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Gehirn und Körper

Worum geht es?

Das Gehirn* ist ein Begriff, der meist verwendet wird, um ein Organ des Körpers zu bezeichnen, das sich im Schädel befindet und Milliarden von Zellen enthält, die in verschiedenen Gruppen angeordnet sind. Diese Ansammlung von Zellen, der obere Teil des zentralen Nervensystems, den wir meist als Gehirn bezeichnen, ist durch das periphere Nervensystem und all die Signale aus den physiologischen Prozessen* untrennbar mit dem ganzen Körper verbunden. Die Informationen aus dem erweiterten Nervensystem* haben eine unmittelbare Wirkung darauf, wie die im Schädel befindlichen Zellen, oder das „Kopfgehirn“, funktionieren. Hormonelle Informationen aus dem Blutkreislauf formen die Hirnprozesse ebenso wie das Immunsystem. Die Annahme, dass „das Gehirn“ von diesen vielfältigen Informationseingaben des ganzen Körpers unabhängig sei, scheint auf falschen Grundlagen zu beruhen. Aus diesem Grund benutzen wir in der Interpersonellen Neurobiologie* den einfachen Begriff „Gehirn“ als eine Abkürzung für die neuronalen Mechanismen des gesamten Energie- und Informationsflusses*, der sich durch die weitverzweigten wechselseitigen Verbindungen des Körpers und die im Schädel befindlichen Ansammlungen von Zellen bewegt. Kurz gefasst, mit „Gehirn“ bezeichnen wir die verkörperten* Mechanismen des Energie- und Informationsflusses im Körper.

Implikationen: Was bedeuten das Gehirn und der Körper für unser Leben?

Das Wissen über das Gehirn ermöglicht es uns, Verwirrung in Einsicht* und Selbstbeschuldigungen in Selbstmitgefühl zu wandeln. Wenn wir andere und uns selbst etwas über die Mechanismen des Energie- und Informationsflusses im Gehirn lehren, wird der Geist gestärkt. Dies wird möglich, weil wir dem Selbst* nicht mehr die Schuld an automatischen Verhaltensweisen geben, sondern stattdessen unsere Erfahrung in Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung verwandeln. Eine weitverbreitete Reaktion von Menschen, die etwas über das Gehirn gelernt haben, ist folgende: „Es mag nicht mein Fehler gewesen sein, weil mein Gehirn dies getan hat, aber es liegt in meiner Verantwortung, etwas zu verändern.“ Selbst kleine Kinder können lernen, wie der Energie- und Informationsfluss sich durch die Mechanismen des Gehirns bewegt. Das ist der „verkörperte“ Aspekt der relationalen* und verkörperten Natur des Geistes.

Wenn wir die verschiedenen Teile des Gehirns kennenlernen, werden wir darin bestärkt, nicht mehr länger nur passiv festzustellen, was das Gehirn für unser Leben vorgesehen hat, sondern wir werden zu den aktiven Autoren unserer eigenen, sich entfaltenden Geschichten, die vom Gehirn beeinflusst sind. Wenn wir beispielsweise lernen, dass die Verknüpfung* differenzierter* Teile des Nervensystems ein wichtiges Mittel ist, um das Gehirn zu integrieren und dafür zu sorgen, dass es harmonisch funktioniert, können wir diese Integration* in unserem Leben absichtsvoll schaffen. Durch das Fokussieren unserer Aufmerksamkeit* können wir bestimmte Regionen im Hirn selektiv aktivieren und dadurch strukturelle Veränderungen im Gehirn erreichen. Dies ist eine zentrale Konsequenz aus dem Wissen über die Funktionsweise des Gehirns und der Aufmerksamkeit, weil wir durch sie wichtige Veränderungen in der Funktion und Struktur des Gehirns erreichen können. Wir müssen den neuronalen Aspekten unseres Lebens nicht tatenlos zusehen. Beispielsweise gibt es bestimmte Hirnregionen, die besonders integrativ sind, weil sie aktiv verschiedene Gebiete miteinander verknüpfen. Wenn wir dies wissen, können wir in der Hirnforschung nach diesen Gebieten suchen. Zudem können wir überlegen, wie das Fokussieren des Geistes diese integrativen Gebiete aktivieren und stärken kann. Integration im Gehirn erzeugt ein ausgeglichenes und koordiniertes Nervensystem. Im Gegenzug erlaubt ein integriertes Gehirn empathische* Beziehungen*. Ein integriertes Gehirn ist die Grundlage für einen resilienten und gesunden* Geist.

