in dem Profilkopf selbst (Tafel 10/5). Vor allem die große markante Nase entspricht der Silhouette im Selbstportrait van Laers (Tafel 10/6). Die untersetzte kleine Figur mit den dünnen Beinen neben dem Kopf bezieht sich auch auf van Laer. Der Holländer wurde Bamboccio genannt, womit eine unbeholfene Puppe oder Marionette gemeint ist und auf seine Statur mit den langen, schlaksigen Beinen und der schmalen Brust zurückzuführen ist. Das Wort bezieht sich aber auch auf kindische oder schlecht ausgeführte Kunstwerke.

In der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts finden sich häufig Graffiti, Maler scheinen sie als alltägliche Erscheinung registriert zu haben.

So zeigt Hendrik Avercamp auf einem Gemälde kindliche Kritzeleien auf den Außenwänden von Hütten und brachte seine Signatur „HAenricus AV“ dort als Graffito an (Tafel 11/1, 2).69 Auch in Darstellungen niederländischer Kircheninterieurs von Pieter Saenredam finden sich Graffiti häufig auf den Wänden, z.B. im Bild „Das Innere der Buurkerk in Utrecht“ (Tafel 11/3, 4).70 Im Kontrast zur würdevollen Architekturdarstellung tauchen hier Graffiti als Kritzeleien eines Kindes an der Wand im Vordergrund auf. Das Kind hat vier Reiter auf einem Pferd gezeichnet. Hinter dem vermeintlich naiven Graffito steckt aber die Anspielung auf eine mittelalterliche französische Legende: Die vier Söhne des Haimon von Dordogne fliehen auf ihrem magischen Pferd Bayard vor Karl dem Großen, denn einer der Söhne hatte dessen Neffen getötet. Unter das Graffito hat der Künstler seine Signatur gesetzt. Ein Vergleich der Unschuld kindlicher Gedanken mit der eigenen Unschuld des Künstlers? Auch andere Künstler signierten ihre Bilder indem sie ein Graffito darin versteckten, z.B. Jean-Siméon Chardin. Die Signatur findet sich in seinen Gemälden in Tische oder Türen „geritzt“ oder in Steine „eingemeißelt“. Im Stillleben mit den Attributen der Künste findet sich die Signatur auf der Brettkante, im Hintergrund an der Wand das Graffito eines Kopfes (Tafel 11/5).71

Im 18. Jahrhundert nutzt William Hogarth Graffiti in seinen Kupferstichen, um bestimmte Milieus zu charakterisieren, wie es schon der „Braunschweiger Monogrammist“ getan hat.

Zunächst ist auffällig, dass Graffiti an sozialen Tiefpunkten der Protagonisten auftauchen, im Gefängnis72, im Irrenhaus73 oder in der Gosse. Hogarth nutzt die Wandzeichen, um auf den Betrachter moralisierend zu wirken, schließlich bezeichnet er seine Kunst selbst als „modern moral subjects“.


Tafel 11: 1, 2 Hendrick Avercamp Signatur „HAenricus AV“ unter den Kritzeleien auf einer Hütte, 1608. 3, 4 Pieter Saenredam, „Das Innere der Buurkerk in Utrecht“, 1644. Ein Kind kritzelt Graffiti auf die Wand. Darunter befindet sich die Signatur des Künstlers.5 Jean Siméon Chardin setzte seine Signatur wie ein Graffito auf das Holzbrett. 6 William Hogarth, „The four stages of Cruelty“ (1750). Auf dem ersten Blatt der Serie zeigt das Graffito auf der Mauer bereits das Ende des grausamen Protagonisten Tom Nero: Er wird am Galgen hängen. 7 In eine Fensterscheibe im Marszimmer des Ludwigsburger Schlosse ritzte 1798 ein Glasergeselle den obszönen Spruch: „Ein Jungfer und ein Glasersgsell sind 2 Verbrechens Ding. Es ist um einen Stoß zu thun so sind beyde hin“.8 Eine Frau schneidet in eine Baumrinde 1796; 9 Brassaï, Graffiti parisiens 1933. 10 moderne Graffiti-Tags.

„The four stages of Cruelty“ (1750) verfolgt den Werdegang des grausamen Protagonisten Tom Nero (Tafel 11/6). Das erste Blatt der Stichfolge zeigt Tom und andere Straßenjungen, die Tiere quälen. Einer der Jungen kritzelt ein Galgenmännchen und den Namen „Tom Nero“ auf die Wand. Das Graffito deutet hier schon das Ende der Geschichte an: Tom wird später genauso enden, wie die von ihm gequälten Katzen.

