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Gewahrsein

Worum geht es?

Gewahrsein* ist ein grundlegender Aspekt der mentalen Erfahrung, durch den wir das Gefühl haben, etwas zu wissen oder uns einer Sache bewusst zu sein. Es gibt verschiedene Facetten des Gewahrseins, einschließlich der subjektiven Qualität der Phänomene, derer wir uns gewahr sind, was manchmal auch als „Qualia“ von etwas bezeichnet wird, wie der Duft einer Rose oder die rote Farbe der Blütenblätter. Wir kennen auch die Erfahrung des Wissens, das Gefühl, dass wir uns einer Sache gewahr sind, das im „Scheinwerferlicht“ unserer Aufmerksamkeit* erscheint. Sie wissen jetzt in diesem Augenblick, dass Sie DIESES Wort lesen, DIESES. Hinzukommt das Objekt, dessen wir uns gewahr sind, der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit – in Bezug auf den wir nun ein Empfinden des Wissens, des Sehens, des Gewahrseins haben: unser Empfinden des „Gewussten“. Dies geschieht, wenn wir wissen, dass wir eine Rose riechen; wenn wir wissen, dass wir ihre Blätter berühren, ihren Stiel halten, ihn in die Hände eines geliebten Menschen legen. Und wir wissen aus dem Lächeln des anderen Menschen, dass die daraus resultierenden Tränen, die Umarmung und die Verbundenheit real sind. Gewahrsein ist ein Prozess*, der mindestens drei Aspekte umfasst: ein subjektives Gefühl, ein Wissen und etwas Gewusstes.

Die Begriffe Gewahrsein und Bewusstsein* werden von vielen Menschen als gleichbedeutend angesehen. Manchmal erweitern Menschen den persönlichen des Wortes Bewusstsein, um einen umfassenderen, gemeinsamen Prozess. Aber selbst bei einer so erweiterten Anwendung kann der Begriff Bewusstsein immer noch als eine Form des geteilten Gewahrseins gesehen werden – etwas, das im Geist* vieler Menschen aktiv ist, ein kulturelles Gewahrsein, ein „kollektives Bewusstsein“. Wenn wir erkennen, dass das Bewusstsein Entscheidung und Veränderung erlaubt, dann kann dieses geteilte Gewahrsein im Zentrum großer Wandlungen in der menschlichen Kultur* stehen. Die direkte Erfahrung eines geteilten Gewahrseins kann konkrete Wirkungen auf Beziehungen* und das Gehirn* haben, wir müssen es nicht durch irgendeine mysteriöse metaphysische Beeinflussung erklären. Auf diese Weise kann die kulturelle Evolution durch einen Wandel im geteilten Gewahrsein entstehen, die in den sehr wichtigen aber oft subtilen Mustern der interpersonellen Kommunikation vermittelt werden, welche ein grundlegender Teil unseres sozial eingebetteten und wechselseitig verbundenen mentalen Lebens sind.

Gewahrsein und Bewusstsein sind für eine ganze Reihe von Akademikern von großem Interesse, von Neurowissenschaftlern bis hin zu Philosophen, und sie sind ein Thema in der Literatur und Poesie. Die Erfahrung von Musik und Tanz bringt die rhythmische Bewegung des Körpers in Einklang mit unserem inneren subjektiven Gewahrsein. Die grundlegende Natur unserer Beziehungen wird durch das Gewahrsein geformt: Wenn wir mit einem anderen Menschen etwas im Gewahrsein teilen, dann verändert es die Natur dieser Erfahrung. Es verändert auch den Fluss* der Informationsverarbeitung* und erzeugt die Nähe, die wir mit einem anderen Menschen spüren.

Implikationen: Was bedeutet Gewahrsein für unser Leben?

Gewahrsein versetzt uns in die Lage, eine Entscheidung zu treffen und es befähigt uns dazu, von einem automatischen Modus* des Seins zu einer aktiven Interaktion mit dem Leben zu wechseln. Aus einer relationalen* Perspektive können wir durch das Gewahrsein die Entwicklung unserer Interaktionen transformieren. Dies wird möglich, weil neue Modi des Energie- und Informationsaustauschs angenommen werden, die alte eingeprägte Muster verändern. Im Gehirn erlaubt die Erfahrung des Gewahrseins, dass sich der Energie- und Informationsfluss* in neuer Weise durch das Nervensystem* bewegen kann. Dadurch können sich beispielsweise nicht-integrierte Zustände* in Richtung integrierter* Zustände verändern. Aus diesem Grund ist es nicht überraschend, dass jede Form der Psychotherapie im Kern auch Gewahrsein beinhaltet.

