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Stimmen des Protestes

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Der Streik der Amsterdamer Hafenarbeiter vom Februar 1941 und der Streik der Eisenbahner, der am 17. September 1944 begann, waren die einzigen gegen die Deutschen gerichteten Generalstreiks, die während des Zweiten Weltkrieges in einem besetzten Land ausgerufen wurden. Überall in den Niederlanden gab es jedoch zahlreiche Einzelproteste, so etwa von den Kirchen und Universitäten, der Regierung und Studentenführern.

Utrechts Erzbischof Monsignore Dr. Johannes de Jong (1885–1955) warnte gemeinsam mit vielen anderen Kirchenvertretern öffentlich vor den Gefahren der nationalsozialistischen Ideologie und kritisierte wiederholt von der Kanzel herab die Verordnungen der Nazis. Am 11. Juli 1942 sandten zehn christliche Kirchen ein Telegramm an die deutsche Besatzungsmacht, in dem sie »ihre Empörung über die Deportation von Juden« zum Ausdruck brachten, »die den tiefsten moralischen Empfindungen des nierderländischen Volkes widerspricht und im Gegensatz steht zu den göttlichen Geboten der Gerechtigkeit und der Nächstenliebe«. In einem Zusatzschreiben setzten sie sich für die konvertierten Juden ein. De Jong regte an, einen Hirtenbrief von jeder katholischen Kanzel zu verlesen, der es den Katholiken untersagte, sich irgendeiner nationalsozialistischen Organisation anzuschließen. Sollten sie sich nicht ausdrücklich von der nationalsozialistischen Ideologie distanzieren, »würden ihnen die heiligen Sakramente verwehrt«. Die Drohung der Kirche, diesen Brief in jeder einzelnen Kirche zu verlesen, brachte die Deutschen besonders auf. Auch von Karmelitern geführte Schulen bewiesen Mut zum Widerstand und weigerten sich, jüdische Schüler vom Unterricht auszuschließen, wie es die Deutschen verlangten. Diese rächten sich dafür ganz besonders an den Katholiken, weil sie den Erzbischof de Jong als einen ihrer heftigsten Gegner einstuften. Sie verhafteten viele Juden, die zum Katholizismus konvertiert waren. Zweimal wandte sich Erzbischof de Jong an Seyß-Inquart mit der Bitte, diese Menschen zu verschonen, aber vergeblich, sie wurden nach Westerbork gebracht, darunter auch Edith Stein, die konvertierte Karmeliternonne aus Echt. Sie lehnte ein Angebot zu ihrer Rettung ab und bestand darauf, das Los ihrer Brüder und Schwestern zu teilen.

Am 26. November 1940 hielt der Dekan der juristischen Fakultät der Universität von Leiden, Professor Rudolph P. Cleveringa, im großen Hörsaal eine Rede, in der er gegen die von den Deutschen verlangte Entlassung eines jüdischen Kollegen, Professor Meijers, protestierte: »Dieser niederländische Bürger, dieser edle und aufrechte Sohn des Volkes, dieser Mann, der seinen Studenten stets ein Vater war, dieser Gelehrte, den die ausländischen Usurpatoren seines Amtes enthoben haben ... Ich habe gesagt, ich würde nicht über meine Gefühle reden, und ich werde mein Wort halten, auch wenn mir vor lauter Emotionen der Kopf jeden Augenblick zu bersten droht und die Empörung wie glühende Lava in meinem Herzen brennt. So wie es den Traditionen der Niederlande entspricht, erklärt unsere schriftlich niedergelegte Verfassung, dass jeder Niederländer jedes Amt bekleiden, jede Auszeichnung erhalten und jede Funktion ausüben darf, und dass er ungeachtet seiner Religion alle staatsbürgerlichen und zivilen Rechte genießt. Nach Artikel 43 des Kriegsrechts ist die Besatzungsmacht dazu verpflichtet, die Gesetze des Landes sauf empêchement (uneingeschränkt) zu achten. Wir kommen deshalb unweigerlich zu dem Schluss, dass es für die Besatzungsmacht keinerlei Veranlassung gibt, Meijers nicht im Amt zu belassen. Das bedeutet also, dass wir seine Entlassung, über deren Umstände ich Sie unterrichtet habe, sowie ähnliche Maßnahmen, von denen andere betroffen sind (dabei denke ich in erster Linie an unseren Freund und Kollegen David), nur als Ungerechtigkeit empfinden können.« Ein Student stimmte die Nationalhymne an, und die gesamte Hörerschaft fiel mit ein. Die Studenten riefen zum Streik auf. Daraufhin schlossen die Deutschen die Universität und verhafteten Cleveringa. Man brachte ihn ins Gefängnis von Scheveningen und später ins Konzentrationslager von Vught. Meijers wurde nach Theresienstadt deportiert. Als die Universität nach dem Krieg ihre Tore wieder öffnete, kehrten beide zurück. 1946 verlieh Rektor Cleveringa die Ehrendoktorwürde der Universität Leiden an Winston Churchill.

