Читать книгу Die Religionen des alten Orients - Daniel Snell - Страница 14
Göttertypen
ОглавлениеDie Mesopotamier teilten ihre Götter in verschiedene Kategorien ein. Unsere Quellen für das Verständnis ihrer Ansichten reichen von gelehrten Listen bis zu den persönlichen Namen konkreter Menschen. Die Archäologie erlaubt uns manchmal festzustellen, was genau man für einen bestimmten Gott tat, gewährt uns normalerweise aber keinen Einblick in die Gefühle der Menschen bei bestimmten religiösen Anlässen, nicht einmal für die Eliten. Geschichten über die Götter kennen wir auch aus literarischen Texten, die Teil der Ausbildung von Schriftgelehrten waren; diese entsprachen vermutlich in einigen Epochen den Ansichten anderer Teile der Gesellschaft, aber sie stellten in keinem Fall eine Orthodoxie dar, an die man sich zu halten hatte. Wenn wir uns also mit einem Mal in einer antiken irakischen Stadt wiederfänden und das Sumerische oder Akkadische so gut beherrschten, dass wir die Menschen verstehen könnten und sie uns, so ist es zweifelhaft, ob jeder, mit dem wir sprächen, überhaupt von all diesen Göttern gehört hätte, deren Geschichten wir kennen. Einige sicherlich schon, so glauben wir, weil das gelehrte Medium der Schrift ihnen diese Informationen zugänglich machte, aber was den Rest der Gesellschaft betrifft, so wissen wir es nicht. Vielleicht war es mit den Bildnissen dieser Götter ähnlich wie mit den mittelalterlichen Heiligen der Christen: Vielleicht sahen arme Leute hier und da ein Bild von einem Heiligen, wenn sie das Glück hatten, eine schöne moderne Kirche oder einen Schrein zu bewundern, und vielleicht hörten sie einen Priester über die Heiligen predigen, in einer Sprache, die sie verstehen konnten – vielleicht aber auch nicht (Gurewitsch 1992: 95).
Unter den Göttern gab es Ur-Götter, die, die als Erste existierten. Sie fanden sich in den gelehrten Göttergenealogien, und sie tauchten auch weiterhin im mythologischen Denken auf, aber sie hatten in den verschiedenen historischen Epochen zumeist keine eigenen Schreine und spielten auch keine große Rolle in den Vorstellungen der meisten Menschen darüber, wie die Welt funktioniert. Sie hatten Namen wie Anšar und Kišar, das bedeutet „ganz Himmel“ bzw. „ganz Erde“. Sie zeugten weitere Götter, und auch diese hinterließen bei späteren Denkern keinen großen Eindruck. Doch es muss am Anfang Götter gegeben haben, und es muss das Konzept gegeben haben, dass im Laufe der Zeit verschiedene Generationen von Göttern folgten.
Einer dieser Nachkommen stellte sich schließlich als durchaus bemerkenswert heraus – Abzu, der personifizierte unterirdische Süßwasserozean, von dessen Namen eventuell das englische Wort abyss abstammt, obgleich auch das griechische a-byssos, „ohne Grund“, plausibel erscheint. In gewisser Weise war dieser urtümliche Ort noch immer Teil der Wirklichkeit der Menschen, denn das Süßwasser sprudelte immer noch aus Quellen aus der Tiefe und kam ganz bequem als Fluss zu den Menschen. Wenn wir heute über diesen Süßwasserozean sprechen, nennen wir ihn den abzu, was bedeutet, dass wir ihn uns als unpersönliche Kraft vorstellen; aber in keiner Sprache der Mesopotamier gab es einen bestimmten Artikel, somit ist das eher unsere Vorstellung von den Dingen als ihre. Der abzu hatte auch etwas Unzuverlässiges und Chaotisches, so dass man ihn in den Geschichten über einen Aufstand gegen die von den Göttern verhängte Ordnung immer auf der falschen Seite findet. Außerdem erschien der abzu gleichermaßen als Ur-Ort, als unterste Stelle, die man sich vorstellen konnte, mit Süßwasser gefüllt. Er war auch der Sitz späterer Götter, die eine etwas aktivere Rolle spielten, wie vor allem der Herr der Erde – Enki, der Gott des Süßwassers (Sjöberg 1994: 184–202).
