Читать книгу Containerprinz - Dia Klee - Страница 11

Dylans Geschichte

Оглавление

Ich wurde in einem kleinen Ort in Sambia geboren, Kasama. Mein Vater war Schweißer, und er arbeitete dort in einem kleinen Betrieb. Er und meine Mutter und seine beiden Töchter lebten dort mit mir in einem Wohnwagen, bis ich zwei war. Dann zogen sie von dort weg in die Stadt, nach Lusaka. Den Wohnwagen nahmen sie mit, wir haben noch ein paar Jahre drin gewohnt, bevor Mutter darin einen Kiosk betrieb. Dort, in der Hauptstadt, kam ich später zur Schule. Vorher bekam ich noch einen Bruder, Dickson, und eine Schwester, die sie Nina nannten. Ich war also das mittlere Kind von fünfen, aber der älteste Sohn.

Meine Eltern stammten aus zwei völlig verschiedenen Stämmen, nämlich Vater indirekt aus dem alten Volk der Yoruba. Ich sage indirekt, denn die Yoruba leben eigentlich nicht in Sambia, sie leben im ganzen Westafrikanischen Bereich – Nigeria, Elfenbeinküste, auch Kongo – und sie sind das größte und wohl älteste noch bestehende Volk Afrikas, das alle Sklavenverschleppung und Kolonialzeiten überdauert hat. Es ist wichtig, das zu wissen. Also, die Mutter meines Vaters hatte im Kongo einen belgischen Offizier geheiratet, daher auch unser französisch-stämmiger Familienname, Dufoi. Die Weißen wurden zwar gehasst, aber meist sorgten sie für Wohlstand. Aus dieser Ehe stammte neben sieben Geschwistern mein Vater. Er war also Mischling.

Ich weiß nicht, wie sie nach Kasama gekommen waren und warum. Sie wanderten auf den alten Wegen, auf denen seit vielen Jahrhunderten oder Jahrtausenden die afrikanischen Völker von Norden nach Süden zogen. Ich glaube, der Belgier wollte vom Militär weg. Damals sind viele belgische Soldaten geflohen, denn die Belgier haben im Kongo ein riesiges Blutbad angerichtet und waren verhasst. Diese desertierten Soldaten haben ihre Uniformen verbrannt, sowie sie irgendwelche Fetzen zum Anziehen hatten. Auch ihre Ausweise haben sie verbrannt, denn hätte man sie als Belgier erkannt, so wären sie von der schwarzen Bevölkerung gelyncht worden.

Jedenfalls, mein Vater wuchs auf in der sambischen Provinz Kasama, und dort lernte er dann meine Mutter kennen. Deren Mutter stammte von den Bemba ab, die im Norden Sambias lebten. Aber Mutter war das uneheliche Kind von einem Briten. Sie hat nie ihren Vater kennen gelernt. Die Briten waren die Kolonialherren und machten, was sie wollten in Sambia. Oft gingen sie weg, nachdem sie mit einer einheimischen Frau zusammen waren, und wussten noch nicht mal, dass sie ein Kind bekam. Also waren mein Vater und meine Mutter beide Mischlinge, aber Mutter war trotzdem ganz dunkelhäutig. Bevor mein Vater meine Mutter traf, war er schon einmal verheiratet, aber seine erste Frau starb, als sie das zweite Kind zur Welt brachte, Doreen, meine Halbschwester. Das erste Kind war Molly, meine älteste (Halb-)

Schwester.

Also, mein Vater brauchte dringend eine neue Frau, weil er zwei kleine Kinder hatte. Und meine Mutter war ja sehr sehr arm, weil sie keinen Vater hatte. Als sie diesen Mann traf, der ihr Mann werden sollte, war sie erst 16, er war schon Ende 20. Genau weiß man es nicht, Mum hat immer behauptet, sie sei 17 gewesen, Großmutter sagte, nein, 16. Sie war ja im Bush geboren worden, und da gab es damals keine Geburtsurkunde oder sowas. Vater brauchte nicht lange um sie zu werben und auch keine großen Hochzeitsgeschenke zu machen. Ihre Familie war froh, dass sie versorgt war. Sie konnten ihr auch nichts mit in die Ehe geben, keine Rinder, keine Ziegen, aber es ging auch so.

