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Achtsames Gewahrsein

Worum geht es?

Achtsames Gewahrsein* kann als eine Form des Gewahrseins* beschrieben werden, in dem wir wach und offen für gegenwärtige Erfahrungen sind, ohne uns von Urteilen oder Vorannahmen ablenken zu lassen. Was es wirklich bedeutet, achtsam zu sein, ist ein Thema fortwährender Diskussionen. Aber die allgemeine Bedeutung des Begriffes zeigt sich in der Vorstellung, dass wir einem inneren oder äußeren Moment der Erfahrung vollkommen präsent, offen und akzeptierend begegnen können. Im Gegensatz dazu kann der Begriff „Gewahrsein“ allein auch auf eine Form des Wissens hindeuten, die nicht achtsam ist, weil wir uns vorurteilsvoller Überzeugungen gewahr sind. Aus diesen Überzeugungen heraus können wir dann aufgrund der bestehenden mentalen Modelle der Feinseligkeit auf feindselige Weise handeln. In diesem Fall sind wir möglicherweise vollkommen gewahr, aber wir sind nicht achtsam gewahr, weil wir nicht offen und akzeptierend sind. Stattdessen sind wir voller Vorurteile. Deshalb schließen einige Interpretationen des achtsamen Gewahrseins – und die Art und Weise, wie wir es in der Interpersonellen Neurobiologie* anwenden – auch die Unterscheidungsfähigkeit und eine moralische Haltung mit ein. Diese Haltung ist durch eine positive Wertschätzung anderer gekennzeichnet, ein nicht-urteilendes Gewahrsein, dessen zentrales Merkmal Akzeptanz und Mitgefühl* gegenüber dem Selbst* und anderen ist. Einige Auffassungen von achtsamem Gewahrsein begrenzen die Idee der Achtsamkeit auf einen Aspekt, den Fokus der Aufmerksamkeit*, darauf, dass der Fokus der Aufmerksamkeit in einer offenen Art und Weise auf das Hier und Jetzt gerichtet ist. Nach diesem Verständnis sollten wir Eigenschaften wie Mitgefühl und freundlicher Wertschätzung anderen Ideen wie Selbstmitgefühl, Empathie* und Moral* zuordnen und sie nicht mit achtsamem Gewahrsein vermischen.

Achtsames Gewahrsein kann ein natürlicher Aspekt des eigenen Lebens sein oder es kann durch Übungen wie Meditation, Yoga, Tai-Chi, Qigong oder Herzensgebet entwickelt werden. Um diese Unterscheidung hervorzuheben, können wir von einem achtsamen Zustand* und einer achtsamen Charaktereigenschaft sprechen. Ein Zustand ist eine zeitweilige Aktivierung mentaler oder neuronaler Prozesse*, etwa ein Geisteszustand*, der von Moment zu Moment kommt oder geht. Eine Eigenschaft ist eine sich wiederholende Seinsweise, sie kann ein gewohnheitsmäßiges Muster oder eine natürliche Weise der Interaktion mit der Welt sein. Die Begriffe „Achtsamkeit“ und „achtsame Charaktereigenschaften“ werden in der wissenschaftlichen Fachliteratur auf verschiedene Weise benutzt. Diese Begriffe können auf eine Seinsweise und auf messbare, bleibende Aspekte der Persönlichkeit eines Menschen hindeuten. Studien über achtsame Charaktereigenschaften zeigen beispielsweise Elemente eines nicht-urteilenden, nicht-reaktiven Gewahrseins für die Erfahrung von Moment zu Moment. Dazu gehört auch die Fähigkeit, die innere Welt zu bezeichnen und zu beschreiben. Bei Menschen, die Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder Yoga praktizieren, wurde zusätzlich die Fähigkeit der Selbstbeobachtung festgestellt.

Ob es sich nun um einen Zustand oder eine Charaktereigenschaft handelt, die genaue Bedeutung des Begriffes „achtsam“, wenn er diesen Aspekten hinzugefügt wird, befindet sich momentan noch in einem Prozess der Klärung. Es wird sich zeigen, auf welche genaue Definition und Terminologie man sich letztendlich einigen wird, aber eine große Anzahl von Studien zeigt, dass die Fähigkeit, sich der Erfahrung von Moment zu Moment gewahr zu werden, und die Fähigkeit, ablenkende automatische Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und Verhaltensweisen loszulassen und zum Sein in der Gegenwart zurückzukommen, gut für die eigene Gesundheit* und sogar gut für die Gesundheit anderer ist. Studien über achtsames Gewahrsein, die ein breites Spektrum von Anwendungen dieser Merkmale nutzen, zeigen, dass Achtsamkeit gut für die Gesundheit des Geistes* ist, weil die Emotionsregulation* ausgeglichen und die Flexibilität verstärkt wird. Zudem lässt sich erkennen, dass Achtsamkeit Menschen hilft, sich schwierigen Ereignissen zuzuwenden, statt sich davor zurückzuziehen. Wenn wir achtsam sind, können wir empathischer sein und die Gesundheit unserer Beziehungen* verbessert sich. Achtsamkeit verbessert auch die Gesundheit des Körpers, durch eine Stärkung der Immunfunktion und eine Zunahme der Telomerase – die Enzyme, aus denen die Telomere an den Enden der Chromosomen bestehen, und die die zelluläre Langlebigkeit verbessern. Durch Achtsamkeit können wir sogar eine stärkere Resilienz* im Angesicht chronischer Schmerzen entwickeln. Das achtsame Gewahrsein unterstützt unseren Geist, unsere Beziehungen und unser verkörpertes* Leben.