Diese frühere Göttergeneration war zu der Zeit, als man die Schrift erfand, um 3100 v. Chr., verblasst und zumindest bei manchen Menschen durch andere Götter verdrängt worden – Götter, die aktiver erschienen und vielleicht auch in das Leben der Menschen eingreifen konnten. Man unterhielt Tempel für sie, und man verfasste für sie Gebete. Die Menschen hofften, dass die Götter etwas für sie tun würden.
Der Herr des Windes, Enlil, war der Chef der Götter. Er handelte manchmal willkürlich und war unfair, aber er berief die Versammlung der Götter ein und konnte sie veranlassen, bei Herrschern und anderen Menschen einzugreifen. Prinzen, die im Süden des Irak darauf hofften, ihre Macht zu vergrößern, bauten ihm Tempel und opferten ihm. Offenbar verehrte man ihn im ganzen Süden, aber er hatte eine Stadt, die etwas ganz Besonderes für ihn war: Nippur – in vielerlei Hinsicht die religiöse Hauptstadt von ganz Mesopotamien.
Soweit wir sehen können, war die Stadt niemals eine politische Hauptstadt. Der Forscher Thorkild Jacobsen war der Meinung, dass die Vorrangstellung von Nippur und Enlil möglicherweise von der Sitte herrührte, dort einen Rat der Stadtstaaten einzuberufen, der sich mit Bedrohungen für das Flusstal auseinandersetzte. Jacobsen sah Nippur als neutralen Ort, wo Frieden aufrechterhalten werden konnte und ruhige, multilaterale Gespräche stattfinden konnten. Doch seine Belege für diese „sumerische Liga“, wie er sie nannte, sind leider lediglich spätere mythische Texte, die einen Rat der Götter beschreiben (Jacobsen 1957, Steinkeller 2002).
Der Fall Nippur wirft die Frage auf, inwieweit man die verallgemeinernde These aufstellen kann, dass religiöse Hauptstädte immer auch eine politische Rolle spielen. Jerusalem war wichtig, weil es zur Königsstadt wurde, und Rom und Istanbul ebenso. Mekka war schon vor dem Propheten des Islam wirtschaftlich bedeutend, und nach seinem Aufstieg war es nie politische Hauptstadt, aber seine religiöse Funktion wurde durch die Offenbarung an Mohammed noch einmal bekräftigt.
In Keilschrift schrieb man den Namen der Stadt Nippur einfach „Enlil-Ort“, die Lesarten Nibru und Nippur stammen aus Glossen dazu. Dies setzt sich im heutigen Namen, Nuffer, fort. Der Gott selbst erscheint in seinem Charakter jedoch so wie die Könige, die ihn anbeteten: elegant-distanziert, kraftvoll und unergründlich, mit großer Macht ausgestattet, aber potenziell unzuverlässig. Seine Macht verdankte er seiner Abstammung von den Ur-Göttern, und in Nippur stellte er sie zur Schau.
Im Gegensatz dazu war der Herr der Erde, Enki, trickreich und verschlagen und verfolgte immer seinen eigenen und eigenwilligen Ansatz. Als Gott des Süßwassers war sein Aufenthaltsort der abzu, und von dort aus ersann er Pläne, um den Menschen zu helfen. Enki war nicht nur der Gott des landwirtschaftlichen Erfolgs, sondern auch der Gott der Weisheit, der seinen Lieblingsmenschen ein „breites Ohr“ lieh, wie es auf Sumerisch heißt – das bedeutet, er hatte ein breites Verständnis dafür, wie die Dinge funktionierten. Diese Weisheit qualifizierte ihn auch auf einzigartige Weise dafür, Menschen Zaubersprüche beizubringen, die es ihnen ermöglichten, Magie anzuwenden. Ihm und seinem Sohn, dem Gott von Babylon, Marduk, sprach man viele solche Zaubersprüche zu.
