Читать книгу Die Dagoberts - Detlef Gürtler - Страница 7
ОглавлениеÄgypten: der pharaonische Sozialismus
Für Herodot war Ägypten ein Paradies. Ein Bauernparadies. Fasziniert berichtete der berühmteste Historiker der Antike über seine Eindrücke von der Arbeit der ägyptischen Bauern – besser gesagt, von deren Nicht-Arbeit: »Diese Leute bringen die Frucht vom Feld ein mit weit geringerer Mühe als alle anderen Menschen. Sie, die sich nicht zu mühen brauchen, mit dem Pflug Furchen aufzubrechen, nicht zu hacken brauchen. Wenn bei ihnen der Fluss von alleine kommt und die Fluren tränkt und nach dem Tränken wieder zurückweicht, dann besät ein jeder sein Feld und treibt bloß Schweine darauf, ist aber die Saat von diesen Schweinen eingetreten, braucht er nur die Ernte abzuwarten und drischt mit diesen Schweinen sein Korn aus und bringt’s so ein.« Das klingt grandios.
Wir dürfen allerdings vermuten, dass Herodot den Bauern nicht so genau zugeschaut hat. Die meiste Zeit des Jahres mussten sie ihre Felder in mühsamer Schöpfarbeit bewässern; wenn die Arbeit auf den Feldern ruhte, leisteten sie den Frondienst für den Pharao, und alle zwei Jahre kam der Steuerbeamte, um die Abgaben neu festzusetzen. Ein altägyptisches Schulbuch beschrieb das Dasein der Bauern denn auch ganz anders als Herodot: »Der Bauer klagt mehr als ein Perlhuhn, seine Stimme ist lauter als die eines Raben, denn seine Finger sind Geschwüre geworden mit einem Übermaß an Gestank. Wenn man ihn für das Delta zur Fronde registriert und wegtreibt, ist er in Fetzen.«
Auf Schlamm gebaute Hochkultur
Für den Rest der damaligen Welt mussten solche Klagen jedoch nach Jammern auf hohem Niveau klingen. Die Kombination aus Nilüberschwemmung und Bewässerung erlaubte in Ägypten mehrere Ernten pro Jahr, der Pharao ließ seine Untertanen zwar hart arbeiten, aber nicht verhungern, und es kamen auch nicht ständig Soldatentrupps vorbei, um die Dörfer auszuplündern. Genauer gesagt: Es kamen eigentlich nie irgendwelche Truppen vorbei. Gemessen an den regelmäßigen Kriegszuständen im Zweistromland Mesopotamien war das schon ein bisschen paradiesisch.
4500 Jahre nach dem Bau der Pyramiden, 2000 Jahre nach dem Untergang des Ägyptischen Reiches wurde noch einmal versucht, ein Bauernparadies zu schaffen – nur dass diesmal die Arbeiter in den Genuss der gleichen Segnungen kommen sollten. Wären Karl Marx und seine Erben nicht davon überzeugt gewesen, dass die Geschichte sich von Fortschritt zu Fortschritt immer weiter entwickelt (»Vorwärts immer, rückwärts nimmer«, meinte Erich Honecker dazu), hätten sie offen zugeben können, dass sie ihre Ökonomien nach dem Vorbild der pharaonischen Wirtschaftsform konstruierten. Das Experiment ist bekanntlich gescheitert, denn zu seinem Gelingen fehlten ihm die zentralen Voraussetzungen: Für die Existenz eines paradiesischen Zustands auf Erden müssen drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein – die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung, ein natürlicher Schutz gegen äußere Feinde und ein natürlicher Schutz vor ungezügelter Expansion.
Alle drei Bedingungen waren in Ägypten erfüllt. Die Nahrungsmittelversorgung sicherte der Nil mit seinem jährlich wiederkehrenden Hochwasser. Er ermöglichte zudem eine Überschussproduktion, die einen sehr anspruchsvollen Herrscher und große Scharen von Priestern und Beamten mitversorgen konnte. Und für alle Bedürfnisse, die über das physische Überleben hinausgingen, war Ägypten mit auskömmlichen Rohstoffdepots gesegnet, vor allem von Gold, Türkisen und Kupfer. Insbesondere das Kupfer, das im Sinai abgebaut wurde, war eine begehrte Handelsware, benötigten es doch alle Völker zur Herstellung von Bronze.
