Читать книгу Der letzte Sommer des Philip Slier: Briefe aus dem Lager Molengoot 1942 - Deborah Slier - Страница 31

Der Judenstern

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Die Niederlande sind das einzige Land in Europa, das Juden nie vertrieben, in Ghettos isoliert oder rechtlich diskriminiert hat, und deshalb fühlten sich die Juden dort genauso als niederländische Bürger wie die nichtjüdische Bevölkerung. Bei der Einführung ihrer Gesetze und Bestimmungen zur Abgrenzung, Demütigung, Enteignung und Vertreibung der Juden gingen die Deutschen so geschickt vor, dass die Juden bei jedem neuen Schritt wieder ungläubig und schockiert reagierten, so wie Asscher und Cohen (siehe das Schreiben S. 62), als sie von der Anordnung zum Tragen des Judensterns erfuhren, die in Deutschland bereits seit dem 1. September 1941 galt. Der gelbe Stern, das Verbot, Blut zu spenden, Fußball zu spielen, zu angeln oder öffentliche Bibliotheken aufzusuchen, sowie die Änderung der Schreibweise des Wortes »Jude« (mit großem Anfangsbuchstaben) in das kleingeschriebene »jude«, waren ausgeklügelte Maßnahmen, um die Juden zu demütigen und ganz allgemein zu verstehen zu geben, dass Juden anders waren – obwohl der Apostel Paulus in seinem Brief an die Römer geschrieben hatte: »Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen« (Röm. 10:12). Trotz der Anordnung der Deutschen wurde das Wort »Jude« in diesem Vers in fast allen niederländischen Bibelausgaben auch weiterhin mit einem großen »J« geschrieben.1

Ab dem 3. Mai 1941 mussten alle Juden, die älter waren als sechs Jahre, den Judenstern tragen, in dessen Mitte in einer das Hebräische karikierenden Weise das Wort »jood« geschrieben stand. Jeder Jude erhielt vier Sterne zum Preis von 16 Cent sowie eine Kleidermarke. Die Sterne waren aus gelbem Baumwollstoff und mussten auf alle Oberbekleidungsstücke links über der Brust aufgenäht werden. Auf das Nichttragen des Sterns standen zunächst eine Geldstrafe von 1000 Gulden (eine Summe, die nur wenige aufbringen konnten) und sechs Monate Gefängnis. Später wurden Zuwiderhandlungen mit Lager und Deportation geahndet.

Die Deutschen behaupteten, es sei leicht, einen Juden zu erkennen – noch leichter allerdings, wenn er einen gelben Stern von der Größe einer Untertasse trage, in dessen Mitte mit schwarzen Buchstaben das Wort »Jude« gedruckt war.

Als Hans Rauter, der Oberkommandierende der SS in den Niederlanden, einmal das Konzentrationslager von Vught besuchte, setzte er sich neben eine blonde Frau, deren Stern von ihrem langen Haar verdeckt wurde, weil sie, wie es die deutsche Ordnung verlangte, den Kopf gesenkt hielt.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier«

»Sieben Monate.«

»Sie haben wohl Juden versteckt, oder?«

»Nein, ich bin selber Jüdin.«

Wie peinlich, Rauter sah zu, dass er schleunigst das Weite suchte.

Hardenberg, 3. Mai 1942 [Sonntag]

Lieber Papa, liebe Mutti!

Gleichzeitig mit eurem Brief erhielt ich ein Paket von Tante Juul, Onkel Karel und Barend und Frau.2 Haben die mich verwöhnt: ein halber Käse, vier Frikadellen, fast ein halbes Pfund Butter, zwei Pakete Pumpernickel und vier Eier. Das wird eine Festmahlzeit. Die vier Frikadellen teile ich mit den Jungens. Die teilen auch viel, das trägt zur guten Stimmung bei. Gestern Abend habe ich zum ersten Mal so viel gegessen, dass mir fast übel wurde. Es gab Sauerkraut mit Kartoffeln. Manche mochten das anscheinend nicht, und da in unserer Gruppe die meisten Jungens sind, hat man uns gerufen und uns den noch halbvollen Topf mit Sauerkraut gegeben. Nun, ich habe gegessen, bis ich satt war. Gestern Abend habe ich für die Jungens zweiunddreißig Eier aufgetrieben, für jeden vier à 20 Cent das Stück. War das ein Schlemmermahl. Auch habe ich in der Kantine Zigaretten kaufen können. Die hebe ich auf. Mit einer Zigarette kann man hier in Twente den Teufel tanzen lassen.

