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Rückenmark und Lamina I

Worum geht es?

Das Rückenmark (das im Handmodell des Gehirns* vom Handgelenk symbolisiert wird) ist der Träger von Energie und Information* zwischen dem Körper und dem im Schädel enthaltenen Gehirn*. Eine Schicht des Rückenmarks wird als Lamina I* bezeichnet. Sie spielt eine wichtige Rolle dabei, den Fluss* der Energie* aus dem Inneren des Körpers hinauf ins Gehirn zu bringen. Durch den Input aus der Lamina I (und dem Vagusnerv), der in das im Schädel enthaltene Gehirn geleitet wird, werden wir uns der Zustände* unseres Körpers bewusst. Als Erstes bewegt sich dieser Energiefluss in den Hirnstamm*, der dabei hilft, die Körperfunktionen und Zustände der Erregung* zu regulieren*. Kampf, Flucht und Erstarrung sind Reaktionen, die der Hirnstamm in Reaktion auf eine Gefahr auslöst, die real oder nur vorgestellt ist. Die Informationen fließen nun im System* weiter nach oben und der neuronale Fluss aus dem Körper kommt als Nächstes in ein Gebiet, das unter der limbischen* Region liegt: dem Hypothalamus, der die Freisetzung von Hormonen im Gehirn regulieren hilft, so dass die Körperfunktionen angepasst werden können. Dann bewegt sich der Fluss zu Bereichen im Cortex* – in die mittlere Präfrontalregion*. Ein Teil des Flusses bewegt sich in einen Bereich, der als vorderer cingulärer Cortex* bezeichnet wird und der den Input aus dem Körper mit der Aufmerksamkeit* und der Bildung von Emotionen* koordiniert. Ein anderer Teil bewegt sich aus der Lamina I hinauf in den Cortex, durch einen mittleren frontalen Bereich, der als Insula* bezeichnet wird, insbesondere in die rechte vordere Insula. Wenn wir uns unseres körperlichen Zustandes bewusst werden – was als Interozeption* bezeichnet wird – wird die vordere Insula* aktiviert.

Implikationen: Was bedeuten das Rückenmark und die Lamina I für unser Leben?

Der Körper ist ein wichtiger Teil der Funktionsweise des Geistes*. Wie wir schon gesehen haben, können wir einen Kernaspekt des Geistes als einen verkörperten* und relationalen* Prozess* beschreiben, der den Energie- und Informationsfluss reguliert. Weil die Regulierung das Monitoring und die Modifizierung von etwas beinhaltet, müssen wir gut damit vertraut sein, wie wir den verkörperten Teil des Energie- und Informationsflusses beobachten. Inneres Gewahrsein* ist ein wichtiger Aspekt von emotionaler und sozialer Intelligenz. Interozeption hat faszinierende Auswirkungen. Eine dieser Auswirkungen besteht darin, dass Neuronen* namens Von-Economo-Neuronen oder neuronale Spindelzellen Verknüpfungen* zwischen den zwei mittleren präfrontalen Bereichen schaffen – dem vorderen cingulären Cortex* und der vorderen Insula*. Entwicklungsstudien und Speziesübergreifende Forschungen des Selbst-Gewahrseins* deuten darauf hin, dass die Existenz dieser Spindelzellen mit unserer Fähigkeit verbunden ist, uns selbst in einem Spiegel zu erkennen. Möglicherweise zeigen diese Forschungsergebnisse außerdem, wie das Selbst-Gewahrsein durch weitere Einflüsse geformt wird: durch den Input aus dem Körper (Insula) und seine direkten und indirekten Verknüpfungen (durch den cingulären Cortex) mit dem Teil des Gehirns, der den Input aus dem Körper mit Emotionen und ihrer Regulation koordiniert; durch die Kontrolle der Aufmerksamkeit und durch die Art und Weise, wie wir in soziale Beziehungen* eingebettet sind. Studien in einer Reihe von Laboren haben beispielsweise ergeben, dass die Vermittlung von körperlichem Schmerz und die neuronale Reaktion auf soziale Ablehnung durch einander überlappende Pfade geschieht. Soziale Isolation tut weh, buchstäblich. Darüber hinaus ist die Fähigkeit, uns unserer körperlichen Zustände in einer ausgeglichenen Weise bewusst zu sein, wichtig, um uns selbst zu verstehen und auch die Fähigkeit zu entwickeln, empathisch* und mitfühlend* zu sein.