Enkis Stadt war Eridu, tief im Süden in der Flussebene. Bis zum Jahr 2000 v. Chr., vielleicht sogar früher, hatten die meisten Einwohner Eridu verlassen, und es wohnten dort nur noch einige Priester, die sich um den Schrein des Enki kümmerten. Es gab also auch hier, wie im Fall von Enlil, eine seltsame Verbindung zu einer Stadt ohne politische Bedeutung; Enkis Stadt war während der historischen Epoche im Grunde eine Geisterstadt. Sie wurde von den Regierungen nicht aus wirtschaftlichen Gründen aufrechterhalten – denn wahrscheinlich verlief der Fluss dort inzwischen gar nicht mehr, und die Kanäle waren ausgetrocknet –, sondern vielmehr, um Enki Ehre zu erweisen und weil sich die Könige ganz richtig daran erinnerten, dass sie unter den frühen Städten einmal die wichtigste gewesen war (Safar u.a. 1981).
Abbildung 2 – Enki-Siegel: Dies ist eine moderne Umzeichnung eines alten Siegels, das den Gott der Fische, des Süßwassers und der Weisheit zeigt, wie er die Berge besteigt und Gutes von seinen Schultern fließen lässt. Neben ihm steht sein Gefährte Išum, der oft nützlich war, weil seine diversen Gesichter ihn in verschiedene Richtungen blicken ließen und ihm Einsichten erlaubten, die zu Enkis Weisheit und magischem Geschick beitrugen. Der Name des Siegel-Besitzers erscheint auf der rechten Seite: „Adda, der Schreiber“. Zeichnung von A. Day.
Moderne Forscher haben spekuliert, dass es eine Eridu-Theologie gab, die sich von der späteren Nippur-Theologie unterschied. Verschiedene Stränge der schriftlichen Überlieferung heben verschiedene Aspekte der Beziehungen der Götter untereinander in früheren Zeiten hervor. Die Geschichten aus Eridu betonen die Ur-Elemente Wasser und Erde, und sie beinhalteten Appelle an die Götter der Unterwelt; immerhin befand sich Eridu am Eingang zum unterirdischen abzu. Im Zentrum der Geschichten aus Nippur stehen indessen die Himmelskörper und ihr Einfluss auf die Menschen. Auf lange Sicht setzte sich die Nippur-Theologie durch, aber Schreiber kopierten auch weiterhin das Material aus Eridu, noch lange nachdem Eridu aufgehört hatte zu existieren (Hallo 1996).
Das Bemerkenswerteste an der mesopotamischen Religion war jedoch die Anwesenheit mächtiger Göttinnen, die sich größtenteils zwei Typen zurechnen lassen. Einen Typus bilden die Göttinnen der Geburt und Mutterschaft, die in einer Welt, in der Kinder scharenweise an Kinderkrankheiten starben, einen festen Platz hatten; um auch nur sich selbst durch je einen lebensfähigen Nachkommen ersetzen zu können, mussten Frauen und Männer wohl dreimal so viele Kinder bekommen. Der zweite Göttinnen-Typus war zuständig für die Liebe und den Krieg.
Die Muttergottheiten hatten viele Namen, allen gemeinsam aber war, dass sie nährend und unterstützend auftraten. In früheren Zeiten stellte man sie mit überdimensionalen Brüsten und Vulven dar, um darauf hinzuweisen, dass sie für eine erfolgreiche Geburt und Mutterschaft sorgen konnten. In historischen Zeiten erscheinen sie stark spezialisiert und doch offensichtlich äußerst beliebt, vor allem bei Frauen, die sich mit den Details der Fortpflanzung konfrontiert sahen. Ištar war der akkadische Name der berühmtesten Göttin für Liebe und Krieg. Auf Sumerisch hieß sie Inanna, was anscheinend „Königin des Himmels“ bedeutet. Einige andere Göttinnen waren dafür zuständig, Kranke zu heilen.