1731 erschien in England eine Schrift: „The Merry Thought: Or the Glass-Window and Bog-House Miscellany“, eine Graffiti-Anthologie, deren Material der Autor angeblich von Toilettenwänden und Fensterscheiben sammelte.74 Der Untertitel suggeriert zwar, es handle sich um authentisches Material, in Wahrheit ist die Schrift aber eine Satire auf vornehme adelige und wissenschaftliche Kreise, denn Graffiti waren eine Provokation für die Hüter des guten Geschmacks in der englischen Kunst des 18. Jahrhunderts. Die Sammlung Thrumbo‘s ist zugleich auch eine Literaturkritik und wendet sich gegen die konventionelle Poetik, indem sie ein anderes poetisches Ideal vertritt: Die Spontanität der Nichtpoeten. Insofern ist die Sammlung von Inschriften programmatisch und es sei dahingestellt, ob der Autor tatsächlich alles so vorgefunden hat, wie er es wiedergibt oder ob auch freie Erfindungen darunter sind.

Dass es solche Ritzinschriften gab, ist nicht zu bezweifeln und ist auch an anderer Stelle literarisch belegt. William Defoe lässt in „Moll Flanders“ das Paar einen kleinen Dialog in eine Fensterscheibe ritzen:

One morning he pulls off his diamond ring and writes upon the glass of the sash in my chamber this line: You I love and you alone.

I read it and asked him to lend me the ring, with which I wrote under it thus: And so in love says every one.

He takes his ring again and writes another line thus: Virtue alone is an estate.

I borrowed it again, and I wrote under it: But money’s virtue, gold is fate.75

Einen sinngemäß ähnlichen Spruch ritzte der Glasergeselle Christian Ludwig Eichenbrander 1798 in eine Scheibe im Marszimmer des Ludwigsburger Schlosses (Raum 193; Tafel 11/7): „Ein Jungfer und ein Glasersgsell sind 2 Verbrechens Ding. Es ist um einen Stoß zu thun so sind beyde hin“. Daneben steht: „Christian Ludwig Eichenbrander Glasers Gesell bey Herrn Meister Andreas Wirthauß (?) da in Ludwigsburg Anno 1798 d. 24. May“.

Auch Bäume waren ein bevorzugtes Medium, um sich oder seine Liebe zu verewigen. Ein Scherenschnitt von 1796 zeigt eine Dame in eine Baumrinde schneidend, vermutlich den Namen ihres Geliebten (Tafel 11/8). Solche Freundschaftsdenkmäler erinnern an die Vergänglichkeit des Lebens beschwören damit den Augenblick und sollen die Freundschaft erhöhen: „Ich schnitt es gern in alle Rinden ein“, dichtete Wilhelm Müller 1821 in seinem Gedichtzyklus »Die schöne Müllerin«, 1823 von Franz Schubert vertont.

Im 19. Jahrhundert erwacht dann ein breiteres Interesse an Graffiti und es wird ein Zusammenhang zwischen Graffito, Karikatur und Kinderzeichnung (aber auch dem Tattoo, der Volkskunst und der außereuropäischen Kunst) hergestellt. „ Graffiti was recognized as part of man’s basic creative instinct, his most primary form of art. It is not surprising, therefore, that critics began to study the existingprimitiveart still to be found in Paris, the graffiti sketches they had ignored for so long.“76

Brassaï setzte sich als erster ernsthaft künstlerisch mit Graffiti auseinander und fotografierte die Wände von Paris (Tafel 11/9), denn er sieht „die Wand als Anregerin77:

Unter all diesen Medien, die zwischen Wirklichem und Erträumtem vermitteln, ist die Wand zweifellos das reichste an innewohnenden Bildern. Zunächst ist die Wand unter ihrem Bewurf aus angehäuften Sanden, Mörtel, Gips – unterm Schutz einer Farbschicht – nichts weiter als eine flächige Einheit: sauber, glatt und ohne Runzeln. In ihrer Nacktheit, ihrer einfarbenen Strenge, ist sie wie eine präparierte Malfläche, die nur auf den schöpferischen Atem wartet. […] Alle Elemente wirken ein und fallen den weichen, körnigen Verputz an. Die Fröste zerren, die Hitzen dehnen ihn, die Feuchtigkeit bläht ihn auf. Wind, Rauch, Gase, Regen fräsen ihn mit Ruß und Staub. Die Farbe fängt an abzublättern, frühere Farbschichten schimmern durch. Wasserrinnsale siedeln Schimmel, Flechten, Wachstum an. Kaum sichtbar zu Beginn, werden diese Veränderungen merklicher und merklicher, und zuletzt ist das Ursprüngliche kaum mehr erkennbar. Die „Krakelüren“, d.h. die Risse, die Spalten, die Brüche durchfurchen den Verputz. Schrunden und klaffende Wunden bedecken die Wand. Es bedarf nur noch, um das „Bild“ zu vollenden, der zufälligen Kerben, des Kindergekritzels, wuchtiger Pinselhiebe, Buchstabengeschmiere und hängen gebliebene Plakatfetzen. […] Erstaunt es einen da noch, wenn eine alte Mauer uns ihre Ähnlichkeit mit einer Landschaft aufdrängt? Ist sie nicht die letzte Ausformung der Erdkruste? […] Eine alte Mauer ist niemals, wie es ein Tafelbild sein kann, „hingehudelt“. Die Zeit arbeitet an ihr, und die Zeit nimmt sich Zeit.78