Später zog auch meine Großmutter mit zu uns nach Lusaka, die war noch sehr jung. Als ich sie kennenlernte, mit neun, war sie Ende 30, jünger als Doreen jetzt. In Afrika werden viele Frauen sehr jung Mutter. Sie bekam dann irgendwann mit einem neuen Mann noch ein Kind, nämlich Jeremy, meinen zwölf Jahre jüngeren Onkel. Auch einige Geschwister meines Vaters kamen nach Lusaka, als wir dort lebten.

Das alles hat Mutter mir später erzählt, oder auch Molly und Doreen.

In Lusaka hatte unsere Familie nun eine gute Zeit, als ich noch klein war. Alles war normal, wir gingen zur Schule, Vater und Mutter gingen zur Arbeit. Wir bekamen dann ein Haus in Thorn Park, das ist ein Stadtteil von Lusaka. Eigentlich war es ein Getto. Die Briten hatten diese Siedlung für ihre Mischlinge gebaut, die sie hinterlassen haben. Als wir kamen, lebten aber auch andere Sambianer dort. Thorn Park besteht aus lauter kleinen Häusern mit Garten drum herum, um was anzupflanzen. Du hast es ja gesehen, Mum lebt noch da, und ich jetzt wieder. Ich glaube, ich habe mich damals oft mit Dickie gekloppt, er war zwei Jahre jünger als ich und ein großer Dickkopf. Aber ich weiß aus der Zeit fast nichts mehr.

Meine Geschichte fängt an, als mein Vater starb. Das war, als ich acht Jahre alt war. Dickson war sechs. Bis dahin war ich einfach ein normales Kind gewesen, ein bisschen ungezogen und frech vielleicht, aber sicher nicht dumm. Und ich brachte immer gute Noten von der Schule mit nach Hause, so dass mein Vater und meine Mutter stolz auf mich sein konnten. Dann verließ er uns. Er starb mit 51 Jahren, an Krebs – Magenkrebs. Er war ein starker Trinker gewesen. Es war für mich furchtbar schmerzvoll, denn ich liebte ihn sehr. Zwar kannte ich ihn kaum, weil er immer sehr viel arbeiten musste. Aber wenn er abends spät nach Hause kam und ich und mein Bruder schon schliefen, kam er zu uns ans Bett, und er nahm uns in seine Arme und küsste uns im Schlaf, er liebte seine beiden Söhne so sehr. Ich erinnere mich daran, weil ich im Halbschlaf merkte, wie mich sein Bart im Gesicht stachelte, denn er rasierte sich selten. Ich sah ihn auf seinem Sterbebett, und das werde ich niemals vergessen können, solange ich lebe. Oft muss ich daran denken.

An jenem Tag, als ich ihn zum letzten Mal sah, kam der Krankenwagen zu unserem Haus. Er war schon sehr krank, sein Bauch war geschwollen vom Krebs. Er war operiert worden, aber die Operation hatte nichts genützt, der Krebs war weiter gewachsen. Eine Flüssigkeit kam aus seinem aufgequollenen Bauch. Mutter wusch ihn jeden Tag. Als sie ihn abholten, war es schon dunkel, und ich hatte das komische Gefühl, ich sähe ihn zum letzten Mal. Und es war das letzte Mal. In dem Krankenhaus, wo sie ihn hingebracht hatten, blieb er noch eine Woche. Danach starb er.

An dem Abend, als er gestorben war, kam unser Priester zu uns und klopfte ans Fenster meiner Mutter. Es muss gegen Mitternacht gewesen sein, sie schaute hinaus und war überrascht, ihn um diese Zeit zu sehen. Er war den weiten Weg vom Krankenhaus zu Fuß gekommen. Sie machte ihm die Tür auf mit einer bangen Ahnung, und dann sagte er es ihr. „Es tut mir leid“, sagte er, „Ihr Mann ist heute dahingegangen!“

