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ОглавлениеDie Hanse: Wenn Kaufleute Krieg führen
Am 24. Mai 1370 wurde in Stralsund einer der merkwürdigsten Friedensverträge der Weltgeschichte. unterzeichnet. Der Besiegte, der dänische König Waldemar IV., verpflichtete sich, seinem Gegner vier Festungen im Sund zu überlassen, ihn in seine alten Rechte wieder einzusetzen und ihm ein Mitspracherecht bei der Wahl seines Nachfolgers einzuräumen. Doch dieser Gegner war kein König, kein Staat und auch kein ehrgeiziger Revolutionär. Es war eine Vereinigung nordeuropäischer Städte, die deutsche Hanse. Mit der Waffe in der Hand erkämpfte sie sich das Privileg zurück, ohne Störung durch die hohe Politik Handel zu treiben.
Während das klassische China die größte je erreichte Annäherung an eine Gelehrtenrepublik darstellte, war die Hanse der Idealtypus einer Kaufmannsrepublik. Keine Grenzen, keine Steuern, keine unsachgemäße Einmischung der Politik in das Wirtschaftsgeschehen, denn es gab keine vom Wirtschaftsgeschehen getrennte Politik. Die Fernhandelsherren schufen sich die Gesellschaftsordnung nach ihren eigenen Erfordernissen; denn als sie im zwölften Jahrhundert in die Geschichte eintraten, gab es keine andere Ordnung, die mit ihren Vorstellungen hätte konkurrieren können. Und als ihnen ab dem 14. Jahrhundert die erstarkenden Nationalstaaten ihr Handelsmonopol streitig machen wollten, schlugen sie zurück. Die Kölner Konföderation von 1367, faktisch als Kriegserklärung an den Dänenkönig, fand dafür äußerst undiplomatische Worte: »Um mancherlei Unrecht und Schaden, den die Könige dem gemeinen Kaufmann tun und angetan haben«, heißt es da, »wollen die Städte ihre Feinde werden und eine der andern treulich helfen.«
Am Anfang stand der Hering
Waldemar hatte den unverzeihlichen Fauxpas begangen, die beiden Keimzellen der Hanse für sich zu beanspruchen: Gotland und Schonen. 1161 hatte nämlich alles mit der Gründung der »Genossenschaft der Gotland besuchenden Deutschen« begonnen. Und Gotland besuchten die Deutschen, weil dort der zentrale Marktplatz für das seinerzeit lukrativste Handelsgut Nordeuropas war: Heringe.
In der Ostseemeerenge zwischen Seeland und Schonen gab es sie in Massen. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus berichtet davon Ende des 12. Jahrhunderts: »Der ganze Meeresraum füllt sich gewöhnlich so mit Fischen, dass manchmal die Schiffe feststehen und kaum mit angestrengtem Rudern herauszubringen sind und die Beute nicht mehr mit der künstlichen Vorrichtung gefangen, sondern ohne weiteres mit der Hand gegriffen wird.« Ebenfalls in Massen gab es in Deutschland eine Nachfrage nach Fisch – als Fastenspeise. Bei damals 140 Fastentagen im Jahr gehörten Fische zu den wenigen Produkten, für die im damals ärmlichen, auf primitive Selbstversorgung ausgerichteten Deutschland eine breite Zahlungsbereitschaft existierte.
Die Heringe zu fangen war also kein Problem. Sie in Deutschland auf den Marktplätzen zu verkaufen auch nicht. Sie mussten nur in genießbarem Zustand dorthin gebracht werden. Und dieses Problem löste die Hanse. Mit ihren Handelsschiffen, den legendären Hansekoggen, wurde Lübecker und Lüneburger Salz herangeschafft, um die frischen Fische zu pökeln und damit haltbar zu machen; die Städte Pommerns lieferten Hunderttausende hölzerner Tonnen für den Abtransport. Und die Kauffahrer aus den Hansestädten luden die mit Hering gefüllten Tonnen auf ihre Koggen, transportierten sie in ihre Heimathäfen und verkauften sie dort auf den Großmärkten. Kleinhändler versorgten dann die Wochenmärkte in der Stadt selbst und in der näheren Umgebung, und andere Fernhändler verteilten die Fische bis weit ins Landesinnere.