Forschungen zufolge scheinen Spiegelneuronen die Insula einerseits beim Senden von Informationen aus der kortikalen Wahrnehmung* nach unten und andererseits wieder aufwärts aus den Körperreaktionen auf etwas, das wir bei anderen sehen, zu aktivieren. Das deutet daraufhin, dass dieser Fluss durch das Rückenmark/die Lamina I/die Insula eine wichtige soziale Funktion innehat. Mittels der Spiegelneuronen können wir den inneren Zustand eines anderen Menschen in uns aufnehmen. Das versieht uns mit einem neuronalen Mechanismus, durch den wir den inneren Zustand eines Menschen simulieren und das Verhalten dieses Menschen imitieren können. Spiegelneuronen verknüpfen das, was wir bei anderen sehen, mit dem, was wir selbst fühlen und tun. Mit anderen Worten fungiert unser Körper als eine Art Antenne, mit der wir die manchmal subtilen Signale von anderen empfangen können. Wir können dann entsprechend dieser Signale unseren körperlichen Zustand verändern und diese Veränderungen in unserem eigenen Körper spüren, um uns vorzustellen, was ein anderer Mensch womöglich fühlr. Dieser Informationsweg durch Spiegelneuronen, Insula* und subkortikalen* Reaktionen wird dann an die mittlere präfrontale Region zurückgeschickt; dies könnte die Grundlage für Mitgefühl und Empathie sein.

Wenn die Erfahrungen des modernen Lebens Kinder nicht darin unterstützen, für ihre eigenen körperlichen Zustände offen zu sein, schaffen wir möglicherweise eine kulturelle* Situation, in der das Verstehen des eigenen Selbst und anderer Menschen sich nicht entwickelt. Wenn wir die Asymmetrie des Cortex betrachten, sehen wir, dass die rechte Hemisphäre* im Vergleich zum linken Cortex einen besonders reichen Input körperlicher Daten aufnimmt. Die rechte Seite des Gehirns ist auch auf die Aufnahme und den Ausdruck nonverbaler* Signale spezialisiert. An diesen Erkenntnissen können wir ablesen, dass ein zu stark dominierender Fokus auf die Tendenz der linken Hemisphäre – durch logische Analyse, linguistische Repräsentationen und die Entschlüsselung der Welt in wörtlicher Form in Familien, Schulen und einigen Aspekten der digitalen Kommunikation –, bestimmte Lernerfahrungen schafft, die oft weit von der Weisheit* des Körpers entfernt sind, weshalb sie die Grundlagen der interpersonellen Beziehungen und des Selbst-Gewahrseins nicht fördern. Interessanterweise scheint die linke Hemisphäre für die sozialen Ausdrucksregeln dominierend zu sein. Durch sie wissen wir, wie wir uns in sozialen Situationen verhalten sollten. Unser Verständnis vom Innenleben des Geistes und der Signale unseres eigenen Körpers scheint hingegen von der rechten Hemisphäre dominiert zu werden. Verarmte emotionale und soziale Intelligenz könnte das Ergebnis eines mangelnden Wachstums dieser wichtigen und asymmetrischen Mechanismen der Interozeption sein.

In der Schule, in der Therapie und Zuhause können wir andere (und uns selbst) darin bestärken, den Input des Körpers wertzuschätzen. Wenn wir erkennen, dass unser Körper eine wichtige Quelle der Intuition* ist, verstehen wir, dass unsere Gliedmaßen und unser Rumpf tiefe Quellen des Wissens für unser Leben bereithalten. In der Umgebung des Herzens und der inneren Organe gibt es beispielsweise weitverzweigte neuronale Netzwerke, die zur komplexen Informationsverarbeitung* dienen. Diese Netzwerke gleichen Spinnenweben, sie umgeben die Organe des Körpers. Sie sind dafür verantwortlich, dass wir sagen können: „Mein Herz fühlt …“ und „Mein Bauchgefühl sagt …“ Das ist unser „Herz-Gehirn“ und unser „Bauch-Gehirn“.

Wenn wir einen Prozess der Einkehrzeit* nutzen und innerlich reflektieren, schaffen wir neuronale Aktivierungen, die möglicherweise den Kern der interozeptiven Zustände ausmachen, die für emotionale und soziale Intelligenz so wichtig sind. In den verschiedenen Reflexionsprozessen der Übungen des achtsamen Gewahrseins* kann ein Körper-Scan dafür sorgen, dass der Fluss von Daten durch die Lamina I und den Vagusnerv in die Insula* gefördert wird. Dieser Input wird dann mit der Funktion des vorderen cingulären Cortex* verbunden, um Interozeption zu unterstützen. Die daraus resultierende mittlere präfrontale Aktivierung wirkt möglicherweise als eine wichtige Form der vertikalen Integration*, durch die der Energie- und Informationsfluss aus dem Körper den Cortex erreichen kann, um dort mit bewusstem Gewahrsein koordiniert, ausgeglichen und untersucht zu werden.

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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