Читать книгу Candhun - Diana Klewinghaus - Страница 10

Оглавление

3. Anzeichen


Am späten Vormittag erreichte sie das Anwesen. Ihre langen, dunklen Haare hingen ungekämmt herab. Im Saum des Kleides hatten sich lose Blätter verfangen, Erdkrümel bildeten einen braunen Farbverlauf von der belaubten Kante an aufwärts heller werdend. Sie glaubte gar, leicht zu hinken, um das verletzte Knie zu entlasten.

Durch dieselbe Tür, durch die sie es verlassen hatte, betrat Ella das Haus. Gerade wollte sie eine Hand auf das Treppengeländer legen, als eine strenge Männerstimme ihren Namen rief. Das konnte nur Grent sein. In Ella keimte sofort eine Mischung aus Abneigung und Ekel auf. Sie drehte sich in Richtung des Arbeitszimmers und bemerkte erst jetzt die geöffnete Tür. Grent füllte mit seiner üppigen Statur komplett den Türrahmen aus, in dem er lehnte. Er taxierte sie mit einer hochgezogenen Augenbraue.

»Geht es dir gut?«, war seine höfliche Frage, doch es gelang ihm nicht, den höhnischen Tonfall zu unterdrücken, den ihr Anblick in ihm ausgelöst hatte. Ohne eine Antwort zu erwarten, fügte er an: »Wir haben Gäste.« Das letzte Wort betonte er derart affektiert, dass sie ein Lachen zurückhalten musste. Seine Miene verfinsterte sich. »Dir ist klar, in was für einem Haus du dich bewegst? Ich dachte, Ragin wäre in der Lage gewesen, dieses provinzielle Verhalten bei dir zu kurieren.«

Eine Hand glitt in die Westentasche und förderte eine aufwendig verzierte Uhr zutage. Mit einem demonstrativen Blick darauf fügte er an: »Wir erwarten dich zum Mittagessen, und zwar mit einem angemessenen Erscheinungsbild. Achte bitte darauf, dass deine Manieren dazu passen.« Er fuhr sich durch die Haare; eine einst braune Lockenmähne, die nun grau meliert und Stirn aussparend seinen runden Kopf noch runder wirken ließ. Er wartete nicht auf eine Antwort. Dieser arrogante Aristokrat! Sie fühlte Wut in sich hochkochen und spielte kurz mit dem Gedanken, nackt zum Essen zu erscheinen.


Zur vorgegebenen Zeit begab sich Ella auf den Weg nach unten. Sie trug einen langen dunkelroten Rock, der mit cremefarbener Spitze abgesetzt war. Er schwang bei jedem Schritt mit, um auf schmeichelhafte Weise ihre Figur zu präsentieren. Das passende Oberteil zeigte viel Figur und mindestens ebenso viel Haut. Augenscheinlich hatte sie damit auch Grents Geschmack getroffen, momentan war ihr das jedoch gleich. Wegen der Hitze, die inzwischen in jedem Winkel des Hauses hing, entschied sie sich außerdem für eine Hochsteckfrisur.

Das Mittagessen bestand aus einem opulenten Buffet, das auf der Terrasse aufgebaut war. Diese schloss auf der Rückseite des Hauses an den großen Salon an, der in der Mitte des Haupthauses lag.

Alle drei Flügeltüren standen offen, luden die Mittagshitze auffordernd in den Wohnraum ein. Auf diese Art erklärten sich die klimatischen Bedingungen des Hausinneren.

Ella konnte auf der Terrasse eine Tafel erkennen, die für mehr als zehn Personen gedeckt war. Einige standen in Grüppchen vor dem Buffet zusammen und plauderten angeregt. Desinteressiert betrachtete sie die Szenerie. Das Prozedere sah seit etwa einer Woche gleich aus. Grent beherbergte einige Gäste, die politische Ämter innehatten. Welche – konnte und wollte Ella sich nicht merken. Die Plünderungen im Grenzland erklärten dieses Zusammentreffen. Wenigstens bedeutete die Ankunft des cáelánischen Diplomaten, nicht mehr an die Abendessen mit Grent und Ragin gebunden zu sein. Da jeden Abend eine Versammlung stattfinden würde, beschränkten sich Ellas gesellschaftliche Verpflichtungen auf das Mittagessen. Ein Umstand, der ihr durchaus entgegenkam.

Ella lief zu Ragin in den hinteren Teil der gefliesten Fläche. Seiner Blickrichtung in den Garten folgend, sah sie Grent, der mit den zwei neuen Gästen die Treppe zu ihnen heraufschritt.