Überall dort, wo Kulturen aufeinandertrafen, verglichen sie ihre Götter miteinander und fanden grundlegende Gemeinsamkeiten, selbst bei Göttern mit ganz unterschiedlichen Namen und aus unterschiedlichen Milieus. Der Ägyptologe Jan Assmann vertritt die Meinung, dass solche Gleichsetzungen von Göttern höchst bedeutsame konzeptionelle Durchbrüche darstellten (Assmann 1997: 46). Die Menschen waren fähig, von einem ihrer eigenen Götter zu abstrahieren und ähnliche Qualitäten bei einem Gott aus einer anderen Kultur zu entdecken. Diese Identifizierung erfolgte in einem polytheistischen Kontext, das heißt, die Götter, die verglichen wurden, waren Teil eines Systems, das theoretisch offen war und in der Lage, neue Götter mit unterschiedlichen Aufgaben und Eigenschaften in sich aufzunehmen. Manchmal akzeptierte ein System sogar einen Gott, für den es in diesem System gar keine Analogie zu geben schien. Bei bedeutenderen Göttern war ein erheblicher Aufwand in puncto Identifikation und Übertragung nötig.
Bei solchen Gleichsetzungen konnten jedoch durchaus einige Merkmale eines Gottes auf einen anderen abfärben. Möglicherweise war die sumerische Inanna eine Sternengöttin, die für den Planeten Venus und vielleicht für bestimmte Aspekte der körperliche Lieben stand. Ištar scheint vor allem ihre akkadischen Lieblingskönige in der Schlacht beschützt zu haben. Doch irgendwann teilten die beiden Göttinnen diese Eigenschaften. Es ist kaum denkbar, dass die Akkad-Dynastie diese Identifikation bewusst vornahm, um ihre eigene Göttin mit einer im Süden fest etablierten gleichzusetzen. Viel wahrscheinlicher ist, dass diese Art der Gleichsetzung u.a. bei den Schriftgelehrten stattfand, und zwar schon so lange, wie akkadisch- und sumerischsprachige Menschen zusammenlebten, also bereits seit der Zeit der frühesten schriftlichen Aufzeichnungen, die wir aus dem südlichen Irak kennen (Wilcke 1976–1980).
Jacobsen sah Inanna nicht nur als Teil der Dattelpalme, sondern auch als personifiziertes Lagerhaus. Nicht, dass ihr Name das bedeutet hätte, aber ihr Symbol tauchte tatsächlich auf Lagerhäusern auf, die wahrscheinlich zugleich wichtige Zentren für die Gemeinde waren und zur Aufbewahrung von Überschüssen dienten sowie zur Verteilung dieser Überschüsse, wenn eine Hungersnot drohte. Vielleicht waren diese Lagerhäuser der Brennpunkt und der offensichtlichste Erfolgsfaktor früher Gemeinschaften, nicht nur in Südmesopotamien (Jacobsen 1976). Das Symbol der Göttin war eine Turmspitze, an der ein Tuch mit einem Ende festgebunden, das ansonsten frei herabhing. Das Ganze mag Teil einer Tiara gewesen sein, wie sie Damen der Oberschicht trugen (Beaulieu 1998; Steinkeller 1998). Solche Turmspitzen ragten über Gebäuden, insbesondere Lagerhäusern, auf und vermeldeten, dass die Göttin wieder für einen Versorgungsüberschuss gesorgt hatte und es genug für alle gab.
Ištar war im Südirak eine weibliche Gottheit, im 2. Jahrtausend gab es in Syrien jedoch einen Gott namens Aštar – offenbar das gleiche Wort wie Ištar, nur in männlicher Form. Dieser Gott, den man vielleicht mit der Venus als Morgenstern identifizierte, ehrten auch die vorislamischen Araber (Papst und Röllig 1965: 249–250). Auch wenn er kein Hauptgott war, wirft seine Existenz die Frage auf, wie konsequent Götter identifiziert und ihre Namen weitergeführt wurden.