Wir haben auch wieder Roggenbrot bestellt, für jeden sieben Pfund à 40 Cent das Pfund. Vorläufig kann ich also nicht klagen. Andere dürfen dies nicht lesen. Es wäre unheimlich riskant für uns, wenn die falschen Leute davon wüssten. Hier in Twente hat man den Bauern schon mit Beschlagnahmung ihrer Höfe gedroht, wenn sie Lebensmittel an Juden verkaufen. Aber das können die [die Deutschen] sowieso nicht verhindern. Wir laufen hier auch mit dem gelben Stern rum, aber darüber werden wir schon hinwegkommen.

Ich habe alles bekommen, was ihr mir geschickt habt. Vielleicht habe ich vergessen, es euch zu schreiben. Ich verbringe fast meine ganze Freizeit mit Schreiben, aber das macht mir Spaß. Karel, Dick und Lilly3 haben mir zum 1. Mai eine selbstgemalte Grußkarte geschickt. Sehr schön. Ich war unheimlich gerührt, als ich sie erhielt. Ich habe gerade herrlich gegessen: Weißkohl und Kartoffeln, ein schönes Stück Fleisch und Soße. Sonntags bekommen wir immer eine Extraportion. Auch der Petroleumkocher ist eine Wucht. Wir braten immer Eier, heimlich natürlich.

Wir haben jetzt eine andere Arbeit, nämlich einen Kanal bauen in der Heide. Also ist Schippen und Schubkarreschieben angesagt. Kommenden Mittwoch bekommen wir unseren ersten Lohn. Das wird nicht viel sein. Wir erhalten 29 Cent für achtzehn Fuhren. Das ist vielleicht gerade mal ein Gulden pro Tag. Aber diese Woche bekommen wir einen Standardlohn, das wird also ein wenig mehr sein. Die Staubbrille habe ich nicht mehr gebraucht. Gott sei Dank bläst der Wind nicht mehr so stark. Die Handschuhe habe ich jedoch getragen, obwohl sie wahrscheinlich schnell kaputtgehen werden. Sie sind nicht geeignet für diese Arbeit, dazu braucht man Lederfäustlinge. Mama, schick mir doch bitte noch einige Paar ganz alte Socken, es macht nichts, wenn sie löchrig sind. Auch hätte ich gerne ein Paar Arbeitsschuhe, aber nicht die von Papa, denn die sind viel zu groß. Schau mal, ob du welche auftreiben kannst. Mit dem Attest brauche ich erst gar nicht zum Arzt zu gehen, das hat wirklich keinen Zweck. Übrigens gibt es hier im Lager noch nicht mal einen. Um einen Doktor zu erreichen, muss man zuerst eine Dreiviertelstunde laufen, und dann bringt das sowieso nichts.

Jetzt etwas zu eurem geplanten Besuch bei mir. Ich kann darüber noch nichts Genaues sagen. Es ist verboten. Aber heute waren doch irgendwelche Frauen da. Und niemand hat etwas gesagt. Warten wir vielleicht lieber noch etwas ab. Falls ihr zum Lager kommt (ihr dürft auf jeden Fall nicht rein), müssen wir uns am Tor sprechen. Aber wenn ihr unter der Woche kommt (bringt auf keinen Fall jemanden mit, also nur ihr zwei), dann könnt ihr mich bei der Arbeit sehen, wenn ihr vom Lager aus in östlicher Richtung lauft, rechts an dem Haus mit dem roten Dach vorbei, das sieht man sofort. Ich kann aber wahrscheinlich nur zu euch kommen, wenn wir Pause machen. Das ist morgens von 9.00 Uhr bis 9.15 Uhr, von 12.00 Uhr bis 12.30 Uhr und von 15.00 Uhr bis 15.15 Uhr. Schreibt mir vorher, wenn ihr kommen wollt und an welchem Tag, dann kann ich mich darauf einstellen. Sollte sich unverhofft etwas Gegenteiliges ergeben, so schreibe ich euch sofort. Vielleicht wird es verboten. Ich mache jetzt wieder Schluss. Grüßt alle von mir. Den Fam. Bleekveld und Pekel4 werde ich noch eine Postkarte schicken. Also, bleibt stark. Ich bleibe es auch. Einen dicken Kuss von Flip.