Der ältere der beiden Männer, den Ella für den Botschafter hielt, geriet zuerst in ihr Sichtfeld. Er hatte sein dunkelgraues Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Seine ebenfalls dunkelgrauen Augen musterten anerkennend Ellas weibliche Rundungen. Sie musterte zurück. Dabei registrierte sie erstaunt die Hinfälligkeit ihrer Hypothese vom Vorabend. Beide Männer gefielen ihr auf Anhieb. Sympathisch erschien ihr nicht zuletzt die leichte Oberbekleidung - nur Hemden. Die meisten Durier trugen selbst bei dieser Hitze eine Weste darüber, des Anstands wegen.

Der Graue wurde ihr von Grent als Vanadis vorgestellt, wie sie vermutet hatte, war er der Botschafter. Um keine Zurechtweisung von dem selbstherrlichen Hausherren zu provozieren, hatte sie anfangs ein manierliches Lächeln aufgesetzt. Nun wertete es sich zu offener Freundlichkeit auf. Gespannt schwenkte Ella ihren Blick die Stufen hinunter. Der Jüngere hatte es offenbar nicht eilig den Förmlichkeiten nachzukommen. Ob ihm die angenehme Stimme gehörte, die gestern am Fenster ihre Fantasie derart herausgefordert hatte?

Auf Terrassenhöhe angekommen, überragte er den Botschafter etwa um einen halben Kopf und damit Ella um einen ganzen.

Der Anblick seiner überaus anregenden Gestalt fesselte ihre Augen einen Lidschlag zu lange. Unter dem feinen Leinenhemd machte sie mühelos seine Muskelpartien aus. Sie zwang sich, ihren Kopf etwas zu heben. Das helle Beige des Kleidungsstücks verstärkte die Auffälligkeit seiner Hautfarbe. Ungewöhnlich dunkel für einen Cáelánen, viel zu hell für ein sambrisches Elternteil. Dunkelbraune, fast schwarze Haare wurden auf der einen Seite, etwas unterhalb des Seitenscheitels, durch am Kopf entlang gebundene Zöpfe im Zaum gehalten. Auf der anderen Seite fielen sie ungebändigt bis auf die breiten Schultern. Lange Haare und geflochtene Zöpfe – beide Männer trugen für Duria vollkommen unmögliche Frisuren, dachte sie.

»Llew Scánlón, er begleitet den Botschafter im Auftrag der Nord-Areale«, schloss Grent seine Ausführungen und entriss damit Ella ihrer ungezwungenen Betrachtung.

»Oh, ich bin entzückt!« Kurz zögerte sie, verärgert ob ihrer Wortwahl. Sie versuchte, dem nächsten Satz deutlich weniger durische Hoffart zu geben. »Schön, hier mal jemanden aus dem Norden kennenzulernen!«

Diese Bemerkung meinte sie ehrlich. Doch die Bewohner der Nord-Areale galten in Duria als unzivilisiert. In Grents Gesellschaft würde ihr überschwänglicher Ausruf als durische Herablassung aufgefasst werden.

Llew hob leicht die Brauen, entgegnete dann mit tadelloser Höflichkeit etwas Floskelhaftes. In seinen Mundwinkeln, meinte Ella, eine Belustigung zu erkennen. Sie stöhnte innerlich auf, während ein heißes Glühen unaufhaltsam ihre Wangen überzog. Fabelhafter erster Eindruck, dachte sie. Grent witterte eine Gelegenheit.

»Ella Weißbach. Ragin Weißbachs Mündel. Die Studien ihrer staubigen Bücher sind ihr einziges Fenster in die Welt.« Zu Ella gewandt fügte er mit hochgradiger Herablassung hinzu:

»Es handelt sich bei diesen Herren nicht um deine ungezügelten Barbaren, sondern um ehrenwerte Botschafter der Nord-Areale.«

Ellas aufkeimender Ärger verstärkte die aufsässige Röte ihrer Haut und wanderte hinab bis zu ihren Brüsten. Wie konnte Grent ihr nur in den Mund legen, was in Wirklichkeit er dachte.

Mit einem unverhohlenen Blick in ihren Ausschnitt meinte Grent: »Für alle die jetzt Appetit bekommen haben, ich würde sagen, das Buffet ist eröffnet.«

Ellas Hunger, der sich nach dem morgendlichen Ausflug ständig gesteigert hatte, ließ schlagartig nach. Die Männer gingen zur Tafel hinüber, ohne sie weiter zu beachten. Sie hätte doch nackt herkommen sollen. An ihrem derzeitigen Gefühl der Scham hätte das jedenfalls nichts geändert.