Den Schutz vor äußeren Feinden übernahm in Ägypten die Wüste, die sich in alle Richtungen rund um die Flussoase des Nils erstreckt. Es gab lediglich eine Achillesferse: den Zugang über das Mittelmeer, via Nilmündung oder Sinai, was alle paar Jahrhunderte den Einfall wilder Barbaren zur Folge hatte, die sich aber sehr schnell assimilierten oder wieder vertrieben wurden. Einer dieser Stämme, die Hyksos, deren Führer sich im 17. Jahrhundert vor Christus zu ägyptischen Königen aufschwangen, holte sich auch noch Fremdarbeiter ins Land – die Israeliten. Als die Ägypter die Besatzer wieder vertrieben hatten, wurde es auch für die zugewanderten Arbeitskräfte ungemütlich. Wie es mit den Israeliten weiterging, steht in der Bibel. Für die Ägypter ging es nach dem Abzug der Fremdlinge weiter wie zuvor.
Auch für den Schutz vor ungezügelter Expansion war der Nil zuständig, der den Ägyptern eine kaum auszudehnende landwirtschaftliche Nutzfläche zugestand. In den Anfangsjahren des Alten Reiches wurden die Nilfluten so weit kanalisiert, dass die bebaubare Fläche bis an die Felswände heranreichte, die das Niltal einfassen. Mehr ging nicht. Die Bewässerungskanäle ermöglichten es, statt einer nun zwei bis drei Ernten im Jahr einzufahren. Und damit waren bereits vor 4600 Jahren die Grenzen des Wachstums erreicht.
In die gleiche stabilisierende Richtung wirkte das damalige Pendant zu unserer heutigen Erbschaftsteuer: ein Totenkult, bei dem ein großer Teil der zu Lebzeiten angesammelten Reichtümer dem Vestorbenen mit ins Grab gelegt beziehungsweise darauf verwendet wurde, dieses Grab zu bauen. Auf diese Weise hielt sich die Anhäufung von Vermögen über die Generationen hinweg stark in Grenzen. Und über die Institution der Grabräuber kamen die Besitztümer, die so dem Zugriff der Erben entzogen worden waren, in etwa genauso effizient wieder in den Wirtschaftskreislauf zurück wie heute die Steuergelder über den Staat.
Ein Gott als Monopolist
Das Ergebnis waren in der Tat nahezu »paradiesische Zustände«: eine über Jahrtausende stabile, träge, auf sich fixierte Gesellschaft, in der nichts passiert, sich nichts bewegt, die Zeit stillzustehen scheint.
Dynamische Elemente, wie sie etwa ein freies Unternehmertum hervorbringen hätte können, gab es nicht. Bei den Ägyptern gehörte praktisch die gesamte Wirtschaft dem Pharao, also Gott. Wie alle Lebensbereiche war auch sie prinzipiell auf das Ziel gerichtet, dem Pharao zu dienen und auf diese Weise die Verbindung zwischen der Sphäre der Götter und der Welt der Menschen zu ermöglichen. Dem Staat unterstanden der Außenhandel, die Bergwerke, große Teile der Produktion und des Bauwesens. Auch die Lohngestaltung entsprach durchaus dem, was im realen Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts üblich war: eine Rundumversorgung mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Werkzeugen, und dazu eine Art Einheitslohn, um sonstige private Gelüste zu befriedigen. Um 1000 vor Christus bekam ein ägyptischer Arbeiter 1,5 Sack Gerste und vier Sack der Weizenart Emmer pro Monat – ein Schreiber oder ein Vorarbeiter brachten es auf zwei Sack Gerste und 5,5 Sack Emmer.
