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Frühe Andeutungen
ОглавлениеDas Wundervolle galt ihm nicht als Ausnahme, sondern als Regel.
– Ernest Renan, Das Leben Jesu (Übers. Hans Helling)
Die Fremden kamen. Sie sprachen unsere Sprache nicht, aber sie brachten Scherben aus glänzendem Obsidian mit – geradezu perfekt, um Klingen daraus zu machen. Die Klingen waren scharf genug, um durch Fleisch und sogar Knochen zu schneiden.
Daher nahmen die, die im Dorf lebten, die Scherben dankbar an und sorgten dafür, dass die Fremden mit Platz nehmen durften, als man am Abend auf dem Dach Ziegenfleisch und Milch servierte.
Die Fremden blieben. Vielleicht wollten sie einen Blick auf die Dame werfen, wenn sie vorbeischritt. Vielleicht würde sie auch ihnen Segen bringen, wie den Dorfbewohnern. Bei den Fremden wusste man nie, woran man war. Klar, sie staunten, wie viele Menschen kamen und gingen, waren beeindruckt von der großen Zahl der Schafe, die am Abend ins Dorf getrieben wurden.
Sie waren wachsam, vor allem, als die Leopardentänzer die Dämmerung willkommen hießen. Die Tänzer trugen die gipsernen Köpfe ihrer ehrwürdigen Vorfahren, von einigen tropfte noch die frische rote Farbe, die die Vorfahren voller Blut und lebendig hielt. Die Männer trugen einen Lendenschurz aus Leopardenfell und führten ein lautes Stöhnen und Wehklagen auf, obwohl Leoparden doch heimlich und leise anzugreifen pflegen. Die Frauen und Männer drehten sich um und schritten rückwärts um das Dorf, wobei sie alle das geheime Lied ihrer Familie sangen und den Gipskopf vor sich ins Dunkel hielten. Sie trugen keine Fackeln, und ganz plötzlich kehrten sie, wie große Katzen, heim, um ihre Vorfahren in ihre Häuser zurückzubringen.
Am Haupteingang des Dorfs brannte ein Feuer, und die Fremden versammelten sich dort mit den anderen Männern und Kindern. Ein Schamane, ein alter Mann, der alles über Tiere wusste, stand aus dem Kreis auf und begann das Lied – ein Lied in einer alten Sprache, und selbst die, die es schon oft gehört hatten, verstanden nicht alle Worte. Es ging um Jagd und Erfolg, es lobte bestimmte Ahnen dafür, wie gut sie Stiere anlockten und Wildschweine töteten.
Der alte Mann versuchte außerdem zu prüfen, ob die Fremden mit lauterer Absicht gekommen waren, die Männer und Frauen und ein oder zwei Säuglinge, die dort zusammen kauerten. Dass Fremde anwesend waren, war äußerst ungewöhnlich; dass nicht alle, die Opfergaben brachten, die Geheimnisse des Dorfs kannten.
Immerhin konnte es doch sein, dass ihre Anwesenheit das Gebet, das nun beginnen sollte, wirkungslos machte. Vielleicht aber hieß die Dame ihre Gaben auch gut, und es konnte sein, dass das Gebet und die folgende Ernte günstig ausfielen. Empfänglich genug schienen sie eigentlich, wenn auch ein wenig verblüfft über des Schamanen Kopfschmuck und seine wilde Sprache, die sie nicht verstanden.
Es wurde spät, und einige der Fremden waren bereits eingeschlafen. Der Schamane hörte zu singen auf, und ein erwartungsvolles Schweigen befiel die Versammlung. In der Ferne, außerhalb des Lichtkreises, stöhnte ein Leopardenmensch.
Dann stand sie auf einmal in ihrer Mitte – groß, stattlich, eine rote Maske auf dem Gesicht, und sie warf ihre Glieder herum und schrie ihren Willen heraus: Man solle die Fremden drei Tage lang bewirten. Man solle ihnen Felle als Bekleidung geben, Steine zum Feuermachen, sie einladen, zur Sonnenwende wiederzukommen und mehr von ihrem Gestein mitzubringen. Sie seien willkommen, schrie sie, von Herzen willkommen!
Die Männer und Kinder erhoben sich, jubelten und umarmten die Fremden. Die Dame stolzierte davon in die Nacht. Die Männer legten für die Fremden Felle heraus und kehrten in ihre Häuser zurück. Heute war es noch warm, und sie würden auf ihren Dächern schlafen. Die Frauen lagen dort bereits.