Mit diesem zwar schmalen, aber sicheren ökonomischen Fundament konnten sich die Hansekaufleute daran machen, über den Fischnetzrand hinauszublicken. Denn im Norden Europas gab es praktisch keine funktionierenden Handelsstraßen zu Lande. Das Land war dünn besiedelt, die Wälder kaum zu durchdringen, und obendrein drohte Gefahr von räuberischen Völkern, etwa den Litauern. Doch auf dem Seeweg entlang den Küsten von Ost- und Nordsee konnten große Warenmengen relativ schnell und gefahrlos über weite Strecken transportiert werden. Und je weiter die Strecke, desto größer die Profitspannen: Zwischen Lübeck und Rostock gab es nicht viele Güter, die den Transport gelohnt hätten – was der eine hatte, darüber verfügte der andere auch. Aber wenn man zwischen Russland und Flandern unterwegs war, sah das schon ganz anders aus. Die vier mächtigen Außenposten, mit klassisch hanseatischem Understatement »Kontore« genannt, standen auch für vier der damals wichtigsten Handelsgüter: Nowgorod am russischen Ilmensee war der Umschlagplatz für Pelze, Bergen in Norwegen lieferte Stockfisch, London Wolle und Brügge feines Tuch.
Die Brügger Bürger trugen zu feine Hosen
Wie Lübeck im 13. und 14. Jahrhundert die wichtigste Handelsstadt Nordeuropas war, so avancierte Brügge in dieser Zeit zum wichtigsten Handelszentrum in ganz Europa. Die Stadt war das Zentrum der Produktion von flandrischem Tuch, dem hochwertigsten der damaligen Zeit. Sie war der wichtigste Nachfrager für Wolle und für Getreide – die hohe Bevölkerungsdichte machte eine Selbstversorgung mit Getreide unmöglich. Aber durch die hoch entwickelte Textilbranche erübrigte sich das auch, es war Geld genug da, um den Bedarf über den Markt zu decken. Schon 1276 sah sich der Rat von Brügge genötigt, eine Verordnung gegen das Zurschaustellen von Reichtum zu erlassen, denn das Hosenmachergewerbe der Stadt kleidete die Beine der Herren in allerfeinstes (für den Rat: viel zu feines) Tuch.
Zudem war Brügge der einzige Ort, an dem die Handelsströme aus dem Norden und die aus dem Süden Europas aufeinander stießen. Der gesamteuropäische Waren- und Geldaustausch kam langsam in Gang. Ein 1984 in der Lübecker Altstadt gefundener Münzschatz zeigt, wie weit er sich in der späten Hansezeit schon ausdifferenziert hatte. Der zwischen 1533 und 1537 versteckte Schatz stellte wahrscheinlich die Wechselkasse eines reichen Hansekaufmanns dar. Er enthielt 865 verschiedene Münzsorten aus mindestens 84 europäischen Münzstätten von Ungarn bis Spanien, von Italien bis Finnland.
Doch ganz anders als in China funktionierte dieser Austausch in Europa nicht über die Mitte des Kontinents, sondern über die Ränder. China war immer ein Reich der Mitte, und zwar nicht nur ein Reich, das sich als den Mittelpunkt der Welt sah, sondern auch ein Reich, das selbst eine Mitte hatte: die riesigen, fruchtbaren Löss-Ebenen im Gebiet des Gelben Flusses. Europa war hingegen die meiste Zeit ein Reich der Ränder: In der Antike lagen die Zentren an seinem Südrand, entlang dem Mittelmeer. Im Zeitalter der Entdeckungen fielen die Entscheidungen an seinem Westrand, an den Küsten des Atlantiks. Und in der Hansezeit schlug erstmals die Stunde des europäischen Nordrands – der Städte im Einzugsbereich von Nord- und Ostsee.