Auf Wiedersehen in Mokum [Amsterdam]

Dankt Tante Duif bitte herzlich von mir und grüße alle.

Tschüüüs!!!

[Postkarte]

Hardenberg, 4. Mai 1942 [Montag]

Lieber Vater, liebe Mutter!

Wieder einige Zeilen, um euch zu beruhigen. Wir haben heute wieder hart gearbeitet, und ich bin todmüde heimgekommen. Ich habe mich aber sofort ganz gewaschen und fühle mich jetzt wieder frisch und munter. Ich habe auch zwei Paar Socken und ein Handtuch gewaschen, aber nächste Woche werde ich meine schmutzige Wäsche nach Hause schicken. Wir arbeiten so hart, weil es so kalt ist. Wenn wir nur fünf Minuten stehen bleiben, zittern wir schon. Und dann der schreckliche Hunger. Aber den kann ich wenigstens noch stillen mit einigen Süßigkeiten, ein paar Butterbroten und ein wenig Roggenbrot. Und dann gibt es ja noch die warme Mahlzeit.

Gestern gab es einen netten bunten Abend. Ich habe das Gedicht vom unbekannten Soldaten vorgetragen. Es hat allen gut gefallen. Ich habe mich gut amüsiert. Harry Poss ist auch im Lager, der war bei der VARA [Radiosender]. Er kann unheimlich schön singen. Er hat einige jüdische Lieder gesungen. Herzliche Grüße und einen Kuss von Flip.


Hardenberg, 5. Mai 1942 [Dienstag]

Lieber Vater, liebe Mutter!

Euren Brief habe ich bei bester Gesundheit empfangen. Es geht mir jetzt gut. Heute Morgen haben wir hart gearbeitet, aber heute Mittag haben wir herrlich gefaulenzt. Das Paket habe ich bekommen. Ich fand es wirklich toll. Ihr könnt euch wohl vorstellen, dass ich oft einen Mordshunger habe. Heute habe ich ein Pfund Roggenbrot gekauft und es gleich in zweimal verputzt. Herrlich gegen den Hunger. Auch den Reichstaler [2,50 Gulden] habe ich im Brief gefunden. Prima, dafür kann ich mir schon wieder Eier und Roggenbrot kaufen, falls es nötig sein sollte.

Meinen letzten Brief habt ihr sicherlich noch nicht erhalten. Das geht aus euren Zeilen hervor. Die Post scheint manchmal mehrere Tage unterwegs zu sein. Ihr dürft euch keine Sorgen darüber machen, dass ich zuerst geschrieben habe, ihr solltet nicht kommen. Wir sind in der Tat keine Kriminellen, aber wir sind mehr oder weniger Gefangene, das dürft ihr nicht vergessen. Mittlerweile werdet ihr wohl dies und jenes aus meinem vorigen Brief erfahren haben, falls ihr ihn schon bekommen habt. Ich werde versuchen, am Sonntag einige Stunden frei zu bekommen, aber da gebe ich euch noch Bescheid. Eigentlich dürfen wir keinen Besuch bekommen. In Drente hat man schon damit gedroht, das Lager einzuzäunen, falls das nicht aufhört mit dem Besuch. Das darf bei uns nicht passieren. Das bisschen Freiheit, das wir jetzt noch haben, dürfen wir nicht verlieren. Ihr müsst verstehen, dass dies keine normalen Zeiten sind. Wir sind eben nur Juden. Wir haben einen tollen Koch, der uns in allem unterstützt. Aber auch er ist abhängig von den ›Behörden‹. Ihr dürft andere Leute meine Briefe nicht lesen lassen. Was ich hier manchmal schreibe, geht niemanden etwas an. Jeder erhält persönlich eine Nachricht von mir. Wir sollten uns vor Verrätern hüten, hat Soetendorp5 betont, und ich darf diesen Rat nicht in den Wind schlagen.

