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Kapitel 11
ОглавлениеAubervilliers, Île-de-France, Frankreich
März 2019
Saïd erklomm die Stufen und verfluchte den defekten Aufzug. Pierre hatte ihm einen Zettel mit dem letzten Hinweis überreicht; sein Ziel war die zweite Wohnung rechts auf der sechsundzwanzigsten Etage. Der Chauffeur hatte noch vor der Eingangstür auf dem Absatz kehrt gemacht und war zu seinem Tesla zurückgekehrt.
Die Wohnung war gross, im Wohnzimmer waren sechs Männer um einen Tisch versammelt. Die Wohnungstür war offen gewesen, Saïd hatte geklopft und war nach einer gerufenen Aufforderung eingetreten. Die Männer musterten ihn und nickten.
„Ja, er war’s!“ Saïd runzelte zuerst verwundert die Stirn, dann erkannte er den Sprecher dieses Satzes. Saïd glaubte, der Typ hiess Samal.
„Sehr gut!“, sprach der wohl Älteste im Raum, der sich ihm als Mohammed vorstellte. Saïd wusste sofort, wer dieser Mann war; voller Ehrfurcht starrte er ihn an, denn dieser Mann war einer der Mächtigsten des Islamischen Staates. So mächtig, dass sogar der selbsternannte Kalif von Aleppo Angst vor ihm hatte.
Mohammed startete nach einer kurzen Begrüssung eine Präsentation, die auf die weisse Wand hinter ihm projiziert war.
Es wurden zahlreiche Bilder diverser Anschläge gezeigt. Das World Trade Center in New York, der Vorortszug im Madrider Atocha-Bahnhof sowie der gesprengte Doppeldeckerbus an Londons Russell Square.
„Das waren Bin Laden und seine Leute!“, brummte Mohammed und wartete einen kurzen Augenblick. „Wir werden dies alles vergessen machen!“
Dann startete eine weitere Bilderserie, Saïd konnte sie automatisch den jeweiligen Ereignissen zuordnen: Die diversen Tatorte im Pariser Oberkampf-Quartier wie beispielsweise das Bataclan oder das Café Bonne Bière, das Stade de France in Saint-Denis, die Abflughalle des Flughafens Brüssel-Zaventem, der Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheidplatz oder die Promenade des Anglais in Nizza. Saïd nickte, ja, der IS hatte es beinahe geschafft, die Attentate Al Kaidas zu übertrumpfen. Doch eben nur beinahe.
„Wir werden stärker sein als Al Kaida es je war. Mehr Angst und Schrecken verbreiten als jemals eine Terrororganisation zuvor!“ Mohammeds Worte wirkten wie ein Schlachtruf, alle hingen gebannt an seinen Lippen. Dann wandte sich Mohammed persönlich an Saïd.
„Saïd“, sprach er. „Du bist unser Auserwählter! Wir haben schon lange nichts mehr von uns hören lassen!“
Saïd seufzte. „Also wieder ein Anschlag. Wo diesmal? Hamburg? Lissabon? Rom?“
„Rom?“ Mohammed lachte laut auf. „Wohl kaum. Wir dürfen es uns nicht mit der Mafia verscherzen, die sind gute Lieferanten von uns!“
Die Präsentation sprang zur nächsten Folie. Ein modernes Gebäude mit einem markanten Flachdach wurde gezeigt, davor befand sich eine grosse Wasserfläche, in der Enten schwammen.
„Nein, es gibt eine bessere Idee!“ Mohammed glühte vor Aufregung. „Wir knöpfen uns ein Land vor, das niemand auf der Rechnung hat. Es gilt als sehr sicher, politisch stabil und sehr reich: Die Schweiz!“
„Wir bauen eine Zelle in der Schweiz auf?“, fragte ein anderer Anwesender. Saïd kannte ihn nicht.
„Die Schweiz ist unser Tresor. Dort können wir ungestört unser Geld horten. Wir würden unser Nest beschmutzen!“, wandte wieder ein anderer, Saïd ebenso unbekannter Mann ein.
„Nein!“ Wieder wechselte die Folie und das Gesicht einer Frau mittleren Alters mit blondem Kurzhaarschnitt und eher kühlem Gesichtsausdruck tauchte auf. Unter dem Bild prangte die Aufschrit:
MARIA MÜLLER-STEINER, Justizministerin
„Diese Frau ist gefährlich für uns. Sie ist Schweizer Justizministerin und lässt alle Terrorverdächtigen und Dschihadtouristen durch den Bundesnachrichtendienst überwachen. Wir hätten keine Chance, in der Schweiz eine Zelle aufzubauen.“
„Was wollen wir denn sonst tun?“, warf Samel ein.
„Wir organisieren den Anschlag von hier aus! Und Saïd ist unser Mann!“
Wieder erschein die Folie mit dem modernen Gebäude am Seeufer.
„Das Kultur- und Kongresszentrum in Luzern am Vierwaldstätter See. Der grosse Stolz des französischen Stararchitekten Jean Nouvel – und bald nur noch ein Haufen Schutt und Asche! Unser Vorteil ist: Die Stadt wurde gerade durch einen Mord erschüttert, der alle Ressourcen der Polizei benötigt. Sie haben keine Leute, um uns in die Quere zu kommen!“
Mohammed verbeugte sich gespielt, alle Anwesenden applaudierten, auch Saïd. Das klang nach einer anspruchsvollen Aufgabe!
Knapp eineinhalb Stunden später stieg Saïd am Pariser Gare de Lyon aus dem Zug der RER B und eilte zur Bahnhofshalle, aus der die Fernzüge in Richtung Schweiz abfuhren. Die Tickets für den TGV nach Basel und die Weiterfahrt nach Luzern hatte ihm Mohammed bereits organisiert.
Saïd passierte die Sperre und trat auf den Bahnsteig. Der Zug war längst abfahrbereit, begleitet vom Pfiff des Schaffners sprang Saïd in den Zug, unmittelbar darauf schlossen sich die Türen und der TGV setzte sich in Bewegung.
Pfeilschnell flitzte der Schnellzug durch die unendlichen Weiten Ostfrankreichs. Saïd bekam von der Reise nichts mit, denn gedanklich ging er seinen Auftrag durch. Auf keinen Fall durfte er sich einen Patzer leisten, dies wäre verheerend.
Mohammed vertraute ihm, und dieses Vertrauen wollte er nicht missbrauchen, war Mohammed doch ein mächtiger Mann, der keine Sekunde zögern würde, beim Misslingen des Auftrags Saïds Zukunft zu zerstören, ja gar dessen Leben zu opfern, um das eigene zu retten.
Saïd versuchte, ruhig zu bleiben. Auch dann, als nach Mulhouse die Schweizer Grenzwacht durch den Waggon schritt und seine Ausweispapiere verlangte.