Diese poetische Betrachtung der Wand ist natürlich aus denkmalpflegerischer Sicht interessant. In der gängigen Praxis der Denkmalpflege werden nämlich die Spuren auf den Wänden meist ausgemerzt. Dabei verschwinden auch Graffiti, die Brassai als „Sprache der Wand“ auffasst und im Hinterlassen eines Graffito sieht er „den Wunsch der Demütigen: fortzuleben“.79 Die 70er Jahre sind schließlich die Geburtsstunde der gesprayten Graffiti, die in den USA plötzlich massenhaft auftreten und von Soziologen, Philosophen und Künstlern schnell als Kommunikations- und Ausdrucksform erkannt wurden. Die breite Öffentlichkeit aber, ebenso wie die Denkmalpflege begannen Graffiti als Störung wahrzunehmen (Tafel 11/10).

Baudrillard bezeichnet das Auftreten der Graffiti in den USA als den „Aufstand der Zeichen“, „einer radikalen Revolte gleich, zu sagen: ‚Ich existiere, ich bin der und der, ich wohne in dieser oder jener Straße, ich lebe hier und jetzt‘.“80 Das Graffito wird zum „Schrei, als Einwurf, als Anti-Diskurs.“81

Diese Beispiele aus verschiedenen Jahrhunderten zeigen, dass Graffiti in der Entstehungszeit der jeweiligen Kunstwerke als Kommunikationsform bekannt waren und angewendet wurden. Graffiti gehörten durchaus zum alltäglichen Bild. Die künstlerische Auseinandersetzung mit ihnen belegt, dass sie wahrgenommen und rezipiert wurden, auch wenn die Künstler verschiedene Intentionen hatten, sie in ihre Kunst zu integrieren. Diese reicht von einer Identifikation mit Graffiti als Ausdruck der Volkskunst bis zu einer moralischen Funktion, um z.B. ein bestimmtes Milieu zu charakterisieren oder dem setzen einer Signatur in der Art eines Graffitos.

In den Bordellszenen scheinen die Graffiti eher spontane Äußerungen privater Art zu sein: Vulgäre Witze, Zoten, Spott. Die Worte porn…anus, „die alte Dirne“ oder der „Dirnenarsch“, können auf eine bestimmte Person gemünzt sein. Die modernen New Yorker Graffiti dagegen sind Zeichen einer Gruppenzugehörigkeit und sprengen den Rahmen des Privaten, indem sie alle urbanen Flächen besetzen. Darum sieht Baudrillard durch Graffiti die Wände von der Architektur befreit.82

1 Kraack 1997, Adelsreise, Inschriften und Graffiti des 14.-16. Jahrhunderts, S. 378.

2 Langner 2001, Antike Graffitizeichnungen, S. 25.

3 Bernand 1983, Graffito, S. 679f.

4 Langner 2001, S. 79.

5 Der Begriff „Spurensicherung“ stammt aus der Kriminologie und wurde von Günter Metken in den 70er Jahren für bestimmte Künstler eingeführt, z.B. Christian Boltanski, Anne und Patrick Poirier, Dorothee von Windheim, Nikolaus Lang. In diesen künstlerischen Arbeiten mischen sich Fiktion und Authentizität. Die „Spurensicherung“ drehte sich um fiktive Spuren, fiktive Wissenschaftlichkeit, letztlich um das Ich des Künstlers und richtet sich gegen die Verwissenschaftlichung unserer Welt. Die Fiktion hat aber auch Eingang in die Wissenschaft gefunden, z.B. in der Ethnologie. Da die ethnologische Beobachtung und Beschreibung stets subjektiv ist, werden zur Verdeutlichung Fiktionen eingesetzt. Siehe: Geertz 2002, Dichte Beschreibung.

