Читать книгу 3 Makabre KURZGESCHICHTEN - Daniela Christine Geissler - Страница 6
1. Kapitel
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England
„Geschichte ist, auch wenn ihr dieses Fach als langweilig empfindet, eine interessante Sache. Der Reiz darin liegt nicht nur in der Vergangenheit, sondern im Recherchieren ganzer historischer Zusammenhänge. Es kann für den aufmerksamen Beobachter eine Art Lebensschule sein. Meist zeigt es das Ergebnis eines langen Kampfes in einem oder mehreren Ländern. Wie dem auch sei.... ich bin von nun an euer Geschichtslehrer und ihr müsst euch damit abfinden und ich wohl auch.“, schloss Jeremy, Lehrer der Oberstufe, als er in die gelangweilten Gesichter der Teenager blickte, die er anscheinend nicht im Stande war zu fesseln.
Er blickte durch die Reihen. Das Licht der Sonne, das durch die hohen, schmalen Fenster hereinfiel, formte aus so manch jungem Gesicht eine engelhafte Erscheinung. Ihre Körper so schön, so rein und ihre Seelen so stumpf oder habe ich wieder einen depressiven Anfall, dachte der Zweiundvierzigjährige und öffnete das Fenster. Ein schneidender Wind wehte ins Klassenzimmer, blies seinen schwermütigen Gedanken mit einer kühlen Frische entgegen. Die Schüler flüsterten miteinander: der Typ ist ja ganz schön irre..... andererseits, wenn er die ganze Zeit nur vor sich hin faselt, kann es uns auch recht sein....
Schrill, zu schrill für Jeremys Ohren dröhnte die Glocke durch das Klassenzimmer. Beim Klang der Schulglocke überfiel ihn die Melancholie aus Kindertagen. Ihm kamen Zweifel auf, ob dieser Teil seiner Arbeit für ihn und vor allem für andere, zufriedenstellend sein würde. Jeremy war eigentlich mit Leib und Seele Universitätsprofessor. Mit Studenten konnte er besser umgehen, als mit Heranwachsenden, oder war es eher so, dass die Studenten einfach besser mit ihm zurechtkamen?
Teenager stecken in einer schwierigen Phase ihres Lebens und gerade er, der immer noch die Empfindungen eines Dreizehnjährigen hatte, sollte die Aufgabe erfüllen, Halbwüchsige zu unterrichten.
In den, für ihn tristen Lehrerzimmer mit den dunklen Möbeln, saß er und grübelte darüber nach, ob er nicht wieder nach Cambridge zurückkehren sollte. Er sehnte sich nach den Studenten und deren Verständnis für seine Arbeit. Eine geistige Verbundenheit, die er mit Heranwachsenden wohl nie haben könnte, so glaubte er. Eine Krise schon am ersten Schultag. Das ist wieder typisch für dich, richtete er sich selbst. Schließlich überwand er sich die nächste Klasse aufzusuchen. Erneut der schrille Ton.
„Jeremy Daly heißt der Neue. Seit zwei Monaten quatscht er uns schon mit sonderbaren Geschichten die Ohren voll.“
„Ich finde ihn interessant. Er bemüht sich wirklich. Er ist von seiner Sache überzeugt und will uns was beibringen, aber ihr kapiert das einfach nicht. Er hat Charisma und das kann man nicht von jedem Lehrer an unserer bornierten Schule behaupten.“, unterbrach Violet seine Nörgelei, doch Chris schloss sich der Meinung von Andreas an
„Ihr Mädchen findet ihn natürlich toll. Euch Weiber braucht man nur die Ohren mit aufregenden Geschichten voll stopfen und ihr seid Feuer und Flamme!“ Beißende Kälte schlug den Jugendlichen ins Gesicht. Sie diskutierten eifrig weiter. Dieser Herbst brachte in England schon fast Wintertemperaturen. Frierend hüpften sie von einem Bein aufs andere. Manche rauchten, einige verzehrten ihre Brote. In jeder Ecke tratschten Schüler und bildeten gleichgesinnte Gruppen.
„Er soll mit einem Mann zusammenwohnen, hab` ich gehört. Also, ich find das eklig.“ und wieder verteidigte Violet ihn „Ihr seid schlimmer als Waschweiber! Habt nichts anderes zu tun, als über Leute herzuziehen. Er behandelt wenigstens alle gleich.“
Denise stand wie immer passiv daneben. Ihr weißblondes Haar leuchtete trotz des trüben Wetters. Ihre Gedanken behielt sie stets für sich. Sie war allein. Allein wie Jeremy und teilte deshalb die Sympathie von Violet für ihn. Wortlos ging sie mit den anderen wieder in die Klasse. Es war Dienstag und die nächste Unterrichtsstunde gehörte Jeremy.