Jetzt etwas anderes. Sobald ich die Gelegenheit dazu bekomme, werde ich zum Arzt gehen, aber es ist wirklich vergebliche Mühe. Man hat Leuten, die viel schlimmer dran sind als ich, gedroht und sie wieder zur Arbeit geschickt. Hier werde ich bestimmt nicht für untauglich erklärt. Außerdem geht es jetzt einigermaßen. Ich härte allmählich ab, und morgens ist es Gott sei Dank nicht mehr so bitterkalt, obwohl es um 7.00 Uhr noch friert.

Ich habe gelesen, dass man einem Mann und seiner Tochter erlaubt hat, ins Dorf zu gehen und das Lager zu verlassen. Das kann nie im Leben stimmen. Wir bekommen eine Stunde frei, und dann ist es unmöglich, ins Dorf zu gehen. Falls er es doch getan hat, war es heimlich, aber damit gefährdet er das ganze Lager, und diese Verantwortung möchte ich nicht auf mich nehmen. Ich habe euch schon geschrieben, dass ihr mich vielleicht auch unauffällig während der Arbeit besuchen könnt. Ich schreibe euch sobald wie möglich per Eilboten, wenn ich etwas über unsere Freizeit erfahre und weiß, welche Stunden ich vielleicht frei bekomme.

Dankt Onkel Max und Onkel Eduard für das Geld, auch Onkel Bram.6 Ich werde allen persönlich schreiben. Noch einmal: Zeigt anderen meine Briefe nicht, denn ihr wisst, dass sofort darüber geredet wird, und das darf nicht sein.

Die Büchse mit Essen, die Tante Jo7 mir geschickt hat, werde ich aufheben, bis ich sie wirklich brauche, und dann alles genüsslich verputzen. Brotbelag habe ich vorläufig genug. Ich bin immer noch beim ersten Topf Apfelkraut. Nur Käse esse ich unheimlich viel und auch Eier. Ich soll doch nicht hungern, oder? Die Vitamintabletten werde ich hoffentlich nie brauchen, und ich brauche sie vorläufig auch nicht.

Also, Papa und Mutti, bis Sonntag oder an einem Wochentag, das schreibe ich euch noch.

Einen dicken Kuss und herzliche Grüße von Flip.

Tschüüüs!!!

Barend habe ich geschrieben, dass er nicht kommen soll.

Ich werde ihm auch eine Postkarte schicken.

[PS. vom Mittwoch, den 6. Mai]

Heute (Mittwoch) habe ich meinen Lohn bekommen,

7,62 Gulden plus 1,– Gulden für Freitag, macht 8,62 Gulden zusammen.

Nächste Woche wird es wohl nicht so viel sein.

Habe auch einen Brief von Henk erhalten.

Diesen Brief habe ich selbst wieder geöffnet.

Hardenberg, 7. Mai 1942 [Donnerstag]

Liebe Eltern!

Heute Mittag habe ich euren Brief erhalten und gelesen, dass Papa vorhat zu kommen. Das finde ich toll. Wahrscheinlich werde ich am Sonntag eine Stunde frei haben, dann können wir miteinander reden. Schön, dass ich Arbeitsschuhe bekomme, denn die brauche ich wirklich dringend. Heute Mittag war ich beim Arzt und habe über meine Füße geklagt und darüber, dass die Arbeit mich so müde macht, und dass ich mit den Holzschuhen nicht zurechtkomme. Er meinte, ich müsse mich einfach daran gewöhnen. Und dann habe ich ihn gefragt, ob er mir keine Arbeitsschuhe besorgen könne. Er würde es versuchen, sagte er, fügte jedoch hinzu, dass die Chance, welche zu bekommen, nicht sehr groß sei. Heute Mittag habe ich also wieder meine schwarzen Schuhe angezogen. Was für ein Unterschied! Ich war längst nicht so müde, und das Arbeiten war viel angenehmer. Es geht jetzt ziemlich gut. Wir arbeiten nicht allzu hart und machen öfter Pause. Ihr seht also, man gewöhnt sich an alles. Wir bekommen jetzt auch weniger Kartoffeln, auch da hat man also wieder reduziert. Aber wir kaufen selbst eine Menge dazu. Ich habe sechs Eier zusätzlich zum normalen Essen verspeist. Sie kosten gekocht 21 Cent das Stück. Das ist zwar teuer, aber immerhin besser als Hunger leiden, oder? Ich kaufe auch Käse für die andern, selbst brauche ich den nicht. Gott sei dank, denn das ginge zu sehr ins Geld.