6 Ricoeur 1991, Zeit und Erzählung. Die erzählte Zeit. Archiv, Dokument und Spur, 191ff.

7 Jones-Baker 1993, English Mediaeval Graffiti, S. 4.

8 Vgl. Schlumbohm 1998, Mikrogeschichte. Makrogeschichte. Siehe: Ginzburg 1983, Spurensicherungen.

9 Ricoeur 1991, S. 188.

10 Vgl. Langner 2001, S. 19.

11 Langner 2001, S. 20.

12 Innerhalb der Reihe der Deutschen Inschriften findet sich eine uneinheitliche Terminologie; dort werden u.a. synonym verwendet: „Graffiti“, „Graffito“, „Kritzelinschrift“, „Ritzinschrift“, „Ritzzeichnung“, „Sgraffito“, „Verewigung“, „Wandkritzelei“.

13 Scholz 1998, Graffiti, S. 558. Von den gewöhnlichen Graffiti unterscheiden sich die Besitzer- oder Dedikationsinschriften, angebracht auf einem Gegenstand, um die Eigentumsverhältnisse zu klären.

14 Pietri 1983, Graffito, S. 641. Von den Graffiti abgegrenzt sind die Inschriften, da sie planmäßig entstanden sind, dauerhaft in Stein gemeißelt. Ausgegrenzt aus Pietris Graffito-Begriff werden die auf die Mauern gemalten Inschriften in Pompeji, weil sie häufig die Funktion heutiger Plakatanschläge erfüllten.

15 Bernand 1983, S. 669.

16 Ebd.

17 Kraack/Lingens 2001, S. 9f.

18 Siegl, Norbert, Wiener Graffiti-Archiv. Quelle: http://www.graffitieuropa.org/archiv.htm – Besonders in der Variante der „American graffiti” bezieht der Begriff auch offiziell ausgeführte Auftragsarbeiten und künstlerische Produktionen mit ein.

19 Bernand 1983, S. 671.

20 Fabri, Pilgerreise, zitiert nach Kraack/Lingens 2001, S. 225.

21 Kraack/Lingens 2001, S. 227f.

22 Ebd.

23 Kraack/Lingens 2001, S. 228.

24 Vgl. Götz 2001, Der Klassenprimus am Galgen, S. 100.

25 Cichy 1974, Die Lindenanlage von Neuenstadt am Kocher, S. 2.

26 Ebd. S. 2.

27 Die Sandsteinsäulen wurden im Lauf der Zeit mehrfach ausgebessert, repariert und in den 1970er Jahren teilweise durch Kopien ersetzt. Graffiti wurden im Gegensatz zu den Adelswappen nicht auf die Kopien übertragen.

28 Lingens 2001, Graffiti von Goethe, S. 28f; nach Johann Wolfgang von Goethe. Dichtung und Wahrheit.

29 Kraack/Lingens 2001, S. 29.

30 Denkmalschutz 1997, Handbuch, 15.01, S. 2.

31 Huse 1997, Unbequeme Baudenkmale, S. 15f.

32 Petzet/Mader 1995, S. 213.

33 Huse 1997, S. 27.

34 Petzet/Mader 1995, S. 148.

35 Neuhaus 1994, Bau- und Putzbefunde im Chor der Kirche Pfäffikon, S. 142.

36 Ebd. S. 143ff.

37 Vgl. Barthel 1962, Mittelalterliche Rötelzeichnungen am Dom zu Erfurt.

38 Vgl. Barthel 1962, S. 253. Für die Vermutung, es könne sich „um einen von den Bauleuten angefertigten Aufriss handeln“ (Barthel), sind die Kirchenzeichnungen architektonisch allerdings zu ungenau. Im Limburger Dom sind dagegen tatsächliche Risse zu sehen.

39 Vgl. zu Baugeschichte und Restaurierung: Nicol 1985, Der Dom zu Limburg.

40 Vgl. Winterfeld 1985, Zum Stand der Baugeschichtsforschung, S. 84. Pick/Luisa 1979,. Dom und Domschatz in Limburg.

41 Vgl. Maulbronn 1997, Zur 850jährigen Geschichte des Zisterzienserklosters, S. 74ff.

42 Stangl/Lang 1995, Mönche und Scholaren, S. 46-48.

43 Maulbronn 1997, S. 75.

44 Vgl. Götz 2001.

45 Foster 2000, Der neue Reichstag, S. 76. Siehe: Forster 2003, The Reichstag graffiti.

46 Foster 2000, S. 119.

47 Foster 2000, S. 118f.

48 Obermann 1998, Kohle-Inschriften auf Stein von 1945, S. 194. Ohne Zweifel hat in diesem Fall auch der Schmutz eine historische Bedeutung. Kritisch sei angemerkt, dass Schriftzüge der Arbeiter, die während dem Umbau in den 60iger Jahren angeschrieben wurden, entfernt worden sind.