Ella stocherte angespannt auf ihrem Teller herum. Die meisten von Grents Kostgängern gehörten seiner eigenen hochtönenden Sorte an, die Ella weder stimmlich noch charakterlich attraktiv erschien. Llews wunderbarer Bass unterwanderte diesen Zusammenhang. Seine klangvolle Stimme scherzte mit Grents Schwiegersohn über einen Zentralratsbeschluss, von dem beide nicht viel hielten und von dem Ella noch nie etwas gehört hatte. Ein hintergründiges Timbre entsandte dabei seine Schwingungen in Ellas Magengegend. Obwohl sie durch ihren Ausflug das Frühstück ausgelassen hatte, brachte sie keinen Bissen mehr herunter. Sie konnte nicht anders als hinsehen, wie die meisten anwesenden Frauen, das nagte zusätzlich an ihrem Selbstbild.

Sie hatte Mühe, es einzugestehen, bei diesem Mann entsprach ihr Schönheitsempfinden dem der Allgemeinheit. Hinzu kam, er sah sie nicht an, nicht einmal zufällig. Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte sie, über die politischen Vorgänge in ihrem Land kaum informiert zu sein. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was er von ihr dachte. Schließlich beschloss sie resigniert, Grent zu bitten, die Tafel verlassen zu dürfen. Ein gönnerhaftes Lächeln seinerseits gab ihr die erhoffte Einwilligung.

Die Ereignisse bei Tisch waren am Nachmittag etwas in den Hintergrund gerückt. In der Küche fand Ella ihren Appetit wieder. Dieser begegnete ihr, auffällig platziert als großes Stück Apfelkuchen. Nachdem sie ihr Grundbedürfnis befriedigt hatte, verbannte Ella die jüngsten Erfahrungen rigoros aus ihrer Gedankenwelt, um sich nicht in muskelbepackter, klangvoller Ablenkung zu verlieren.


Abends hatte sie einige Entscheidungen getroffen, die ihr Leben betrafen und ihre Entdeckung vom Vormittag. Sie wollte damit beginnen die Mauern einzureißen, die sie errichtet hatte, um ihre Begabung zu unterdrücken. Von jetzt an wollte sie alle drei Tage daran arbeiten, da sie nicht erwartete, ein einziges Ritual würde ausreichen. Wichtig war, ihre Gabe kennenzulernen und gleichzeitig dafür zu sorgen, sie nur einzusetzen, ohne dass jemand es bemerkte. Ella hatte zwar Angst vor der Strafe, die in Duria auf unerlaubtes Ausüben der Gabe stand, mehr noch fürchtete sie, wie diese sie selbst verändern würde. Sie musste behutsam vorgehen.

Das Haus von Grent war der ungeeignetste Ort, den sie sich aussuchen konnte, die alte Religion zu praktizieren. Warum hatte sie nicht in den Jahren im Konvent den Mut dafür aufgebracht? Wenn sie hier jemand erwischte, würde der Zentrale Rat ohne Zögern davon in Kenntnis gesetzt werden. Doch der Wunsch, endlich zu sich selbst zu stehen, war in den letzten Wochen zu einem ausgereiften Entschluss herangewachsen, der die Furcht davor, verraten zu werden, verdrängte. Ihre gesamte Zukunft ohne Aussicht auf eine ehrliche Verbundenheit mit dem Land und den Leuten, mit denen sie lebte, war die schlimmere Alternative. Vielleicht hatte auch das Anschwellen der Unruhen im Grenzland ihr Bestreben ausgelöst.

Ella war auf dieser Seite der Grenze niemals heimisch geworden. Wut und Enttäuschung des verletzten Kindes in ihr, das von ihren Eltern zu ihrem durischen Onkel abgeschoben worden war, hatten sie davon abgehalten, sich einzugestehen, wie sehr sie sich zurücksehnte.

Sie saß an einem Tisch, der die Ecke zwischen den beiden Fenstern in ihrem Zimmer mit seiner prunkvollen Ausarbeitung schmückte. Gelbes Eibenholz, eine ausgesprochene Rarität im Süden der Insel Cândhûn, deren gesamter Südwesten durischem Hoheitsgebiet unterlag. Ella hatte ihre Tage in dem Konvent, in dem sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte, oft mit Zeichnen gefüllt. Es half ihr, Gedanken und Gefühle zu verarbeiten, da es selten Menschen in ihrer Nähe gab, mit denen sie über Persönliches reden wollte. Gereizt zerknüllte sie das Blatt, auf dem sie sich selbst an dem Tisch sitzend verewigt hatte und warf den entstanden Papierball in den Kamin. Sollte er als Zunder dienen, sobald die Tage kühler wurden.