Hamburg perfektioniert die Steuervermeidung
Die Gefahr, dass ihnen die Regierung die Geschäfte stören könnte, reduzierten die Kaufleute der norddeutschen Hansestädte auf ebenso einfache wie effiziente Weise: Sie regierten selbst. Landesherren oder gar Könige hatten weder in Hamburg noch in Lübeck etwas zu suchen. Hamburg schaffte es eine Zeit lang sogar, die Zahlung der Reichssteuern zu umgehen, die eigentlich mit dem Status der freien Reichsstadt verbunden waren – man gehöre ja eigentlich zum dänischen Territorium. Kamen allerdings die Dänen auf die Idee, von Hamburg Steuern zu verlangen, wurde ihnen ebenfalls die Tür gewiesen – schließlich gehöre Hamburg zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Kaiser Maximilian I. beschwerte sich deshalb einmal, die Hamburger »wollten aus ihm wohl einen Waldesel machen«.
Von gelegentlichen Volksaufständen abgesehen, war die Stadtverwaltung über Jahrhunderte fest in der Hand der Kaufleute. Zwischen den Interessen der Stadt und den Interessen der Wirtschaft gab es damit schlicht keinen Unterschied.
Nun kann man prinzipiell dagegen sein, dass Gesellschaftsordnungen nach den Bedürfnissen der Wirtschaft konstruiert werden, weil damit das Trachten nach materiellen Werten, nach Geld eben, quasi staatlich genehmigt werde, das Streben nach inneren Werten wie Glück und Liebe aber zu kurz komme. Eine solche Einstellung ist sicher moralisch gesehen ehrenwert, doch hat sich gezeigt, dass Ordnungen, die den Bedürfnissen der Wirtschaft zuwiderlaufen, nicht lange halten – es sei denn, sie sind wie im Falle Roms auf eine überlegene Militärmaschinerie gestützt.
Faktisch orientieren sich Ordnungen nicht einfach an den Bedürfnissen der Wirtschaft (sie werden auch gerne die Verwertungsinteressen des Kapitals genannt), sondern an den Bedürfnissen eines Teils der Wirtschaft, also an den Verwertungsinteressen einiger Kapitalisten. Dabei können strukturkonservative Ordnungen herauskommen, wie sie zum mittelalterlichen Zunftwesen oder zur realsozialistischen Planwirtschaft passen, aber auch dynamische à la Silicon Valley. Es können Staaten um einzelne Produktionsunternehmen herum aufgebaut werden, wie Honduras um die United Fruit Company, oder als Marketingmaschinen fungieren, wie in Monaco.
Es geht also darum, an welchem Teil der Wirtschaft sich eine Gesellschaftsordnung orientiert. Besonders er- und einträglich ist es für alle Seiten, wenn der genannte Teil, so wie im Fall der Hanse, der Fernhandel ist. Denn diese Branche floriert am besten,
◇ wenn es überall leistungsfähige Industrien gibt, die an den Kernkompetenzen der eigenen Länder oder Regionen ansetzen und somit einen Austausch unter den Regionen ermöglichen;
◇ wenn Arbeitsteiligkeit und Offenheit vorherrschen, weil dadurch eine Steigerung der Produktivität und eine dynamische Entwicklung möglich werden, und
◇ wenn überall nicht nur Angebot, sondern auch Nachfrage existiert. Denn obwohl, einer alten Händlerregel zufolge, der Gewinn im Einkauf liegt: Realisiert werden kann er erst im Verkauf, und verkaufen kann man nur, wo Kaufkraft vorhanden ist.
So machten damals weder Hamburg noch Lübeck, weder Nowgorod noch Bergen noch Brügge den Eindruck, als seien sie mit der Hanse schlecht gefahren. In einer Zeit ohne funktionierende staatliche Ordnung produzierte die Hanse nicht nur Wohlstand, sondern auch Stabilität. Was sie hingegen nicht produzierte, waren einzelne, herausragende Reichtümer. Reiche Hansekaufleute besaßen im 15. Jahrhundert ein Vermögen von 20 000 bis 40 000 Mark Lübische, vergleichbar mit 1 bis 2 Millionen Euro heute. Aber keiner stach aus der Gruppe dieser einfachen Millionäre hervor. Dabei spielte sicher die egalitäre Gesinnung der Hanseaten eine Rolle; aber es gehört auch zu den Konstruktionsmerkmalen einer auf Fernhandel ausgerichteten Wirtschaft, dass sie Reichtum fördert, Superreichtum hingegen verhindert. Denn die einträglichste unternehmerische Strategie, die Schaffung eines Monopols, war unter dem Dach der Hanse nicht möglich – die Hanse selbst war das Monopol. Sie bot den Rahmen, innerhalb dessen die Kaufleute geschützt vor Konkurrenten von auβen agieren konnten. Als Preis dafür mussten die hansischen Kaufleute die Konkurrenz von innen, also von anderen hansischen Kaufleuten, akzeptieren.