Inanna-Ištar wurde vor allem in Uruk verehrt, wo allem Anschein nach die erste Schrift entwickelt wurde und woher wir diverse Geschichten über frühdynastische Könige besitzen. In der Literatur galt die Göttin als pflichtbewusste Ehefrau, die gewissenhaft den Segen der Fruchtbarkeit unter den Menschen verbreitete. Eine Möglichkeit, für Fruchtbarkeit zu sorgen, war die sogenannte heilige Hochzeit, bei der der König Inanna-Ištars Ehemann verkörperte und eine Priesterin die Göttin spielte; ihre Vereinigung war ein Garant für fruchtbare Felder. Die Hymnen, die mit diesem Brauch in Verbindung stehen, erwähnen lediglich Iddin-Dagan, der in den 1900er Jahren v. Chr. König der Stadt Isin war. Wir wissen daher nicht, ob dieser Brauch auch an anderer Stelle und zu anderen Zeiten praktiziert wurde (Renger 1972–1975).
Ein weiterer Aspekt, der hinsichtlich Inanna von Interesse ist, war ihr Ehemann, der die Trockenzeit des südlichen Irak verkörperte und dennoch zugleich für die Fruchtbarkeit stand. Er wurde schon früh mit einem anderen, zuvor eigenständigen Gott identifiziert, Amaušumgalana, einem Drachen oder Reptil, und seine Rolle als Hirte bedeutete, dass er einen Großteil seiner Zeit außerhalb der Städte verbrachte, in den unkultivierten Gegenden zwischen den grünen Feldern. Diesen Bereich nennen wir Steppe, auch wenn das Bild der russischen Steppe, das das Wort heraufbeschwört, nicht ganz zutrifft; der edin (auf Sumerisch, ṣēru auf Akkadisch) war die Gegend, die nicht von den Flüssen und Kanälen bewässert wurde. Dort wuchs nur Gestrüpp, aber dieses Gestrüpp reichte aus für die Schafe und Ziegen, die Dumuzi hütete.
Abbildung 3 – Uruk-Siegel: Dies ist eine moderne Umzeichnung eines Siegels aus der Uruk-Zeit um 3100 v. Chr. Es scheint darzustellen, welch großer Besitztümer der Eigentümer sich rühmte, angezeigt durch Lagerhäuser mit wehenden, flaggenähnlichen Symbolen, gefüllt mit kleinen Tieren und vermutlich Milchprodukten. Darüber sieht man Rinder, die anzeigen, dass noch weit mehr Vieh vorhanden ist. Zeichnung von A. Day.
Die Steppe war für die meisten Mesopotamier ein abschreckender Ort, wo es wilde Tiere gab und wo man Gefahr lief, sich zu verlaufen oder zu verletzen. Keine Spur von romantischer Verbindung zur Natur. Im Gegensatz zu Israel und Griechenland fand man dort in der Wildnis höchstwahrscheinlich keine heiligen Orte. Dennoch stammte Dumuzi von dort; er wollte Inanna umgarnen, und so war er in die Stadt gekommen, wo all die guten Dinge waren, um mitzuhelfen, die Vorteile der Fruchtbarkeit unter die Leute zu bringen. Dumuzi war keiner der Hauptgötter, aber er scheint schon früh eine große Bedeutung gehabt zu haben, und es ist interessant, dass er nicht aus dem städtischen Umfeld stammte. Seine Eigenschaften unterstreichen, für wie wichtig die Städte erachtete; dort traf man am ehesten auf die großen Segnungen der Zivilisation in Form der Künste, und dort konnte man als Mensch das Leben am meisten genießen.
Es gab noch einen weiteren wichtigen Gott, der bereits früh auftauchte und sich lange hielt, über den man aber keine interessanten Geschichten schrieb. Der Sonnengott verkörperte Nüchternheit und Gerechtigkeit, vielleicht aus dem naheliegenden Grund, dass in einem Land, in dem es kaum regnet, jeden Tag die Sonne scheint, und zwar in alle Winkel und Ecken. Könige baten darum, dass er ihrer Herrschaft und ihren Entscheidungen seinen Segen gab.