Grents Bemerkung, von der sie überzeugt war, die peinlichste Situation in ihrem gesamten Dasein hervorgerufen zu haben, hatte ein Körnchen Wahrheit zu ihr getragen: Sie wusste nicht das Geringste über den Widerstand gegen den Zentralen Rat, nichts über die Menschen im Norden oder die Lage im Grenzgebiet, das nicht aus einem der durischen Bücher stammte. Die Vorstellung von Menschen, die sich offen gegen die Ungerechtigkeiten des Rates auflehnten, wie die Cáelánen im Norden, ihrer ursprünglichen Heimat, löste eine tiefe Bewunderung für deren Unerschrockenheit in ihr aus. All das waren verklärte Gedanken einer jungen Frau, die ihre Lebenszeit in einer Einrichtung für reiche durische Töchter verbracht hatte. Das musste sich ändern, oder sie würde den Respekt vor sich selbst verlieren und vollends zu diesem Ding werden, das Grents Behandlung und ihr Onkel aus ihr machten.

Ein prüfender Blick aus dem Fenster bestätigte, die Sonne glomm tiefrot, knapp über dem Horizont. Sie zog Kamm und Klammern aus dem Haar und kämmte es gedankenverloren mit den Fingern durch. Grent und Ragin befanden sich auf der Versammlung, die im Südwest-Flügel stattfand und vermutlich bis in die Morgenstunden dauern würde. Die meisten Angestellten hatten dort ebenfalls zu tun.

Ella griff die vorbereitete Tasche und verließ das Zimmer, um in einen entlegenen Teil des Gartens zu gehen, wo sie ungestört sein würde. Das Gelände war weitläufig, dort würde ihr niemand begegnen. Bis sie nicht im vollen Besitz ihrer Gabe war, wollte sie den Ritualplatz, den sie morgens im Wald gefunden hatte, nicht nutzen. Das Gefühl, das sie inmitten dieses seltsam anmutenden Sees überkommen hatte, schien ihr deutlich mächtiger als sonst, wenn ihre Gabe versucht hatte, einen Weg an die Oberfläche zu bahnen. Sie schrieb das dem Ort und seinen mystischen Kräften zu. Er musste etwas Besonderes sein. In ihrem Innern tauchten seit der Entdeckung immer wieder Fantasien auf: Wie und wofür mochten die Priester diesen Platz vor dem Putsch genutzt haben?

Sie lief unterhalb der Terrasse entlang. Eine Gestalt riss Ella aus ihren Gedanken und ihre gesamte Aufmerksamkeit an sich. Es war Llew, der schlendernd im Dämmerlicht aus der Gegenrichtung auf sie zu kam und sie ebenfalls bemerkt hatte. Ella fühlte sich verunsichert. Ungünstig, hier gesehen zu werden. Bei ihrem Vorhaben wäre sie lieber unentdeckt geblieben. Langsam lief sie weiter.

»Guten Abend, Ella«, begrüßte er sie mit dieser unglaublich tiefen, weichen Stimme, nicht mehr weit von ihr entfernt.

»Du weißt meinen Namen noch«, entgegnete sie verblüfft und mit einer ungeplanten Portion Sarkasmus im Tonfall. Während sie sprach, stieg ihr der Ärger über ihre Reaktion erneut als peinliche Röte in die Wangen.

»Nun, das hat selbst den Barbaren nicht überfordert, El-la.«

Sie legte den Kopf leicht schief, doch verwarf die Spitzfindigkeit, die ihr auf der Zunge tanzte. Stattdessen drängte der eine Satz, der sie den Tag über innerlich begleitete, nach außen: »Du hast heute Mittag wahrscheinlich ein ganz falsches Bild von mir bekommen.« Sofort nachdem sie es ausgesprochen hatte, erkannte sie ihren Fehler.

»Nein, das glaube ich nicht.«

Aufgrund der Dunkelheit blieb Llews Mimik schwer zu deuten, seine Belustigung war diesmal unüberhörbar. Er hielt direkt vor ihr an und musterte sie übertrieben.

»Dasselbe Bild wie heute Mittag. Bleibt ja nicht viel Platz für Spekulationen, hm?«

Das reichte ihr, auf ein derartiges Gespräch konnte sie verzichten.