Im Morgengrauen aber wurde das Dorf jäh geweckt und die Fremden auch. Dort, am Horizont, schlich ein echter Leopard umher. Die schlanke und hungrige Wildkatze war auf der Suche nach Fleischresten der vergangenen Nacht, hatte aber zu viel Angst vor den Menschen des Dorfs, um näher zu kommen.
Das war ein wirklich gutes Omen.
***
Çatal Höyük („gabelförmige Ruine“) ist heute ein großer Hügel im Süden der Türkei, aber um 8000 v. Chr. war es ein Handelszentrum, in dem vielleicht das passierte, was in den vorangegangenen Zeilen beschrieben wurde. Es war eine große Stadt, noch bevor man die Pflanzen kultivierte, und domestizierte Tiere gab es ebenfalls erst wenige. Aus der erhaltenen Kunst wird klar, dass die Menschen geradezu besessen von Leoparden waren. Vielleicht waren die Leoparden die heiligen Tiere dieser Stätte und man tötete sie in der Regel nicht.
Die Stätte Çatal Höyük ist unter den jungsteinzeitlichen Dörfern, die wir kennen, ein Sonderfall. Sie bestand von der Zeit, als die Menschen noch gar keine Töpfe hatten, bis in die Zeit, als Keramik bereits weit verbreitet war. Es barg Spuren von kultiviertem Weizen und domestizierten Ziegen, wie andere Fundorte, aber dazu auch Schätze aus Obsidian, dem vulkanischen Glas, aus dem man besonders scharfe Messerspitzen herstellen kann. Das Dorf blühte um 7000 v. Chr. und war von bemerkenswerter Größe, aber seine zahlreichen Häuser hatten keine Türen. Man betrat sie durch ein Loch im Dach.
Die Toten wurden in den Etagen der Häuser begraben, aber bei einigen entfernte man den Kopf und bedeckte ihn mit Gips. Der Gips wurde immer wieder erneuert und mitunter rot angemalt. Besonders geehrter Vorfahren, aber auch der Kinder gedachte man auf diese Weise (Bonogofsky 2004). Vermutlich sollte dieser Brauch bedeuten, dass man das Leben des Toten mit Blut erneuerte.
Hauswände dekorierte man manchmal mit Jagdszenen, einige davon sind heute noch in lebendigen Farben erhalten. Unter den Tieren waren Leoparden besonders prominent; aber sie wurden dabei nicht unbedingt gejagt. Einige von ihnen lagen auf Darstellungen an den Wänden nur wie Katzen herum, und es waren dort Menschen abgebildet, die ein Leopardenfell trugen. Merkwürdig ist, dass man bisher nur einen einzigen Leopardenknochen in der gesamten Anlage gefunden hat, und zwar in der Grabstätte einer Frau von hohem Status; vielleicht trug sie ihn als Anhänger, denn er hatte ein Loch. Gab es einen Grund, warum Menschen keine Leoparden jagten, auch wenn sie offensichtlich einen wichtigen Teil ihrer Kunst darstellten? Denn dass es in der Nähe Leoparden gab, ist klar.
Die Stätte war offenbar ein wichtiges Handelsdepot für Obsidian, aber wir können nicht nachvollziehen, warum die Leute es horteten und unter ihrem Fußboden vergruben. Es gab auch Darstellungen von Rindern, und die Bewohner hatten keinerlei Skrupel, Rinder zu essen, wie Knochen zeigen.
Vielleicht war es für die Menschen in der Region eine Stätte von religiöser Bedeutung. Es scheint, als hätten die Menschen vor Ort mehr Ressourcen zur Verfügung gehabt, als sie selbst hätten züchten oder jagen können. Was uns in Çatal Höyük auf die Fährte der Religion führt, sind die Fruchtbarkeit von Herden und Kulturpflanzen und das Thema Leben nach dem Tod. Einige, aber anscheinend nicht alle Tote scheinen weitergelebt zu haben in dem Sinne, dass sie Anteil am Leben der Gemeinschaft hatten, in dem Maße, dass ihre Köpfe aufbewahrt und mit mehreren Schichten Gips versehen wurden. Wir können nicht mehr feststellen, wie entschieden wurde, wem man diese Sonderbehandlung zukommen ließ, oder ob eine solche Behandlung als Ehre galt (Hodder 2006).