Die neuronalen Korrelate des Bewusstseins zeigen, welche Bereiche des Gehirns während der subjektiven Erfahrung* von Gewahrsein aktiviert sind. Diese Idee der Korrelation, der vorübergehenden Verbindung, ist ein wichtiges Konzept, weil wir die Verbindung zwischen der Aktivität des Gehirns und dem mentalen Gewahrsein – genaugenommen jedem mentalen Phänomen – nicht wirklich kennen. Eine Neuronale Korrelation ist eine wissenschaftliche Beschreibung davon, wie die Hirnaktivität gleichzeitig mit der subjektiven mentalen Erfahrung des Denkens, der Wahrnehmung oder des Gewahrseins von etwas zu entstehen scheint. Auf diese Weise können wir sagen, dass eine Reihe von neuronalen Regionen aktiv zu werden scheinen, wenn das Bewusstsein entsteht. Der Hirnstamm* hilft bei der Regulierung* der Zustände des Wachbewusstseins. Der limbische* Bereich und der damit verbundene vordere cinguläre Cortex* hilft uns, Ereignisse zu bewerten und unsere Aufmerksamkeit auszurichten, indem er ein Signal aussendet, dass in Worte gefasst ungefähr so lauten würde: „Pass jetzt auf!“ Der Cortex* fungiert als Mechanismus zur Filterung unserer Wahrnehmung*, er formt die Natur dessen, wessen wir uns gewahr werden. Dabei werden diese Wahrnehmungen mit früheren Erfahrungen ähnlicher Ereignisse und Objekte und dem fortwährenden sensorischen Erleben im Hier und Jetzt verglichen. So trifft der Top-down*-Fluss aus der Vergangenheit auf den Bottom-up*-Fluss des fortwährenden sensorischen Stroms von Energie und Information. Dieses Zusammentreffen des Top-down-Modus mit dem Bottom-up-Modus kann unmittelbar beeinflussen, welcher mentalen Aktivitäten wir uns im gegenwärtigen Moment gewahr sind (s. Abb. G). Der präfrontale Cortex*, insbesondere die dorsolaterale präfrontale Region an den Seiten, spielt eine wichtige Rolle, wenn wir in unserem Arbeitsgedächtnis etwas auf die Tafel schreiben, damit es im kurzfristigen, vorübergehenden Speicher* der Erinnerungen* aufbewahrt wird. So scheinen wir etwas in unseren Gedanken halten zu können, damit wir im Gewahrsein – im Arbeitsgedächtnis – darüber reflektieren können. Wir sind auch in der Lage diesen Inhalt unseres Gewahrseins zu manipulieren und die Ergebnisse solch einer verfeinerten Informationsverarbeitung zu codieren*, damit wir sie speichern können und so in der Zukunft verfügbar haben.

Wir können den Menschen beibringen, Formen des Gewahrseins zu entwickeln, die sie darin bestärken, Integration in ihrem Leben zu schaffen. Das bedeutet, dass Gewahrsein das Tor ist, um die Differenzierung* anderer zu fördern und zu respektieren. Darüber hinaus können wir durch mitfühlende* und empathische* Kommunikation Verknüpfungen* kultivieren, die den Kern lebendiger Beziehungen bilden. Der Ansatz der Interpersonellen Neurobiologie sieht das Gewahrsein als Tor zur Veränderung, weil es die Möglichkeit eröffnet, den Energie- und Informationsfluss in neuer und integrativer Weise zu kanalisieren. Das Gewahrsein und das Wissen über das Gehirn können kraftvolle Elemente sein, um die Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte des Nervensystems zu fördern. Auf diese Weise kann der Geist durch den bestärkenden Prozess des Gewahrseins in seinen beiden Aspekten – dem Gehirn und den Beziehungen – den Energie- und Informationsfluss regulieren.

Obwohl wir nicht genau wissen, was Gewahrsein „ist“, so wissen wir doch, dass Gewahrsein ein aktiver Bestandteil jeder Form von Pädagogik und Psychotherapie ist. Mithilfe des Gewahrseins wird die explizite Erinnerung* als eine flexiblere und adaptive Form des Top-down-Lernens angewendet. Durch das Gewahrsein können Narrative* entstehen, durch die wir ansonsten verwirrenden Erfahrungen einen Sinn geben* können. Wenn Eltern ihren Kinder bei der Ko-Konstruktion ihrer Lebensgeschichten mit Gewahrsein begegnen, ermöglichen sie den Kindern, ihren Erfahrungen einen Sinn zu geben und die Tore zu bleibender Veränderung zu öffnen. Gewahrsein ist vermutlich grundlegend für das Wohlbefinden, und es ist ein Mittel des Geistes, das die Bewegung unserer Beziehungen und unseres Gehirns in Richtung Integration leitet.

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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