Ein Bereich des Gehirns, der besonders integrativ wirkt, ist der präfrontale Cortex*, der sich hinter der Stirn befindet. In einem Handmodell des Gehirns*, das wir in der Interpersonellen Neurobiologie verwenden, befindet sich diese integrative Region in dem Gebiet, wo die beiden mittleren Fingernägel liegen, wenn die Finger eine Faust bilden. Das Handmodell zeigt die drei wichtigsten Bereiche des dreieinigen Gehirns (s. Abb. D-3). Die Finger als Ganzes stehen für den äußeren Neocortex oder Cortex*, der es uns ermöglicht, die äußere Welt wahrzunehmen und zu denken (s. Abb. D-1). Unter dem frontalen Teil dieser kortikalen Region ruht der limbische* Bereich – er wird hier vom Daumen repräsentiert –, der eine Reihe grundlegender Erfahrungen verarbeitet, wie unsere Emotionen*, Motivationen, verschiedene Arten von Erinnerung*, die Einschätzung von Bedeutung* und unsere Arten der Bindung* (s. Abb. D-2). Unter dieser limbischen Region befindet sich der Hirnstamm*, der durch die Handfläche repräsentiert wird. In diesem Gebiet entsteht die grundlegende Erregung* des Körpers und Gehirns und die Kampf, Flucht oder Erstarrungs- Reaktion bei Gefahr. Auf den Hirnstamm und das limbische System einwirkende Einflüsse kommen auch aus dem Rückenmark (vom Handgelenk repräsentiert). Diese Einflüsse erreichen letztendlich auch die präfrontalen Regionen im Cortex.

Der präfrontale Cortex verknüpft diese unterschiedlichen Gebiete miteinander und hat eine dominante Wirkung auf die Modulierung der Einflüsse aus den unteren Bereichen. Dieser Prozess wird manchmal als absteigende Hemmung beschrieben. Dabei kann ein Prozess der „kortikalen Kontrolle“ entstehen, in dem subkortikale* Aktivierungen von den hemmenden Einflüssen des Cortex, insbesondere der Präfrontalregionen, außer Kraft gesetzt werden. Die Präfrontalregionen koordinieren und balancieren Einflüsse aus dem Cortex, dem limbischen System, dem Hirnstamm, anderen Körperregionen und selbst Einflüsse von anderen Gehirnen (das heißt, anderen Menschen). Auf diese Weise integriert der präfrontale Cortex soziale, somatische, kortikale, limbische und im Hirnstamm lokalisierte Systeme und macht sie zu einem funktionsfähigen Ganzen. Diese integrativen Mechanismen ermöglichen es uns, in unserem Körper und unseren sozialen Welten in Harmonie zu leben. Aber der präfrontale Cortex kann sich „ausschalten“, wenn wir „ausrasten“, was durch das plötzliche Heben der Finger vom limbischen Bereich (symbolisiert durch den Daumen) geschieht (s. Abb. D-3). Jetzt können wir sehen, wie wir den Weg nach unten* gehen („Low Road“) und viele der Funktionen des mittleren präfrontalen Cortex* verlieren, wozu auch emotionale Balance, Empathie und Moral* gehören. Wir können nun nicht länger flexibel reagieren, verlieren die Einsicht in uns selbst und handeln aus irrationalen Impulsen, die wir in diesem Moment als gerechtfertigt empfinden, um das unfreundliche und verletzende Verhalten eines anderen Menschen zu erwidern. Dies ist ein vorübergehender Zustand* des frontalen Kontrollverlusts, bei dem die regulierenden* Präfrontalregionen die unteren subkortikalen Prozesse nicht mehr ausgleichen. Solch ein Bruch* in unseren Beziehungen mit anderen zerreißt das Wir-Gefühl, das aus der integrativen Kommunikation* entsteht. Hier sehen wir, wie Hindernisse bei der neuronalen Integration* zu Beeinträchtigungen bei der interpersonellen Integration führen.