Toll, dass Henk Schenk8 frei ist. Aber auch wir werden frei sein. Ich habe Bep de Vries eine Seifenmarke geschickt, da der Brief an euch schon weg war. Sie wird sie euch vorbeibringen.

Papa, du schreibst, dass ich mich vor Erkältungen schützen soll, aber das geht hier doch gar nicht. Wenn man auf dem Klo hockt und der Wind bläst ein wenig, dann zieht es wie Hechtsuppe. Aber jetzt ist das Wetter Gott sei Dank etwas angenehmer.

Du kommst also, aber komme so unauffällig wie möglich, denn das ist am besten. Der Koch9 wird wahrscheinlich ein Auge zudrücken. Also Papa und Mutti, ich mache jetzt Schluss und erwarte dich Sonntag. Wie das läuft, werde ich noch sehen. Also beende ich diesen Brief mit einem dicken Kuss von Flip.

Blits10 hat mir auch geschrieben. Er sagt, dass sie immer noch keine Pakete empfangen dürfen und dass ihr mir, solange es hier noch erlaubt ist, Sachen schicken sollt. Ich könnte dann einen kleinen Vorrat anlegen, meint er. Vielleicht hat er recht. Aber wir werden sehen. Noch einmal einen Kuss von Flip.

Von van der Brave11 habe ich einen Brief erhalten mit zehn Briefmarken à 7 ½ Cent.

Hardenberg, 10. Mai 1942 [Sonntag]

Lieber Vater, liebe Mutter!

Gestern Abend habe ich euren Brief kurz vor dem bunten Abend empfangen und ihn vorher noch schnell durchgelesen. Es war wieder ein sehr lustiger Abend mit allen möglichen Darbietungen und so.

Ich habe gelesen, dass Papa Dienstag oder Mittwoch kommen möchte. Nun, das geht. Gestern und heute waren auch wieder einige Leute da. Du kommst am besten gegen 4.00 Uhr. Um Viertel vor 5 sind wir fertig. Wenn du dann dort bist, wo ich arbeite (vom Lager aus gesehen östlich, rechts von dem Haus mit dem roten Dach. Einfach dem Weg folgen und du erreichst uns von selbst), dann können wir gemütlich zusammen zum Lager zurücklaufen. Ich glaube, du kommst am besten ohne Reisegenehmigung. Das haben schon so viele Leute getan.

Das Päckchen habe ich noch nicht erhalten, aber das wird wohl morgen kommen. Merkwürdig, dass Lientje van Emden immer wieder kommt. Womit habe ich das nun wieder verdient? Nun ja, ich werde ihr auf jeden Fall eine Postkarte schreiben. Jetzt noch etwas über den Arzt. Bei uns im Zimmer war ein Mann, der Rheuma hatte. Er war ganz steif. Und da hat der Arzt zu ihm gesagt: »Du musst arbeiten, bis du umfällst. Befehl ist Befehl.« Aber ansonsten komme ich mit der Situation gut zurecht, obwohl ich ab und zu innerlich vor Wut koche, da wir hier wie Gefangene sind. Trotzdem ist unser Lager noch eines der besten, mit der größten Freiheit.

Glücklicherweise braucht ihr noch nicht zu darben. Ich Gott sei Dank auch noch nicht. Nur, mir ist ein ¾ Pfund Butter ranzig geworden, also esse ich sie so schnell wie möglich auf. Solche Sachen kann man halt nicht aufheben. Ich habe sie schon in Salzwasser getaucht, und jetzt geht es einigermaßen. Solange wir noch etwas kaufen können, herrscht noch keine Not. Es kostet nur viel Geld. Und ab und zu ein Päckchen ist auch eine große Hilfe (solange das noch erlaubt ist).

Nun, Papa und Mama, ich beende meinen Brief mit herzlichen Grüßen und einem dicken Kuss Flip.

Viele Grüße von allen

Jungens aus dem Zimmer!

Hardenberg, 13. Mai 1942 [Mittwoch]

Lieber Vater, liebe Mutter!

