Читать книгу Die Religionen des alten Orients - Daniel Snell - Страница 12
Wofür die Götter gut waren
ОглавлениеMan hatte dem jungen Priester genau erklärt, was er zu tun hatte, und er war die ganze Nacht auf gewesen, hatte die heiligen Gegenstände bewacht, die ersten Datteln, die jemand aus der Stadt geerntet hatte. Sie waren grün und matschig und nicht besonders appetitlich. Er zog getrocknete Datteln vor, aber die Göttin wollte die allerersten, und zwar so bald wie möglich. Er war müde, aber blieb aufmerksam, während das erste Licht der Morgendämmerung über dem Horizont erschien, und allmählich konnte er das Geflecht des Korbes erkennen und die schlafende Stadt. Erst ein, zwei Rauchwolken stiegen auf, aus den Häusern der Frühaufsteher.
Der alte Priester hatte ihm genau erklärt, was er zu tun hatte, und der Priester konnte die Treppe zur Terrasse nicht mehr erklimmen, also durfte er jetzt keine Fehler machen. Er hatte angenommen, dass ihm in der Nacht ein wenig kalt werden würde – schließlich erwartete man von ihm, dass er vollkommen nackt vor dem Tempel aus Lehmziegeln sitzen sollte. Aber es war noch immer Hochsommer, auch wenn die Dattelernte bis in den Herbst hinein dauern würde. Nach der sengenden Hitze des Tags war die Nacht fast angenehm. Dass er nackt war, sollte der Göttin seine Reinheit zeigen; es mochte ihm ein wenig peinlich sein, aber glücklicherweise war er ganz allein. Selbst die Priester der Tagesschicht waren noch nicht eingetroffen, um die Tempelterrasse zu säubern und den Rest des Frühstücks für die Göttin vorzubereiten. Die Gabe, die er darbrachte, war eine ganz besondere, und es musste in der Morgenröte stattfinden, nachdem die erste Ernte eingefahren war.
Hier saß er also, nackt.
Da, die ersten Sonnenstrahlen hatten endlich die Ebene erreicht. Er erhob sich und ging langsam in den Tempel hinein. Das Bildnis der Göttin schien ihn zu betrachten, das Licht begann gerade, ihr vergoldetes Haar zum Leuchten zu bringen. Das Bildnis war aus Holz gefertigt, mit goldenen Applikationen.
Es war überlebensgroß, und die Kleider, in denen die Göttin dargestellt war, waren mit diesen teuren blauen Steinen gespickt, die aus dem Osten kamen. Ihre pechschwarzen Augen schienen ihn aufmerksam anzuschauen, als er, den Korb in den Händen, vor sie trat.
Er begann mit seinem Gebet, das er auswendig gelernt hatte: „Herrin aller göttlichen Eigenschaften, Lichtgeberin, aufrechte Frau in überwältigender Pracht, vom Himmel wie von der Erde geliebt …“
Das war sie wirklich, wie ihm klar wurde, als er den Korb vor sie warf. Dann wandte er den Blick ab und ging rückwärts wieder hinaus – es konnte doch sein, dass sie sofort beginnen wollte, die Datteln zu verspeisen. Er beendete sein Gebet außerhalb des Tempels, wo die Sonne inzwischen ankündigte, wie heiß der Tag werden würde.
***
So in etwa könnten die Erlebnisse eines Priesters ausgesehen haben, der der Göttin Inanna die ersten Früchte der Saison darbot. Das Gedicht, das wir kennen, ist erst viel später entstanden (Hallo und van Dijk 1968: 14–15), und in den frühesten Zeiten wäre die Muttersprache eines solchen jungen Priesters wohl Sumerisch gewesen, so dass er es auch komplett verstanden hätte. Doch schließlich sprach niemand mehr Sumerisch, und es wäre eine akademische Herausforderung gewesen, das Gebet auswendig zu lernen und es richtig aufzusagen. Es falsch wiederzugeben, hätte der Göttin sicher missfallen.
Die Religion ist für uns Menschen da, die wir in diesem Moment die Erde bevölkern. Das wird sehr schön durch eine kunsthistorische Tatsache untermauert: Während es in einigen Kulturen Darstellungen einer ganzen Reihe von Göttern gibt, die alle für sich in ihrer eigenen Welt leben, gilt dies nicht fürs alte Mesopotamien. Die wohl bekannteste Darstellung einer komplett göttlichen Welt stammt aus dem 2. Jt. v. Chr. und findet sich im türkischen Yazilikaya, das offenbar ein Zentrum für den Dienst am hethitischen Pantheon war; es ist ein in einen Berghang geschnitztes Relief einer marschierenden Götterparade. Im südlichen Irak findet sich so etwas überhaupt nicht, in keiner Epoche. Dort sind auf Darstellungen immer Menschen präsent, entweder als Gläubige oder als Überbringer von Geschenken. Die Uruk-Vase aus der Uruk-Zeit im 4. Jt. v. Chr. zeigt eine interessante Darstellung einer Göttin, der ein nackter sie anbetender Mann, der politische Führer einer Stadt, zu sehen ist, der ihr einen großen Topf darbietet, wahrscheinlich mit Datteln gefüllt, einem der Grundnahrungsmittel jener Gegend. Immer waren Menschen dabei, manchmal nur an der Peripherie von Mythen und Geschichten, manchmal erschienen sie wie ein nachträglicher Einfall, aber immer waren sie der eigentliche Grund dafür, dass man die Geschichte erzählte. Wir haben Götter, weil wir verstehen wollen, wie die Welt funktioniert, aber was noch wichtiger ist: Wir haben Götter, um festzustellen, wie wir in diese Welt passen (Boemer 1957–1971).