49 Vgl. Schulz 1999, S. 151f.

50 Vgl. Schultheiß, Fingalshöhle, 1986; Ramisch, Landkreis Uffenheim, 1966, S. 220. Hier sind alle älteren Inschriften genannt.

51 Vgl. Burgoyne 1993, A Hessian Diary of the American Revolution, S. 52f.

52 Heller 1993, Denk mal! S. 222

53 Vgl. Seeber 2006, Burg Weibertreu; Meißner 1926, Ein steinernes Album.

54 Zitiert nach: Zahlten 1993, Die Italienische Reyße, S. 28.

55 Vgl. Uhlig/Zahlten 2005, Die großen Italienreisen Herzog Carl Eugens, S. XXXII.

56 Baden und Württemberg 1987, Katalog, Band 1.2, S. 942. Zur Person Haugs siehe S. 800. Vgl. Schulz 2017, „Was für ein Schweinswal“, S. 6f. (im Druck).

57 Langner 2001, S. 93.

58 Braunschweiger Monogrammist (Jan van Hemessen?), Soldaten und Mädchen in einem Bordell, 1540/1550, Städelsches Kunstinstitut Frankfurt, Inv. 249. Braunschweiger Monogrammist, Lockere Gesellschaft (Bordellszene), 1535/1540, Gemäldegalerie Berlin, Inv. 558.

59 Schubert 1970, Die Gemälde des Braunschweiger Monogrammisten, S. 87. Siehe: Renger 1970, Lockere Gesellschaft, S. 96ff.

60 Sander 1993, Braunschweiger Monogrammist, S. 362f.

61 Sander 1993, S. 364.

62 Im 16. Jahrhundert hat ein venezianischer Mönch ein auf ihn gemünztes Graffito als juristisches Belastungsmaterial vor die Inquisition gebracht. Vgl. Fehl/Perry 1984, Painting and the inquisition at Venice.

63 Im 1559 gemalten Bild „Die niederländischen Sprichworte“ von Pieter Brueghel (Berlin, SMPK, Gemäldegalerie) stehen die Schuldenstriche für die Redensart: „er steht in der Kreide“.

64 Sander 1993, S. 356.

65 Stahl 1990, Graffiti zwischen Alltag und Ästhetik, S. 60.

66 Dankenswerter Hinweis von Dr. Rainald Grosshans, Gemäldegalerie Berlin; Stahl 1990, S. 60.

67 Schubert 1970, S. 89.

68 Kupferstichkabinett Berlin. Vgl. Levine 1987, Pieter van Laer’s Artists Tavern.

69 Hendrik Avercamp (1585-1634): „Winterlandschap met schaatsers“, ca. 1608, Rijksmuseum Amsterdam.

70 Pieter Saenredam (1597-1665): Das Innere der Buurkerk in Utrecht, 1644. London, National Gallery.

71 Jean-Siméon Chardin, Still life with attributes of the arts 1724-28, Puschkin Museum, Google Art Project.

72 William Hogarth, „A Harlots Progress “, 1732. Auf dem Fensterladen im Hintergrund findet sich z.B. ein Galgenmännchen.

73 William Hogarth, „A Rake“s Progress“, 1735, Bl, 8 (Zustand 1763). Im Irrenhaus zeichnet ein Irrer Längenmeridiane an die Wand, daneben steht „Longitude“. Die Buchstaben „LE“ neben der Tür könnten auf den bis 1689 im Irrenhaus Bedlam eingesperrten Dramatiker Nathaniel Lee hinweisen. Schließlich hat ein verliebter irrer „Charming Betty Careless“ ins Treppengeländer geritzt, eine Anspielung auf eine zeitgenössische Prostituierte. William Hogarth 1986, S. 105f.

74 The Merry Thought 1731.

75 Defoe 1722, Moll Flanders, S. 71- 2.

76 Sheon 1976, The Discovery of Graffiti, S. 22.

77 Brassaï 1960, Graffiti, S. 16. Die Fotografien entstanden 1933.

78 Ebd., S. 16f.

79 Ebd., S. 19.

80 Baudrillard 1991, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, S. 219.

81 Ebd.

82 Vgl. Baudrillard 1991, S. 226.


Verborgene Spuren in Schloss Ludwigsburg

Подняться наверх