Heute haben wir frei, also habe ich Zeit, einige Briefe zu schreiben. Die Schuhe passen wunderbar. Sie sind nicht zu groß, aber trotzdem haben meine Füße jetzt herrlich viel Platz. Auch die Strümpfe kann ich gut brauchen. Mama, einen dicken Kuss für die Mühe, die du dir gemacht hast. Die braunen Bohnen esse ich heute Mittag, die werden schmecken! Mama wird jetzt wohl etwas fröhlicher sein, nachdem Papa mich besucht hat.

An den arbeitsfreien Tagen bekommen wir morgens nur Kaffee. Wenn wir kein Geld bekommen, kostet der Tag uns 2,60 Gulden. Gestern habe ich meinen ›Lohn‹ erhalten, nämlich 4,71 Gulden. Viel, nicht wahr? Wenigstens kann ich ein paar Eier und etwas Süßes dafür kaufen. Ihr seht also: Ein Tag kostet mehr, als ich in drei Tagen verdiene. Aber was juckt mich das.

Tante Jo und Onkel Bram und Onkel Alfred habe ich auch einen Brief geschrieben. Und bei Frau van Geldere habe ich mich ebenfalls bedankt. Aber wofür war das doch wieder? In meiner Freude habe ich das vergessen. Also, Papa und Mama, ich mache wieder Schluss und schicke euch einen dicken Kuss. Flip

Gestern haben wir schon um 15.00 Uhr mit der Arbeit aufgehört, da es regnete. Hoffentlich regnet es oft, dann verdienen wir mehr, als wir arbeiten.

Tschüüüs,

auf Wiedersehen in Mokum.

Hardenberg, 19. Mai 1942 [Dienstag]

Lieber Papa, liebe Mama!

Heute Nachmittag habe ich euren Brief erhalten. Mama, du hast gefragt, ob Karel, Dick und Lilly hier in der Gegend schlafen könnten. Nun, das ist sicherlich möglich, bei irgendeinem Bauer. Die Leute hier sind sehr gastfreundlich. Ich würde mich freuen, sie zu sehen. Wenn ich eine Schlafgelegenheit gefunden habe, werde ich ihnen schreiben. Und wenn Mama mich mal besuchen möchte, geht das auch. Du wirst bei Salomonson oder De Bruin schlafen können. Und wenn du sonntags nicht reisen darfst, gehst du [einfach] ohne Stern. Die Krankenmarken hast du inzwischen sicherlich gefunden.

Morgen werde ich den Bleekvelds schreiben. Falls meine Briefe nicht sofort ankommen, liegt das vielleicht daran, dass es manchmal zu einer kleinen Verzögerung kommt.

Was Süßigkeiten oder Zigaretten betrifft, so habe ich noch nichts gehört. Sobald ich etwas weiß, werde ich es euch schreiben. Kann Papa den Shagtabak noch kaufen? Wenn ja, soll er es machen. Das kann nie schaden. Und er wird immer teurer.

Daafs Adresse lautet:

Zimmer 10, De Vecht,

Dalfsen12

Ich war gerade eine Viertelstunde bei De Bruin. Dort habe ich ein Glas Milch getrunken und ein paar Butterbrote gegessen. Ich habe ein Roggenbrot bestellt, d.h. ich habe sie gebeten, mir eins zu besorgen. Das machen sie. Sie sagten aber, dass 4 oder 5 Pfund mindestens 2,– Gulden kosten. Ich fand das in Ordnung, obwohl ich hier schon ziemlich viel Geld ausgebe. Könntet ihr mir nicht jede Woche eine Kleinigkeit schikken? Ich esse jetzt viel Käse. Als Zusatzverpflegung ist das prima. Auch kaufe ich noch Eier. Morgen bekomme ich 5,22 Gulden, aber die habe ich jetzt schon wieder ausgegeben. Salomonson hat mich diese Woche auch besucht, aber zu ihm gehen kann ich nicht. Er wohnt zu weit weg. Er hat mir Mandolinensaiten und ein halbes Brot geschenkt. Nett, nicht wahr?

