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SNAG: „Neuronen, die zusammen aktiviert sind, vernetzen sich“

Worum geht es?

SNAG* ist eine Abkürzung, die für „die Stimulation von neuronaler Aktivierung und neuronalem Wachstum“ steht (stimulate neuronal activation and growth). Wenn wir das Gehirn* mit SNAG stimulieren, versuchen wir absichtsvoll die neuronale Aktivierung* und die darauf folgende Genexpression zu fördern, die es den Neuronen* ermöglicht, ihre Verbindungen miteinander wachsen zu lassen.

Diese einfache Abkürzung basiert auf der Arbeit zahlreicher bahnbrechender Denker. Der gesamte Ansatz der Interpersonellen Neurobiologie* ermöglicht es uns, „auf den Schultern von Riesen zu stehen“, denn wir finden in einer ganzen Reihe von Disziplinen konsiliente* Erkenntnisse. In diesem Abschnitt werden wir nur einige ausgewählte Forscher erwähnen, deren Arbeit auf den Gebieten der Erinnerung* und der neuronalen Funktionsweise dafür gesorgt hat, dass es das Konzept von SNAG überhaupt gibt. Viele weitere Forscher könnten hier erwähnt werden, aber das ist nicht die Aufgabe dieses Leitfadens. Stattdessen wird dieser kurze Überblick nur einen ersten Eindruck von all den Forschungen geben können, die die Bedeutung dieser Abkürzung unterstützen. Zahlreiche klinische und akademische Autoren haben geschrieben, dass bei der Aktivierung miteinander verbundener Neuronen die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie in Zukunft zusammen aktiviert werden. Sigmund Freud bezeichnete diese Feststellung als Gesetz der Assoziation und Donald Hebb diskutierte in seinen Werken die gleiche Vorstellung. Deshalb sprechen Neurowissenschaftler heute vom „Hebbschen Gesetz“ oder von der „Hebbschen Synapse*“, die durch diese verbundene Aktivierung gebildet wird. Carla Schatz, eine Neurowissenschaftlerin, die Hebbs Ideen weiterführte, nutzte eine leicht einprägbare Formulierung: „Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzten sich“* („Neurons that fire together, wire together“). Und Robert Post und seine Kollegen erweiterten die Formulierung und fügten hinzu: „und überleben zusammen“. Dadurch wollten sie andeuten, dass wir Fähigkeiten des Gehirns „nutzen oder verlieren“ können („use it oder loose it“) – wenn Neuronen zusammen aktiviert werden, verringert sich ihre Menge nicht. Der Verlust neuronaler Verbindungen wird als neuronales Beschneiden, als Parcellation oder Apoptose, bezeichnet. Fred Gage hat gezeigt, wie Neuheit das Wachstum neuer Neuronen in der Hirnregion des Hippocampus* stimuliert. Und Eric Kandel erhielt den Nobelpreis für seine Forschungsarbeit, in der er zeigte, wie neuronale Aktivierung tatsächlich die Genexpression fördert und diese verbundenen Muster des synaptischen Wachstums unterstützt. Michael Meaney und andere haben auch zu unserem Verständnis darüber beigetragen, wie die Erfahrung und davon ausgelöste neuronale Aktivierung das Wachstum des Gehirns beeinflusst. Es konnte gezeigt werden, wie Erfahrungen in der Kindheit die neuronalen Verbindungen in Bereichen formen, welche die Reaktion auf Stress* regulieren, und außerdem, wie die epigenetische* Kontrolle der Genexpression in diesen neuronalen Gebieten verändert wird.

Implikationen: Was bedeutet es für unser Leben, dass Neuronen, die zusammen aktiviert werden, sich vernetzen?

Wir sind unsere Aufmerksamkeit*. Je intensiver und vielleicht auch spezifischer unsere neuronale Aktivierung ist (die wir mit dem Fokus unserer Aufmerksamkeit schaffen), desto mehr bleibende synaptische Veränderungen werden wir wahrscheinlich in unserem Gehirn initiieren. Ein Aspekt des Geistes* ist der Prozess*, der den Energie- und Informationsfluss* reguliert*. Deshalb können wir sagen, dass der Geist Aufmerksamkeit ist: Was wir mit unserem Geist tun, kann die Struktur unseres Gehirns verändern. Aufmerksamkeit ist der Prozess, der den Fluss von Information* reguliert. Somit können wir durch die Erkenntnisse der Neuroplastizität* erkennen, dass ein Aspekt des Geistes – ein Prozess, der den Energie-und Informationsfluss reguliert – die Struktur des Gehirns verändern kann. Im Umgang mit Kindern, in der Pädagogik und in der Psychotherapie nutzen wir den relationalen*Aspekt des Geistes, um die Aufmerksamkeit unseres Kindes, des Schülers oder Klienten/Patienten zu fokussieren, um die neuronale Aktivierung auf eine Weise zu fördern, die potentiell die Struktur des Gehirns verändert. Das ist die fundamentale Grundlage des Lernens. So stimulieren wir das Gehirn mit SNAG.

Sobald die synaptische Vernetzung des Gehirns verändert ist, werden Pfade, die im Nervensystem* als Mechanismus für den Energie- und Informationsfluss dienen, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass diese Muster fortdauern. Das ist die Verbesserung des Lernens. Das, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, verändert uns: Sei es unfreiwillig, wie bei Missbrauch* oder Vernachlässigung* oder freiwillig durch das, worauf wir im Alltag oder in der Schule unsere Aufmerksamkeit richten. Auf diese Weise kann Lernen sowohl negativ als auch positiv sein. Wir Menschen werden zutiefst und dauerhaft von unseren Erfahrungen beeinflusst.