Die schärfste Waffe war der Handelsboykott
Während andere Kaufmannsrepubliken, wie zum Beispiel Milet, schon bald unter das Joch einer benachbarten Großmacht kamen, blieb die Hanse zu Wasser und zu Lande unbesiegt. Zu echten kriegerischen Auseinandersetzungen kam es dabei nur selten: 1402 besiegte die Hanse die in der Ostsee ihr Unwesen treibenden Seeräuber Klaus Störtebeker und Godeke Michels. 1426 erklärte der Städtebund dem Dänenkönig Erich den Krieg, weil der es gewagt hatte, von den Hanseschiffen Zoll für die Durchfahrt durch den Sund zu verlangen.
Die schärfste Waffe der Hanse war jedoch der Handelsboykott. Gegen Brügge musste er gleich mehrmals verhängt werden, weil diese Stadt, anders als die meisten übrigen Handelspartner, auch stark von nicht hanseatischen Händlern frequentiert wurde und deshalb immer wieder auf die Idee kam, die Privilegien der Norddeutschen zu beschneiden. Die Hanse verlegte deshalb erstmals 1358 ihr Kontor von Brügge ins nahe gelegene Dordrecht und verbot allen Mitgliedern, Brügge anzusteuern – nach zwei Jahren gab die Stadt klein bei.
Das Ende der Hanse war ebenso außergewöhnlich wie die gesamte Existenz dieses Reiches ohne Grenzen: kein verlorener Krieg, keine feierliche oder erzwungene Auflösung – sie ist sanft entschlafen. 1669 trafen sich gerade noch neun Delegierte zum Hansetag in Lübeck, gingen ohne Ergebnis wieder auseinander, und niemand machte sich danach mehr die Mühe, noch einmal die Hansestädte zusammenzurufen. Es gibt eine ganze Reihe von Gründen, die erst zum Niedergang und dann zum Ende der Hanse führten:
◇ das Erstarken der Nationalstaaten, die es sich im 16. Jahrhundert einer nach dem anderen leisten konnten, die Privilegien der Hanse einzukassieren ;
◇ der Ausfall Nowgorods und der baltischen Städte nach der Eroberung durch Russland beziehungsweise Schweden;
◇ die religiöse Spaltung der Hansestädte nach der Reformation sowie
◇ die Verlagerung der Handelsströme nach der Entdeckung Amerikas.
All das scheinen spezifische Ereignisse zu sein, die dieser spezifischen Kaufmannsrepublik ein Ende bereiteten. Doch nachdem wir gerade noch die Konstruktion einer auf Fernhandel ausgerichteten Gesellschaft als besonders wohlstandsfördernd hervorgehoben haben, müssen wir nun eingestehen, dass eine allein hierauf aufgebaute Gesellschaft nur eine begrenzte Lebensdauer hat. Denn sie weist eine große Schwäche auf: Sie fesselt die Menschen nicht. Ökonomische Prosperität wurde zu allen Zeiten von den Menschen gerne mitgenommen. Aber man kann sich darüber nicht die Köpfe heiß reden. Sie ist viel zu vernünftig, als dass man sich darüber wirklich streiten könnte. Ökonomische Prosperität kann deshalb nur zum obersten Ziel einer Gesellschaftsordnung werden, wenn diese Gesellschaft über keine wirklich brennenden Fragen zu entscheiden hat. Gegen die Sprengkraft, die eine nationale Aufwallung oder gar ein religiöser Konflikt entwickelt, kann sich ein Konzept der ökonomischen Vernunft nicht behaupten.
So bleibt zuletzt nur ein Grund für die Schwächung der Hanse, der nichts mit ihrem Ökonomismus zu tun hat: die Verlagerung der Heringsströme. Denn das Handelsgut, das im zwölften Jahrhundert den Grundstein zum Aufstieg der Hanse gelegt hatte, ging ihr im 16. Jahrhundert verloren – die Heringe verlegten ihre Laichplätze aus der Ost- in die Nordsee.