Als die Archäologie im viktorianischen 19. Jahrhundert den alten Orient entdeckte, befand sich die westliche Gesellschaft mitten in einem Prozess der Säkularisierung. Das bedeutete, dass die religiösen Kräfte an Einfluss verloren und an den Rand gedrängt wurden, wenn es um Entscheidungen darüber ging, was die Regierungen taten und wofür sie ihr Geld ausgaben. Allerdings waren viele der Wissenschaftler, die am säkularen Wunder der Wiederbelebung des Wissens um den alten Orient Anteil hatten, studierte Theologen, angehende Priester oder Rabbiner oder bekleideten sogar ein geistliches Amt. Ihr Blick auf frühere Epochen mag durchaus von einem größeren Interesse an religiösen Dingen geleitet gewesen sein als der vieler Zeitgenossen. Darüber hinaus enthielten neue Funde die Namen bisher gar nicht oder nur wenig bekannter Götter. Die Welt des alten Orients schien von einer tiefen Religiosität bestimmt gewesen zu sein, in der sich die Erfahrungen der Forscher widerspiegelten.
Tempel gehörten zu den größten und interessantesten Funden der viktorianischen Ausgräber. Sie vermuteten, dass die Tempel bei der Entstehung der frühen Zivilisationen ein wichtiger Motivations- und Organisationsfaktor waren. Ihre Publikationen waren reich an Dokumenten aus den Tempeln und religiösen Texten. Sie gelangten zu der Überzeugung, dass diese frühen Gesellschaften sehr fromm gewesen seien und die Religion für sie die Funktion gehabt habe, die Gesellschaft zu ordnen. Die alten Könige hatten damit geprahlt, dass sie Tempel bauten, um die Götter zu erfreuen; die modernen Gelehrten neigten nun dazu, auch wenn sie den Schwulst durchschauten und die politische Motivation dahinter erkannten, diese Frömmigkeit für bare Münze zu nehmen.
Es ist erstaunlich, dass dieser Ansatz seinen Höhepunkt ausgerechnet bei dem äußerst weltlichen Anthropologen Robert McCormick Adams fand. In seinem Buch The Evolution of Urban Society (Adams 1966) befand er, dass die Gesellschaften von Mesopotamien genau wie die von Mittelamerika unter der Ägide von Priesterkönigen entstanden seien – Männern, die ihre enge Verbindung mit dem Übernatürlichen benutzten, um andere einzuschüchtern und zur Mitarbeit bei der Umsetzung großer religiöser Projekte zu bringen. Was spätere Epochen angeht, so gibt es umfangreiche Beweise für diese Behauptung; Archive verzeichnen große Ländereien und eine große Zahl an Menschen, die vom „Haus der Dame“ kontrolliert wurden, einem Tempel-Komplex, dem die Ehefrau des Gouverneurs von Lagaš vorstand, einer großen Stadt im Süden des Irak. Das war um 2400 v. Chr., aber doch lange nach Entstehen der mesopotamischen Zivilisation in der irakischen Ebene um 5500 v. Chr.
Adams zeichnet in seinem Buch ein plausibles Bild von den frühen Entwicklungen in Mesopotamien und in Mittelamerika, und doch ist dieses Bild ganz zwangsläufig ein skizzenhaftes und theoretisches. Es basiert außerdem auf der abgemilderten marxistischen Vorstellung davon, wie Menschen motiviert werden, indem man ihnen spirituellen Trost bietet im Austausch für körperliche Arbeit. Die Schlussfolgerung lautet, dass diese alten Völker irgendwie religiöser waren als wir es heute sind. Mitunter hat man behauptet, die Menschen damals hätten geglaubt, ihre religiösen Führer besäßen außergewöhnliche Kräfte, durch die sie in der Lage wären, ihnen Schmerzen zuzufügen, wenn sie nicht gehorchten. Für eine solche Haltung gibt es wenig direkte Beweise, und die große physische Mobilität der mesopotamischen Gesellschaft zeigt, dass die Menschen „mit den Füßen“ abstimmten: Trat ein Stadtoberhaupt allzu anmaßend auf, hatte er bald immer weniger Anhänger, und im schlimmsten Fall war seine Stadt am Ende gänzlich verlassen.
Nun mögen Forscher die ferne Vergangenheit noch immer als stark religiös geprägt ansehen, für uns selbst und unsere Gesellschaft verneinen wir jedoch, von religiösen Mandaten bestimmt zu sein oder ihrem Bann zu erliegen. Und dennoch hat auch unsere heutige Gesellschaft zahlreiche Befürworter von mehr Religiosität in der Politik. Nichtreligiöse Menschen sehen hier eigennützige Motive am Werk, und vielleicht war es dieser Egoismus, den Adams wahrnahm und eigentlich ansprechen wollte. Aus einem so großen Abstand heraus ist es natürlich schwer zu beurteilen, wie aufrichtig man damals mit der Religion umging, vor allem, wenn dem modernen Beobachter die Art und Weise, wie man diese Religiosität zum Ausdruck brachte, mehr als fremd- und eigenartig erscheint.