Gelassen betrat er die Klasse, wischte wie stets mit einem Taschentuch den Lehrerpult ab und setzte sich darauf. Während der Pause hatte er bereits den Tisch mit dem Diaprojektor vorbereitet. Er forderte die Schüler auf, die Vorhänge zuzuziehen und schaltete den Projektor ein. In übergroßen Lettern stand geschrieben: Das antike Griechenland. Ein Raunen ging durch die Reihen, doch Jeremys Enthusiasmus konnte keiner bremsen und freudig hielt er seine Rede, begleitet mit Bildern von zerfallenen Tempeln und den verkrüppelten Gebäuden der Akropolis. „Perikles und Aspasia war das Traumpaar der Antike. Nichts konnte die beiden aufhalten - doch heute ist er tot, der Geist der Antike, begraben von geistigen Müßiggängern, erloschen das heilige Auge der Athene..... „ Jeremys Anhänger, darunter Denise, lauschten voller Begeisterung, andere verdrehten die Augen, einer rülpste. Leises Gelächter mengte sich dazwischen. Am Ende der Unterrichtsstunde ging Denise zu ihm. Sie hatte keine Angst vor den Lehrern, eher vor den anderen Schülern. Scheu richtete sie das Wort an ihn „Wieso lassen Sie sich das gefallen.... ich meine, wie manche Jungs Sie behandeln? Sie hören ja das Gelächter.“ Dankbar für ihr Verständnis betrachtete er das Mädchengesicht, das von hellblondem Haar umrahmt wurde
„Eine Gruppe von Leuten ist eine Versammlung von vielen Köpfen und deren Gedanken. Ich kann nicht verlangen, dass sich jeder von euch für das gleiche Thema interessiert, aber es freut mich, dass es dir gefallen hat. Wenn es von euch vierundzwanzig Schülern nur fünf gefallen hat, habe ich heute nicht umsonst unterrichtet.“
Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, die so ruhig und scheinbar emotionslos auf seinen langen Schenkeln ruhten. Sie nickte und lächelte steif. Heute wurde ihm zum ersten Mal seit Beginn seines Unterrichts an dieser Schule aufrichtige Sympathie entgegen-gebracht. Das machte sein Herz wieder melancholisch.
In seiner Wohnung, die er mit seinem ehemaligen Studienfreund Steve teilte, gingen seine Gedanken zum Jahr 1957 zurück. Von weit her, hörte er ihre Stimme. Sie schien ihn zu rufen, ihn festhalten zu wollen, auch heute noch: „Jeremy!“
Sie legte ihren Kopf in die Armbeuge und betrachtete sein Profil. Sein schon jetzt markantes Kinn, seine braunen Augen, die noch milchig weiße Haut, den mädchenhaften Mund und schämte sich ein wenig über ihre Gefühle, die sie dem erst dreizehnjährigen Jungen entgegenbrachte. Er beugte sich zu ihr und betrachtete ihre Brüste. Sie ließ es geschehen. Sie rief seinen Namen, saß im Gras und wartete auf ihn. Er lief zu ihr, warf sich über sie und bedeckte ihr Gesicht mit sanften Küssen. Die beiden Teenager wälzten sich im Gras. Atemlos ließ er von ihr ab, lag am Rücken und betrachtete das intensive Blau des Himmels. Seufzend legte er sich auf sie. Glücklich, weil sie seine kindliche Liebe erwiderte, fuhr er durch ihr blondes Haar, welches einem blühenden Weizenfeld glich. Es war ein schöner Sommer - es sollte der schönste in seinem Leben sein.
Er legte das Buch aus der Hand. Geschichten des Altertums stand auf dem dicken dunkelblauen Einband in goldenen feinen Lettern, das er mit penibler Sorgfalt, einem Heiligtum gleich, ins Regal zurückstellte.
Er senkte seine Lider und seine Gedanken schweiften wieder zurück. Mit der linken Hand umfasste er ihr Taschentuch.
„Fang mich, los doch!“ Noch ehe er sich erheben konnte, lief sie in den Schuppen. Er hastete ihr nach und in seinem jugendlichen Liebesrausch trat er fast die morsche Holztür ein. Sie beobachtete, wie er zögernd auf sie zukam. Sie liebte ihn so sehr, diesen Jungen, der noch ganz Kind und doch schon so erwachsen war. Er sollte endlich für immer ihr gehören, für immer, dachte sie und versank in seinen Armen. Seine Haut roch süß, sein Haar nach Puder, sein Körperbau war zart und feingliedrig, eben der Körper eines Dreizehnjährigen. Sie drückte ihn an sich. Die Sechzehnjährige war zu sehr von ihm berauscht, als dass sie Schuld empfinden konnte, zu sehr verliebt in ein Kind. Für ihn war diese harmlose Umarmung mehr Schmerz, als Lust, als ob seine Seele das Unglück nahen sah und versuchen würde diesen Moment mit einer festen Umklammerung für immer festhalten zu können. Sanft musste sie ihn wegstoßen.....
Der Glockenschlag der Kirchenuhr riss ihn aus dem Halbschlaf. Es war dreiundzwanzig Uhr.
Mit schwerer Brust legte er ihr Taschentuch aus der Hand, zog seinen Schlafmantel aus und legte sich ins Bett. Sie wäre in diesem Jahr achtundvierzig Jahre alt geworden. Was sind heute drei Jahre gegen damals, dachte er und versank in wirren Träumen.