Es gab zwar Kaufleute, aber sie waren keine Unternehmer, sondern Angestellte des Staates oder eines Tempels. »Reiche Leute zogen Nutzen aus dem Handel, betrachteten ihn aber nicht als Beruf«, schreibt der britische Ägyptologe Barry Kemp. »Die Vorstellung, dass solche Aktivitäten Reichtum und gesellschaftliches Ansehen begründen könnten, war buchstäblich undenkbar für alle, die davon betroffen waren.«
»Mache deine Beamten reich«
Und wer waren dann die reichen Leute im alten Ägypten? Entsprechend den Mitgliedern der Nomenklatura im Sozialismus des 20. Jahrhunderts – die hohen Würdenträger der staatlich-religiösen Bürokratie. Als offizielle Begründung dafür diente das Vorbeugen gegen Korruption, wie sich den Ratschlägen eines Pharaos an seinen Nachfolger entnehmen lässt: »Mache deine Beamten reich, damit sie deine Gesetze ausführen. Denn einer, der in seinem Haushalt reich ist, braucht nicht parteiisch zu sein, denn ein Besitzender ist einer, der keine Not leidet. Einer, der ›Ach, hätte ich doch‹ sagt, ist nicht rechtschaffen. Er ist parteiisch gegenüber demjenigen, den er vorzieht, und er neigt sich dem Herrn seiner Bestechung zu.«
Im Großen funktionierte dieses System: Keiner der ägyptischen Beamten kam jemals auch nur annähernd an den Pharao heran, was seine Reichtümer betraf. Aber ganz ohne Übergriffe auf das Gottes- beziehungsweise Volkseigentum ging es auch in Ägypten nicht ab, wie die Wirtschaftspublizistin Judith Mathes berichtet. Sie zitiert aus der Aussage des Tempelgärtners Kar, der um 1100 vor Christus zugab, die vergoldeten Türpfosten eines Tempels um ein paar Gramm Gold erleichtert zu haben – und damit die Begehrlichkeiten seiner Vorgesetzten weckte: »Einige Tage später zankte Paminu, unser Chef, mit uns, indem er sagte: ›Ihr habt mir nichts gegeben.‹ Also gingen wir noch einmal zu den Türpfosten und entfernten 5 Kite Gold von ihnen. Wir tauschten es gegen einen Ochsen und gaben ihn Paminu. Nun hörte aber der Schreiber der Königlichen Archive Sethmose ein Gerücht davon und drohte uns, indem er sagte: ›Ich werde es dem Hohenpriester des Gottes Amun berichten.‹ Also nahmen wir 3 kite Gold und gaben es dem Schreiber der Königlichen Archive Sethmose. «
Aber das sind nun wirklich Kleinigkeiten. Breiten wir deshalb für diesmal den Mantel des Schweigens über die alten Ägypter. Ihre Lebens- und Umweltbedingungen waren gleichzeitig so außerordentlich und so langweilig, dass der Wunsch, reich, reicher, am reichsten zu werden, dort keine Chance hatte.
Dafür begegnet uns die ägyptische Situation wieder und wieder in der Literatur: als ideale Voraussetzung für ideale Staaten wie Thomas Morus’ Utopia. »Habsucht und Raubgier stammt bei allen Lebewesen aus der Angst vor der Entbehrung«, doziert Morus, also muss man ein Gemeinwesen nur so konstruieren, dass niemand mehr Angst vor Entbehrung zu haben braucht, und die Habsucht verschwindet – natürlich unter der Voraussetzung, dass die benachbarten und die weiter entfernten Gemeinwesen diese Konstruktion auch garantiert respektieren. In Utopia lässt es sich nämlich nur deshalb so sorglos und friedfertig leben, weil kein Cäsar den Weg dorthin findet. Den Weg nach Ägypten fand er, und aus dem ältesten Reich der Welt wurde eine römische Provinz.
Das hervorstechende Merkmal eines solchen staatlichen Paradieses ist also das Fehlen eines äußeren Feindes. Das ist, wie wir noch sehen werden, auch ein auffallendes Merkmal der meisten Unternehmen, die den Dagoberts aller Zeiten den Weg zum fabelhaften Reichtum bahnten. Ins Betriebswirtschaftliche übersetzt heißt »keine äußeren Feinde« nämlich »keine Konkurrenz« oder schlicht »Monopol«. So gesehen fließt der Nil noch heute durch so manche Vorstandsetage in aller Welt.