Was geschah als Nächstes? Nachdem der Nahe Osten mit bäuerlichen Gemeinden übersät war, die wahrscheinlich lediglich durch den gelegentlichen Austausch von Waren und Innovationen miteinander verbunden waren, kam es durchaus manchmal zu Problemen mit der niederschlagsabhängigen Landwirtschaft. Wir glauben, dass die dortige Gegend ab mindestens 3000 v. Chr. so trocken war, wie sie heute ist – also ziemlich trocken. Es kann also gut sein, dass in schlechten Jahren Dörfer teilweise oder komplett aufgegeben wurden; manche Menschen zogen weiter bis in die Berge, wo es mehr Regen gab, oder sie gaben die Landwirtschaft ganz auf, um ihren domestizierten Schafen oder Ziegen auf ihrer Suche nach Nahrung zu folgen. Solche Umsiedlungen hinterließen in archäologischen Stätten kaum Spuren, aber es kann durchaus sein, dass die Menschen dadurch sehr viel sensibler wurden, was die Wechselhaftigkeit des Wetters betrifft. Dies kann durchaus dazu geführt haben, dass die Menschen versuchten, die Regengötter zu besänftigen.
Die Nomaden zogen in die Berge, manchmal aber auch in die Wüste, die ihnen allerdings nicht wirklich zusagte, und spätere Nomaden konzentrierten sich, soviel wir wissen, in ihrem religiösen Bemühen auf den Gott des Mondes – das hatte unter Umständen etwas damit zu tun, wie man sich in einer Gegend mit wenigen verfolgbaren Spuren zurechtfand.
Der wichtigste Schritt für die Geschichte der Religion war die Besiedlung der irakischen Ebene von den Gebirgsausläufern im heutigen Irak und Kurdistan aus. Die Gebirgsausläufer wurden auch weiterhin produktiv bewirtschaftet, aber die Ebene wurde wie heute noch von den zwei großen Flüssen und von unzähligen natürlichen Kanälen mit Wasser versorgt. Es war ein Leichtes, an den Ufern dieser Gewässer Felder anzulegen, und es stellte sich heraus, dass solche bewässerten Kulturen bis zu zehn Mal mehr Ausbeute brachten als nur mittels Regen bewirtschaftete Kulturpflanzen. Die Ebene war ansonsten trocken und unfruchtbar und im Sommer auch sehr heiß, aber die hohe Produktivität scheint die Landwirte aus den Dörfern in die Ebene gelockt zu haben.
Was die Siedler für die Religion taten, können wir in der südlichen Stätte Eridu beobachten, dem heutigen Abu Schahrain, wo ein irakisches Team eine moderne wissenschaftliche Ausgrabung durchführte, deren Ergebnisse in beispielhafter Art und Weise veröffentlicht wurden (Safar u.a. 1981). Laut der viel späteren sumerischen Königsliste kam das erste Königtum in Eridu vom Himmel herab – das bedeutet, man glaubte, dass sich eine komplexe Sozialstruktur zuerst dort, in Eridu, gebildet habe; und auch wenn dies nicht der am frühesten bewohnte Ort auf der Ebene war, so war er doch schon sehr früh besiedelt, vielleicht um 5500 v. Chr. (Jacobsen 1939: 70–71). In Eridu fanden die Irakis ein altes Gebäude aus Lehmziegeln, dessen Boden mit Fischgräten übersät war; Fisch war ein weiterer Vorteil des Lebens am Fluss. Dieses Gebäude wurde mehrmals umgebaut, und für spätere Epochen konnte man es als Tempel des Gottes Enki identifizieren. Offenbar mochte er es, wenn man ihm Fisch opferte, und teilte seine Beute gerne mit seinen menschlichen Anhängern.
Wie wir sehen werden, war er ein Süßwassergott, und sein sumerischer Name bedeutet „Erdenherr“, wobei diese Bezeichnung in die Irre führen kann: Er war ein Gott dessen, was die Erde fruchtbar machte – des Wassers, das die Überschüsse schuf, die die Lagerräume bis an die Decke füllten. Es ist unklar, ob er etwas mit den früheren Regengöttern zu tun hat. In der Ebene gab es nur im Winter Regen. Dieser Tempel war wahrscheinlich ein organisatorisches Zentrum für seine Gemeinde, er war das größte Gebäude und stand für eine umfassende Bündelung der Ressourcen der Menschen. Es gab tägliche Mahlzeiten aus Fisch, und vielleicht durften sich alle daran beteiligen, vielleicht fand hier aber auch nur eine Reihe von Zeremonien statt, an denen nur wichtige Entscheidungsträger der Gemeinde Anteil hatten, vielleicht noch nicht einmal die Fischer selbst.