Implikationen: Was bedeutet achtsames Gewahrsein für unser Leben?

Die Vorteile für unsere Gesundheit, die wir durch achtsames Gewahrsein erfahren, legen nahe, dass es ein guter, grundlegender und wichtiger Aspekt unseres Lebens sein kann. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, wie wir zu einer spezifischen Definition dieser Seinsweise kommen. Die Fähigkeit, in unserem Leben präsent zu sein, ist gut für uns. Angesichts der Tatsache, dass es Übungen des achtsamen Gewahrseins* für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gibt, zeigt sich ein wirkungsvolles Potential für die Verbesserung des Wohlbefindens und der Resilienz über die ganze Lebensspanne hinweg. Die Unterstützung bei der absichtsvollen Schaffung achtsamer Zustände über längere Zeit kann der wichtigste Weg sein, um im Leben eines Menschen achtsame Charaktereigenschaften zu kultivieren, die Resilienz und Wohlbefinden fördern.

Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist Achtsamkeit ein zutiefst integrativer Prozess im Geist, im Gehirn* und in unseren Beziehungen. Das ist auch der Grund, warum wir der Ansicht sind, dass das achtsame Gewahrsein mit Wohlbefinden einhergeht, und deshalb können wir auch sagen, dass die Vermittlung von Fertigkeiten, die Achtsamkeit unterstützen, ein Weg ist, um Integration* zu fördern. Weil Integration das Herz der Gesundheit ist, sind Güte* und Mitgefühl und die Entwicklung eines regelmäßigen Programms zur Kultivierung von achtsamen Fertigkeiten im Laufe der gesamten Lebensspanne für die Integration sehr sinnvoll.

Die Neuroplastizität* unseres Gehirns ist der Grund, warum es sich als Antwort auf Erfahrungen verändert. Wenn wir lernen, unsere Aufmerksamkeit in einer Weise zu fokussieren, die unser achtsames Gewahrsein* stärkt, kann dies die Struktur unseres Gehirns verändern. Studien haben immer wieder gezeigt, dass bei diesen Forschungen zwar verschiedene Teile des Gehirns eine Rolle spielten, dass es im Allgemeinen aber immer integrative Regionen sind, die den Cortex*, den limbischen* Bereich, den Hirnstamm* den Körper als Ganzes und die sozialen Einflüsse von anderen Gehirnen miteinander verknüpfen*. Diese integrativen Bereiche beeinflussen die Primrealitäten*: die Emotionsregulation* und den Fokus der Aufmerksamkeit, die emotionale und soziale Intelligenz sowie die Fähigkeit für Empathie und Selbsterkenntnis. Zu diesen Regionen gehören der vordere und hintere cinguläre Cortex*, der orbitofrontale Cortex und die medialen und ventralen Bereiche des präfrontalen* Cortex, einschließlich der Insula* und des limbischen Hippocampus*.

Eine Möglichkeit, um einige dieser integrativen Bereiche des Gehirns, die beim achtsamen Gewahrsein* aktiviert werden, zusammenzufassen, besteht darin, sie als Teile einer mittleren präfrontalen* Gruppe von Bereichen des frontalen Cortex zu sehen (s. Abb. D-1). Diese Gruppe dient als Verbindung zwischen dem Körper als Ganzes, dem Hirnstamm, dem limbischen Bereich, dem Cortex und den Einflüssen anderer Menschen (oder man könnte auch sagen anderer Gehirne). Die neun Funktionen, die aus der integrativen Informationsverarbeitung der mittleren Präfrontalregion entstehen, sind Regulierunng* des Körpers, eingestimmte Kommunikation*, emotionale Balance, Angstmodulation, Reaktionsflexibilität*, Einsicht*, Empathie*, Moral* und Intuition*.

In diesem Zusammenhang gibt es faszinierende Forschungsergebnisse: Die Funktionen des mittleren Präfrontalcortex werden sowohl bei der Achtsamkeitspraxis als auch bei sicheren Bindungen* zwischen Eltern und Kind gemessen (acht der neun Funktionen). Diese Überlappung zwischen Achtsamkeit und Bindung ist ein Hinweis darauf, dass zwischen diesen beiden scheinbar unterschiedlichen Aspekten des menschlichen Lebens einige gemeinsame Prozesse existieren. Eine vorgeschlagene Begründung ist, dass die innere Reflexion* der Achtsamkeitspraxis eine Form der inneren Einstimmung* beinhaltet, das heißt, ein sich beobachtendes Selbst stimmt sich in einer offenen und gütigen Weise auf ein erfahrendes Selbst ein. In gleicher Weise wird eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind von einer interpersonellen Einstimmung* gekennzeichnet – eine Form der Kommunikation, bei der sich die Mutter oder der Vater in offener und freundlicher Weise auf das Kind einstimmt. Einstimmung – innerlich bei der Achtsamkeit und interpersonell bei der Bindung – kann deshalb als eine Form der Integration gesehen werden. In der Tat ist eine wichtige Folge von Integration Güte – gegenüber anderen und gegenüber uns selbst.