Der Energie- und Informationsfluss steuert die neuronale Aktivierung. Wenn Neuronen zusammen aktiviert sind, stärken sie ihre synaptischen Verbindungen. Dadurch wird es wahrscheinlicher, dass die damit verbundenen Aktivierungsmuster im Lauf der Zeit wieder erscheinen. Für einen Lehrer sind dies gute Nachrichten, denn pädagogische Erfahrungen können das Gehirn der Schüler positiv verändern – wodurch sie auf dem Weg in eine Zukunft, die wir nicht kennen, unterstützt werden. Denn wenn wir das gestern Gelernte benutzen, um heute unsere Kinder zu unterrichten, dann bereiten wir sie nicht gut auf das Morgen vor. Doch indem wir uns auf die wichtigen R’s der Pädagogik* fokussieren, durch die wir Resilienz entwickeln können – Reflexion* und Beziehungen* – kann der Unterricht das Gehirn der Schüler absichtsvoll zu Resilienz* stimulieren (vgl. SNAG*). Wir müssen uns nicht länger durch Lehrprogramme einengen lassen, die unser integratives, präfrontales neuronales Netz* nicht berücksichtigen, sondern wir können ein Programm entwickeln, bei dem „der präfrontale Cortex* nicht unberücksichtigt bleibt“. Dies gelingt, indem wir Übungen der Einkehrzeit* kultivieren, die die Bedeutung von Reflexion und Beziehungen hervorheben, welche der Kern der Resilienz sind, und durch die durch eine gut entwickelte integrative Präfrontalregion entsteht.

In Bezug auf die Psychotherapie können wir verstehen, dass unsere Aufgabe darin besteht, in „vier Dimensionen“ zu schauen, wenn wir unsere Wahrnehmung auf den Verlauf der Zeit ausdehnen. So können wir feststellen, dass der Mensch, mit dem wir arbeiten, in synaptischen Schatten* eines langen Lebens eingebettet ist, die sich in der Form von Narrativen*, Erinnerungen, den Formen des Fokussierens der Aufmerksamkeit und in den Interaktionen, die dieser Mensch mit uns als Therapeuten hat, zeigen. Es ist Teil der Kunst, ein Therapeut zu sein, dass wir lernen, über Zeit hinweg zu schauen. Dazu gehört auch das Erkennen potentieller Möglichkeiten, damit wir die Bewegung der Menschen, denen wir helfen, in Richtung einer tiefer integrierten Lebensweise unterstützen können.

Eltern können wach werden für die Möglichkeit – und die Herausforderung – integrative Erfahrungen für ihre Kinder zu schaffen, die ihr Gehirn zur Integration* stimulieren. Wenn wir uns dieses Potentials gewahr werden, kann die Elternschaft wirklich ein Weg sein, die Kraft der Neuroplastizität zu nutzen, um die zukünftigen Generationen positiv zu beeinflussen (intergenerationale Weitergabe).

Für jeden, der anderen oder sich selbst dabei hilft, in Richtung Integration zu wachsen, ist es hilfreich, die neuronalen Netze des Gehirns zu kennen, die für das neuroplastische Wachstum notwendig sind. Eltern sollten wissen, was für eine Art von Unterstützung und Stimulation bestimmte Regionen des Gehirns ihres Kindes brauchen, um integrativ wachsen zu können – dazu gehören die Verknüpfung* der linken und rechten Hemisphäre* oder die Verbindung der Reaktionen des Körpers mit dem kortikalen Gewahrsein*. Ein Lehrer kann einen Lehrplan anwenden, der mit dem Wissen um Neuroplastizität geschrieben wurde. So kann ein Programm entwickelt werden, das die Integration des gesamten Gehirns fördert. Therapeuten, die darum wissen, welchen Einfluss die Kraft der Aufmerksamkeit auf die Veränderung von Strukturen im Gehirn hat, können die Natur der therapeutischen Beziehungen neu verstehen und Erfahrungen anwenden, die das Gehirn zur Integration stimulieren.

Das Gehirn verändert sich nicht in einem Vakuum. Die Interpersonelle Neurobiologie erinnert uns daran, dass das Gehirn zutiefst sozial ist. Vor diesem Hintergrund können wir uns dem Dreieck* von Geist, Gehirn und Beziehungen zuwenden und dabei bedenken, dass sogar neu-roplastische Veränderungen durch unterstützende Beziehungen gefördert werden. Beispielsweise konnten Studien, die das Erlernen von Sprache bei kleinen Kindern untersucht haben, zeigen, dass der Unterricht mit Computern, bei dem die Beziehung mit einem anderen Menschen fehlt, nicht annähernd so wirksam ist, wie der Unterricht mittels Beziehung. Denn der limbische* Bereich des Gehirns, der unsere Zustände* der Motivation und die Bildung von Erinnerungen umfasst, ist direkt mit unserem Bedürfnis nach Beziehungen, nach Bindung*, assoziiert.

Die Anwendung aller sieben (oder acht!) Faktoren der Neuroplastizität – einschließlich der Beziehungen und der Reflexion während der Einkehrzeit – kann das gesunde* Wachstum des Gehirns unterstützen. Wenn wir das Gehirn mittels SNAG zur Integration stimulieren, sorgen wir dafür, dass Neuronen zusammen aktiviert werden und sich in einer Weise vernetzen, die zutiefst transformierend wirkt.

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie

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