Auf Sumerisch hieß er Utu, auf Akkadisch Šamaš, und es gibt zudem eine ihm ganz ähnliche Gottheit in Syrien, die aber eindeutig weiblich war. Ihr Name, der mit seinem verwandt ist, lautete Šapaš, und auch sie scheint man mit Unparteilichkeit und Gerechtigkeit in Verbindung gebracht haben (Papst und Röllig 1965: 308–309). Die Stadt des Šamaš war Sippar, nördlich von Babylon, aber man verehrte ihn auch anderswo, und vor allem bei Rechtsstreitigkeiten rief man ihn deutlich öfter an als andere Götter.
Die Hauptgötter wurden an vielen Orten und unter diversen Namen verehrt. Obwohl ihre große Bedeutung vielleicht ursprünglich daher stammte, dass man sie mit Naturkräften assoziierte, die für das Überleben und den Erfolg der Menschen wichtig waren, besaßen sie nicht überall dieselben Charaktereigenschaften, noch nicht einmal dasselbe Geschlecht. Sie waren mächtig, aber nicht allmächtig; sie lebten lange, waren aber nicht unbedingt unsterblich; sie wussten viel, waren aber nicht allwissend.
Es ist verlockend, über die Vorbilder für diese Götter zu spekulieren und darüber, welche Erfahrungen die Menschen in Mesopotamien gemacht hatten, dass sie sich als Reaktion solche Götter ausdachten. Jacobsen sah vor allem Inanna und Dumuzi als Manifestationen des erfolgreichen Anbaus der Dattelpalme, aber man kann dies schlichtweg nicht beweisen. Die späteren Beinamen für diese Götter scheinen einen solchen Ursprung zwar zu bestätigen (Ringgren 1973: 5), doch haben ihre späteren Schicksale nichts mit der Herkunft dieser Götter zu tun. Vielleicht spiegelten die Hauptgötter in gewisser Weise die Erfahrung des Herrschens und Beherrschtwerdens durch andere Menschen wider. Ein solches Konzept entstand, wie wir vermuten, in agrarisch orientierten Dörfern, in denen bestimmte Bewohner einen etwas größeren Überschuss zu produzieren in der Lage waren und Bewässerungsprojekte für ihre Mitmenschen organisierten. Aus Sicht der Regierten waren solche Männer (Frauen waren es wahrscheinlich so gut wie nie) im besten Fall um einen Konsens bemüht. Aber sie konnten durchaus auch beleidigt sein, wenn man sie kränkte, und besorgt über Verluste, über ihre eigenen wie über die der Gemeinschaft. Im schlimmsten Fall waren sie arrogant und herrisch.
Dennoch wissen wir aus historischen Epochen, dass die Babylonier unliebsame Umstände und Menschen immer wieder hinter sich ließen und flussauf- wie flussabwärts fuhren, um sich anderswo niederzulassen und Landwirtschaft zu betreiben. Einige bevölkerten die höheren Lagen und versuchten sich an der niederschlagsabhängigen Landwirtschaft, andere verschwanden mit ein paar Schafen in der Wüste und verabschiedeten sich so von den Herrschaftsstrukturen der Sesshaften. Daran erkennt man, dass die Macht der Anführer begrenzt war – genau wie die wahrgenommene Macht der Götter.
Wir sollten die Hauptgötter jedoch nicht auf Spiegelbilder menschlicher Herrscher reduzieren, selbst nicht jener historisch besser belegten „großen Männer“ des frühen Mesopotamiens. Diese möglichen menschlichen Vorbilder erklären kaum, wie langlebig das Interesse an diesen Göttern war, auch wenn sie für einige ihrer Eigenschaften Pate gestanden haben mögen. Es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass die Ansichten der Menschen hinsichtlich göttlicher Charakteristika sich im Laufe der Zeit änderten, und so wurden die Hauptgötter im Laufe der Zeit in gewisser Weise immer größer, mächtiger und weiser.