Wenn Menschen etwas darüber lernen, wie das Hirn funktioniert, kann eine Krise wie zum Beispiel der „Weg nach unten“ („Low Road“) in eine Möglichkeit für Wachstum verwandelt werden. Solange sie nicht wissen, wie und warum sich das Gehirn manchmal ausschaltet, sind viele Menschen sehr selbstkritisch und schämen* sich so sehr für ihr Verhalten, dass sie sich nicht wieder an ihr Kind, ihren Freund, ihren Partner oder ihren Kollegen wenden, um sich wieder zu verbinden*. Selbstbeschuldigung wird zu dauerhaftem Selbsthass, einen Form mangelnden Selbstmitgefühls, verbunden mit Feindseligkeit und Selbstherabsetzung. Dies verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein „Weg nach unten“-Verhalten in der Zukunft mit höherer Intensität und Häufigkeit auftreten und über längere Zeit nicht gelöst (wieder verbunden) wird.

Selbst kleinen Kindern kann man in der Schule etwas über die Grundlagen des Gehirns beibringen. Wenn wir etwas über die verkörperten Aspekte des Geistes wissen, können wir die Mechanismen verändern, durch die Energie und Information fließen. Der Schlüssel zu diesem Ansatz besteht darin, dass das Gewahrsein* durch die Aneignung von Wissen und Fertigkeiten „erwachen*“ kann, um die Art und Weise, wie Energie und Information durch das Gehirn fließen, zu verändern. Heute weiß man etwas, über das man zu einem früheren Zeitpunkt nur eine Intuition* aus der klinischen Erfahrung hatte: Der Geist kann die Aktivität und Struktur des Gehirns verändern. Indem man die Kraft des Gewahrseins nutzt, um absichtsvoll Energie und Information in neuer Weise zu fokussieren, kann die neuronale Aktivierung* verändert werden. Aufmerksamkeit* ist der Prozess, durch den Energie und Information durch die neuronalen Netze* des Gehirns gebündelt werden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf eine integrative Weise bündeln, können wir beispielsweise Differenzierung kultivieren und dann diese differenzierten Regionen miteinander verknüpfen. Der neurowissenschaftliche Spruch, „Neurons that fire together, wire together“ („Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzen sich*“), zeigt, dass die gemeinsame Aktivierung von Neuronen* ihre Verknüpfungen miteinander verändert. Die Nutzung der Aufmerksamkeit zur Veränderung der Aktivität des Gehirns – und dadurch letztendlich die Veränderung der Architektur des Gehirns – ist Teil des umfassenden Prozesses, durch den Erfahrungen die neuronale Struktur verändern. Dieser Prozess wird als Neuroplastizität* bezeichnet.

Die Anwendungen der Interpersonellen Neurobiologie basieren auf den Erkenntnissen der Neuroplastizität: Wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, formt unmittelbar die Aktivität und Struktur des Gehirns. Durch die heute bestätige Tatsache, dass das Gehirn sich als Reaktion auf unseren Fokus der Aufmerksamkeit verändert, können wir erkennen, dass der Geist, das Gehirn und unsere Beziehungen stark miteinander verwoben sind. Wiederkehrende Muster können die Art und Weise verändern, wie wir uns miteinander verbinden, wie wir unser subjektives inneres Leben erfahren und sogar wie wir die Architektur unseres eigenen Gehirns formen. Diese Perspektive begründet die Sicht der Interpersonellen Neurobiologie auf Interventionen in der Schule und in der Psychotherapie. Wir sind in der Lage, die Menschen darin zu bestärken, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und Fertigkeiten zu lernen, die ihnen helfen, ihre neuronalen Neigungen zu verändern. Ohne Gewahrsein laufen diese Neigungen im Autopilot-Modus* weiter und belassen den Einzelnen in einer passiven Haltung. Wir können uns aber auch die Tatsache zunutze machen, dass der Fokus unserer Aufmerksamkeit die Struktur des Gehirns verändern kann. Dann geht es darum, Menschen zu inspirieren, ihr Gehirn neu zu vernetzen, so dass Integration und damit auch Gesundheit und Resilienz möglich werden.

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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