Lodevijk Ernst Visser (MA) wurde 1871 in Amersfoort geboren. Am 3. Januar 1939 wurde er zum Präsidenten des niederländischen Verfassungsgerichts ernannt. Am 10. Mai 1940 prangerte Visser von seinem Richterstuhl aus die Deutschen an und beschuldigte sie »verräterischer Angriffe« und des »Mordes«. Er blieb bei seinem Standpunkt, dass Juden sich nicht von Nichtjuden unterscheiden und rechtlich nicht anders behandelt werden dürfen als jeder andere niederländische Bürger auch. Im Gegenteil, eine Ungleichbehandlung widerspreche nicht nur der niederländischen Verfassung, sondern verstoße auch gegen das internationale Recht. Am 23. November 1940 wurde er seines Amtes enthoben. Im Dezember 1940 übernahm Visser den Vorsitz des Jüdischen Koordinierungsausschusses, der den holländischen Juden dazu riet, sich lieber an niederländische Behörden zu wenden als an die deutschen. Er weigerte sich, den Stempel »J« in seinem Ausweis zu akzeptieren, und sein Sohn Ernst Lodewijk tat es ihm gleich. Visser lehnte eine Zusammenarbeit mit den Deutschen ab und rief dazu auf, misstrauisch zu sein und auf keinen Fall kooperationsbereit. Die Haltung des Judenrates, der bemüht war, der Besatzungsmacht willfährig zu sein, und der ihren Anordnungen widerspruchslos Folge leistete, nannte er feige. Entschieden wandte er sich gegen die Einführung von besonderen Schulen für jüdische Kinder. Er versuchte, sich direkt bei General Rauter, dem Führer der SS, für die Geiseln einzusetzen, die man nach Mauthausen deportiert hatte, und er protestierte auf jede ihm nur mögliche Weise. Visser verfasste auch Artikel für die Widerstandszeitung Het Parool. Obwohl er selber kein gläubiger Jude war, zeigte er sich von nun an am Sabbat in Sabbatkleidung und mit Gebetbuch. Visser starb am 17. Februar 1942 an einem Herzinfarkt, drei Tage nachdem er ein Schreiben vom Judenrat erhalten hatte, in dem ihm die Deportation angedroht wurde, sollte er seine Proteste fortführen. Sein einundvierzigjähriger Sohn wurde am 2. September 1942 in Mauthausen umgebracht, weil er sich geweigert hatte, den gelben Stern zu tragen.

J.B.F. (Frans) van Hasselt wurde am 26. Februar 1913 geboren. Er war Vorsitzender des Studentenbundes an der Universität von Delft. Nach der von den Deutschen angeordneten Entlassung von Juden aus dem Universitätsdienst hielt er eine ergreifende, zornige Protestrede und schloss mit den Worten: »Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer.« Daraufhin riefen die Studenten den Streik aus. Van Hasselt wurde verhaftet, nach Scheveningen gebracht und starb am 10. September 1941 in Buchenwald.

Der letzte Sommer des Philip Slier: Briefe aus dem Lager Molengoot 1942

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