Ich schlief zu der Zeit, aber meine Mutter erzählte mir später alles genau: Wie der Priester gekommen war, ans Fenster klopfte und ihr alles sagte … Auf einmal wachte ich auf und hörte die ganze Familie laut weinen – Mutter, Großmutter und meine älteren Schwestern – und ich wusste nicht, was los war. Ich stand auf und fragte, Mum, was ist denn, und da sagte sie mir, Vater ist tot! Ich wusste nicht, ob ich auch weinen sollte oder was – es war solch ein Schock! Ich stand da, und die Gedanken rasten durch meinen Kopf. Es schien wie ein böser Traum. Ich war ja noch ein kleiner Junge, und es gab so vieles, was ich nicht verstand. Mutter, Großmutter und meine Schwestern, Doreen und Molly, weinten die ganze Nacht bis zum Morgen. Ich muss wieder geschlafen haben, aber als ich dann aufwachte, fühlte ich mit voller Wucht, was das hieß: er war tot! Ich wusste zwar nicht, was „tot“ eigentlich war, aber als er nicht mehr nach Hause kam, merkte ich, dass er für immer weg war. Und ich hatte soviel Trauer in mir, er fehlte mir so sehr, dass ich es heute noch spüre.

Dann wurde er beerdigt, aber ich wollte nicht mitgehen, ich fürchtete mich. Ich kletterte auf den hohen Baobab-Baum beim Haus und versteckte mich im Laub. Von dort aus sah ich in den offenen Lkw hinunter, auf dem der Sarg stand. Alle Nachbarn, Freunde und Familienmitglieder standen dicht an dicht auf der Ladefläche drum herum und sangen das Totenlied, während der Lastwagen langsam mit allen wegfuhr. Ich war allein geblieben auf der Welt.

Niemand bemerkte mein Fehlen. Meine Mutter hatte den Kopf so voll, sie war ja jetzt allein mit fünf Kindern, und sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Ich danke aber Gott dafür, dass ich eine solch starke Mutter hatte, die uns durchbrachte, die immer für uns sorgte. Wir waren jetzt wirklich arm. Aber sie kämpfte für uns mit Zähnen und Klauen. Sie stellte den Wohnwagen, in dem wir früher gewohnt hatten, an die Ecke von zwei Hauptstraßen in Lusaka und verkaufte da Getränke, kleine Snacks und Süßigkeiten an die Passanten. Wir Kinder mussten ihr dabei helfen, wenn wir frei hatten. Unsere jüngste Schwester war erst drei, auf sie musste eine der älteren aufpassen, wenn sie von der Schule kamen.

Aber erst einmal gingen wir weiter zur Schule. Meine beiden älteren Schwestern bekamen eine sehr gute Ausbildung, auch mein kleiner Bruder und meine jüngste Schwester. Dickie bekam nach der Schule eine Ausbildung bei einem ausgezeichneten Drummer. Er war immer musikalisch gewesen und trommelte schon als Kind auf Kochtöpfen und Stühlen herum. Er wusste, was er wollte.

An Dylan, 1. November

Deine beiden Briefe habe ich erhalten, auch den Anfang Deiner Geschichte. Ich finde sie sehr interessant und danke Dir für Dein Vertrauen. Dass Du Deine Geschichte aufschreibst, ist eine gute Idee, glaube ich. Vielleicht kommst Du dabei auch auf Dinge, die Du heute anders machen würdest? Ich schlage Dir vor, die Geschichte unter diesem Gesichtspunkt zu schreiben. Denn wenn Du Dir nicht im Klaren bist, was schief gelaufen ist in Deinem Leben – besonders, seit Du in Deutschland warst – wird es immer wieder so gehen. Wieder nach Europa zu kommen hat nur Sinn, wenn Du weißt, was Du willst, und was Du an Dir ändern willst. Wenn Du mich davon überzeugen kannst, werde ich Dich unterstützen. Ich weiß, das ist keine leichte Aufgabe, die ich Dir stelle, aber sie wird Dir nützen.

Ja, es stimmt, Berna hat sehr geklagt über Dich. Ich persönlich denke, dass Ihr sicher beide an der Sache beteiligt wart. Also schicke mir gern den Rest Deiner Geschichte zu, ich bin gespannt.

Bis dann, Nele.

P.S.

Versöhnung mit Dick ist für mich ausgeschlossen.

Containerprinz

Подняться наверх