Wir haben keine genaue Vorstellung davon, wie sich damals Eliten bildeten, aber wahrscheinlich gab es bei den Feldern eine Hierarchie in Bezug darauf, wie gut man sie bebauen konnte, und diese Ressourcen waren möglicherweise ungleichmäßig verteilt. Selbst wenn sie es nicht waren, so waren einige Leute geschickter und talentierter als andere; im Laufe der Zeit hatten sie mehr Einfluss auf die Entscheidungen innerhalb der Gemeinschaft. Eventuell traten dabei nicht nur Persönlichkeiten in den Vordergrund, die die Gemeinde in praktischen Dingen leiteten, sondern auch solche, die Priester wurden. Das Grundwort im Sumerischen für Priester, E N, bedeutet auf Akkadisch zugleich „Priester“ und „Herr“, und das weist darauf hin, dass es in den Gemeinden unter Umständen keine großen Unterschiede zwischen praktischer und ideologischer Führung gab. Wenn wir diese Entwicklung für eigennützig und gefährlich halten, betrachten wir sie vielleicht zu sehr aus heutiger Sicht. Später werden wir sehen, dass es genau diese Personen waren, die für die Versorgung der Armen zuständig waren, und insofern war ihr Ansatz zumindest ein wenig von Altruismus geprägt.
Die Bewohner anderer früher Siedlungen können neben dem Gott des Süßwassers durchaus andere Götter angebetet haben, allerdings müssen auch sie vom Flusswasser abhängig gewesen sein. Was die Eigenschaften dieser Götter angeht, kann man nur spekulieren, aber in späteren Zeiten hatten die Städte Hauptgötter, die in den größten Gebäuden verehrt wurden. Diese Götter hatten Götterfamilien, die ebenfalls im Haupttempel verehrt wurden oder eigene kleinere Schreine hatten. Die Konstruktion von Göttergruppen als Familien scheint sehr alt zu sein, auch wenn definitive Beweise dafür erst aus der Zeit stammen, als die Menschen bereits darüber schreiben konnten (Sallaberger 2004).
Eine weitere Möglichkeit, Beziehungen zwischen verschiedenen Göttern herzustellen, war der Synkretismus; dabei identifizierte man eine Gottheit mit einer anderen, die einen anderen Namen hatte, aber ähnliche Eigenschaften. Dies scheint ein grundlegender Wesenszug des Polytheismus zu sein: eine Vielzahl von Göttern und das Bedürfnis der Menschen, diese zu kategorisieren. Eventuell war es politisch notwendig, mit anderen Städten zu kooperieren, die andere Götter hatten, aber als freundlich gesonnen galten, so dass man annahm, dass auch die Interaktion zwischen den verschiedenen Göttern positiv verlief. Polytheismen scheinen besonders gut dafür geeignet, religiöse Konflikte zu vermeiden, und dies zum Teil deshalb, weil sie offener sind und eine beliebige Anzahl neuer Götter mit neuen Namen aufnehmen können. Der Synkretismus ermöglicht es ihnen, ein aufkeimendes System zu vereinfachen und dabei die Namen und das Spektrum der am jeweiligen Standort beliebten Gottheiten beizubehalten. Eine Analogie bilden die verschiedenen Formen der Jungfrau Maria, von denen einige eventuell sogar auf verschiedene vorchristliche Gottheiten zurückgehen und die unter dem Dach des Christentums vereinigt worden sind. Sie wird auf unterschiedliche Weise verehrt und weckt hier und dort unterschiedliche Gefühle, aber niemand würde daran zweifeln, dass ein und dieselbe Jungfrau Maria gemeint ist.
Dieser Mechanismus war in der Lage ein Pantheon zu erschaffen, das Götter verschiedener Städte inkorporierte, aber bevor die frühen, von der Bewässerung abhängigen Bauerndörfer zu größeren politischen Einheiten verschmolzen, wird sich niemand darum geschert haben. Doch als sie sich zu vereinigen begannen, wurde es umso wichtiger, und man identifizierte die einen Götter mit anderen Göttern und glich ihre Eigenschaften einander an. Dies ist der früheste Polytheismus, von dem wir wissen. Von Stadt zu Stadt mögen die religiösen Befindlichkeiten andere gewesen sein, da die Objekte der Religion sich unterschieden, aber zur einer Spaltung innerhalb der Religion an sich führte dies anscheinend nicht.