Über diese neun präfrontalen Funktionen herrscht auch an anderer Stelle Einigkeit. Die Befragung eines breiten Spektrums von Psychotherapeuten legt nahe, dass diese neun Funktionen der mittleren Präfrontalregion eine zusammenfassende Beschreibung von mentaler Gesundheit* geben. Zahlreiche Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen sind der Ansicht, dass diese Liste den Weg beschreibt, wie wir ein weises und gütiges Leben führen können. So wie es auch von vielen Traditionen der Weisheit* überall auf der Welt gelehrt wird – unter anderem der Tradition der Inuit und Lakota in Nordamerika, der polynesischen Kultur* im Pazifik, den hinduistischen und buddhistischen Traditionen in Asien, den islamischen und jüdischen Traditionen mit ihrem Ursprung im Mittleren Osten und den christlichen Traditionen, die sich in Europa entwickelt haben. Diese neun Funktionen des mittleren Präfrontalbereichs werden als das Ergebnis von neuronaler Integration* angesehen. Daher lassen die Forschungsergebnisse darauf schließen, dass Achtsamkeit, sichere Bindung*, mentale Gesundheit und ein weises und gütiges Leben das Ergebnis von neuronaler Integration sind – und gleichzeitig diese Integration fördern.

Wenn wir das Konzept der Integration als zentral für Gesundheit und Resilienz ansehen, können wir verstehen, dass Übungen des achtsamen Gewahrseins eine zutiefst integrative Praxis sind. Mithilfe der absichtsvollen Kultivierung des achtsamen Gewahrseins kann das Gehirn stimuliert werden, um differenzierte* Gebiete miteinander zu verbinden, und Beziehungen können empathischer werden. Weil der Geist sowohl verkörpert als auch relational ist, zeigt die Verwendung dieser Form des Gewahrseins zur Förderung der Integration, wie wir unsere Gesundheit in vielen Aspekten unseres Lebens stärken können.

Aus Sicht der Interpersonellen Neurobiologie ist jede absichtsvolle Schaffung von Integration ein Teil des übergeordneten Ansatzes zur Verbesserung unserer Gesundheit. Wir sehen, dass die Übungen achtsamen Gewahrseins nicht nur ein grundlegender Teil der klinischen Interventionen, sondern ein wichtiges Element überhaupt aller pädagogischen Erfahrungen sind. Oft erfordern solche Übungen, dass wir uns eine „Einkehrzeit*“ nehmen, um über die innere Natur unseres subjektiven mentalen Lebens zu reflektieren*. Eine solche Einkehr können wir uns innerlich einstimmen, wobei ein beobachtendes Selbst die Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt auf ein erfahrendes Selbst im gegenwärtigen Augenblick fokussieren kann. Durch die zunehmende Fähigkeit zur inneren Einstimmung können wir vermuten, dass der Mensch tatsächlich die gleichen neuronalen Mechanismen nutzt, die auch im Kern der interpersonellen Einstimmung liegen. Auf diese Weise kultiviert das achtsame Gewahrsein in solch einer Einkehrzeit tatsächlich die neuronalen Voraussetzungen für Empathie und Mitgefühl gegenüber anderen. Einstimmung ist der gemeinsame Mechanismus, den wir in gesunden Beziehungen mit anderen, und in den Beziehungen, die wir mit uns selbst führen, finden. In diesem Sinne können wir Achtsamkeit als eine Möglichkeit verstehen, unser eigener bester Freund zu werden. Viele Studien legen nahe, dass der wirksamste Faktor zur Förderung von Gesundheit, Langlebigkeit und „Glück“ unsere interpersonellen Beziehungen sind. Könnte deshalb vielleicht auch Achtsamkeit eine Möglichkeit sein, um nicht nur unsere sozialen Verbindungen zu verbessern, sondern auch unsere Beziehung mit uns selbst? Stellen Sie sich vor, dass Sie Ihr Zuhause – Ihren Körper – mit Ihrem besten Freund teilen, statt mit einem neutralen Beobachter oder gar einem feindseligen Gegner. Das ist die Kraft der Achtsamkeit, durch die wir mittels des Dreiecks* der menschlichen Erfahrung Wohlbefinden schaffen können. Warum sollten wir solch ein integratives Training nicht jedem zugänglich machen und eine regelmäßige Einkehrzeit für junge und alte Menschen fördern? So könnte ihr Gehirn integrierter, ihre Beziehungen mit sich selbst und anderen freundlicher und bedeutungsvoller* und ihr Geist flexibler und widerstandsfähiger werden.

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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