Wir haben heute wieder sehr hart gearbeitet, viel härter als neulich, als Papa hier war. Warum? Weil einige Leute spinnen. Ich möchte mich aber nicht zu Tode arbeiten. Und dann das schäbige bisschen Essen. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich nichts kaufen könnte. Aber bis jetzt habe ich noch nicht hungern müssen. Falls ihr mir haltbare Sachen schicken könnt, bitte tut es. Von dem, was ihr mir geschickt habt, habe ich noch nichts gegessen. Ich habe alles noch: die Wurst, das Apfelkraut, den Honig usw. Ihr seht also, ich esse nicht alles auf einmal auf. Falls irgendwann mal der Zeitpunkt kommt, dass nichts mehr verschickt werden darf (und der kommt bestimmt), dann habe ich noch etwas. Heute Abend habe ich sechs Briefe erhalten. Einen von Lies van Emden, von Jo v. Wezel, von Henk, von Henny und einen von Harry. Post bekomme ich also genug.

Also Papa und Mama, ich beende diesen Brief wieder

mit einem dicken Kuss von Flip.


Mir geht es gut.

Schickt mir bitte ein Handtuch, Zucker oder Süßstoff.

Mehr brauche ich, glaube ich, nicht.

Samstag, den 23. Mai 1942

Lieber Papa, liebe Mama!

Ich schicke diesen Brief per Eilboten, damit ihr ihn heute noch bekommt. Zurzeit hören wir um 10.15 Uhr auf, also habe ich genügend Gelegenheit zum Schreiben. Gestern Abend war ich zu müde und bin um 9.00 Uhr ins Bett gegangen.

Wie ihr wahrscheinlich schon gehört habt, hatten wir diese Woche eine Versammlung in der Kantine. Die Vorschriften sind verschärft worden. Es sind natürlich wieder Dinge passiert, wofür das gesamte Lager büßen muss. Nur durch die Dummheit einiger Leute. Wenn man Besuch hatte, durfte man manchmal drei Stunden das Lager verlassen. Das ist jetzt nicht mehr möglich. Von Besuch wurde dringend abgeraten, deswegen habe ich Karel, Dick und Lilly sofort geschrieben, dass sie lieber nicht kommen sollen. Habe jedoch einen Brief hinterhergeschickt und ihnen gesagt, dass sie als Nichtjuden doch kommen dürfen.

Auch die NSB-ler haben Anstoß daran genommen, dass es so viele Juden in Hardenberg gibt.13 Wir können nicht vorsichtig genug sein. Auch die »Grünen«14 waren wieder da und haben beanstandet, dass es hier so viele Kranke gibt. Sonst ist alles in Ordnung.

Tante Juul und Onkel Karel haben mir ein Päckchen mit tollen Sachen geschickt: Käse, Butter und Eier. Vor allem die Butter konnte ich gut brauchen, da ich ja keine mehr hatte. Auch Frikadellen und ein Glas Marmelade waren drin. Von De Bruin habe ich ein ganzes Roggenbrot bekommen und von Salomonson ein paar Stück herrlichen Butterkuchen. Alles wurde mir gebracht. Die Fotos habe ich auch bekommen, und jetzt brauche ich ziemlich viele Abzüge. Kannst du die erst mal bezahlen, Papa, ich schicke dir dann das Geld, das ich hier bekomme?

Ich habe einen Brief von Onkel Alfred und Tante Jenny15 erhalten. Sie haben mir geschrieben, dass auch sie ein Päckchen für mich bereithalten. Das ist natürlich toll. Auch diese Woche brauche ich also nicht zu hungern. Ich habe noch einige Eier und eine kleine Flasche Tomatensaft gekauft.

Diese Woche haben wir hart gearbeitet und trotzdem wieder nichts verdient. Und es wird noch weniger. Auch der Zuschlag wird im Laufe des Monats gekürzt. Dann kriegen die Frauen in Amsterdam in Zukunft also noch weniger Geld.

Im Augenblick ist das Wetter hier trüb. Überhaupt kein Pfingstwetter, aber das können wir nicht ändern. Diese Woche durften zwei Männer, die mit Christinnen verheiratet sind, nach Hause. Was für ein Glück, oder? Also, Papa und Mama, seid herzlich gegrüßt von


und einen dicken Kuss.


Der letzte Sommer des Philip Slier: Briefe aus dem Lager Molengoot 1942

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