»Freut mich, zum Amüsement des werten Barbaren beigetragen zu haben«, Ella wollte es gleichmütig sagen, klang jedoch merklich verärgert. Sie drängte an ihm vorbei und setzte ihren Weg fort. Es gelang ihr, sich nicht umzudrehen, obwohl sie zu gern gewusst hätte, wo er hin wollte. Er musste aus Richtung des Versammlungsraumes gekommen sein und die Versammlung konnte erst kürzlich begonnen haben.

Im ungenutzten Teil des Gartens angekommen, suchte sie einen Platz hinter einer hohen Hecke aus Weißbuchen. Nachdem sie eine Weile misstrauisch in die Dunkelheit gelauscht hatte, brachte sie etwas Kohle in einer kleinen Tonschale zum Glühen und verbrannte eine Mischung aus getrockneten Kräutern, die sie für diesen Anlass ausgesucht hatte. Um die Schale herum verteilte sie einige Kristalle.

Sie nahm eine angenehme Sitzposition ein und begann mit der Meditation. Zur Einstimmung sang sie leise ein Lied, das ihr als Kind für ein Schutzritual beigebracht worden war. Nach mehreren Wiederholungen gelang es ihr, sich zu entspannen. Die Sinneseindrücke der Außenwelt verschwammen und sie konnte ihren Blick in ihr Inneres hinab gleiten lassen. Dort visualisierte sie die Barriere, die ihre Gabe abschirmte als hohe, steinerne Mauer. Eine seltsame Angst überkam Ella. Während sie die Steine betrachtete, war ihr, als könne ihre Gabe sie nach all den Jahren zurückweisen. Die Erinnerungen daran, wie sie in der Kindheit ihr Talent genutzt hatte, halfen ihr schließlich, sich darauf zu konzentrieren, was hinter der Barriere lag. Symbolisch trug sie die erste Reihe der steinernen Schicht ab. Sofort floss ihre Gabe wie Wasser über einen Damm in ihr Bewusstsein. Ella gab sich ihr augenblicklich hin. Wellen von Sinneseindrücken brandeten über sie hinweg, verwoben mit einer Flut verwirrender Bilder.

Seit Ella die innere Barriere errichtet hatte, fühlte sie sich wie in Ungewissheit getaucht. Schlimmer noch, da sie ein Stück ihres Selbst verleugnete, traute sie ihrer Wahrnehmung oft nicht und war verunsichert, wenn sie jemand Fremdes einschätzte. Dort im Dunkeln, in der hintersten Gartenecke, in der sie sich jetzt aufhielt, um das fehlende Stück Selbst zurückzuholen, versuchte sie, mit aller Macht das Gewirr zu entzerren, das ihr entgegen prasselte. Ein leises, kaum wahrnehmbares Surren lag unter dem seltsamen Gemurmel, das sie umgab. Oder waren es Schreie? Sie roch Rauch, ordnete ihn zuerst der glühenden Kohle und den Kräutern zu. Das helle Flackern vor ihrem inneren Auge explodierte zu einem lodernden Feuer. Es musste eine richtige Vision sein. Sie wollte ihre Wahrnehmung auf die logische Abfolge der aufblitzenden Bilder richten, als sie erschrocken bemerkte, wie der imaginäre Lichtstrom bereits durch die Mauerfugen drängte.

Ella befürchtete, die natürlichen Schranken, die Anderswelt und Realität trennten, könnten durch eine allzu stürmische Wiedervereinigung mit ihrer Gabe in Mitleidenschaft gezogen werden. Daher entzog sie sich der Trance wieder Stück für Stück. Eine Stimme in ihr flehte sie an, es nicht zu tun, die Vision anzusehen. Ella gab ihr nicht nach, zu viel Respekt hatten ihre Eltern ihr als Kind vor ihrer Gabe beigebracht. Sie war zu ungeübt darin, Vision und Anderswelt voneinander zu unterscheiden. Wenn sie ihre Augen nach innen richtete, konnte ihr beides entgegenblicken. Zumindest glaubte sie das.

Den wichtigsten Weg, den eine Seherin gehen konnte, den Pfad in die Anderswelt, hatte sie in ihrem Leben noch niemals beschritten. Und vermutlich wäre das selbst bei einer politischen Entspannung nicht einfach für sie gewesen. Todesstrafe hin oder her. Visionen hatte sie als Kind einige Male gehabt. Ob die Gabe in ihr stark genug war, die Geisterwelt betreten zu können, wusste sie nicht. Ein guter Grund, sich Zeit damit zu lassen. Wenn sie Vision oder Geisterwelt von ihrer eigenen nicht mehr unterscheiden konnte, wäre sie verloren in Zeit und Struktur ihres Lebens.

Zurück an der Oberfläche ihres Bewusstseins war sie sehr zufrieden mit der Sitzung. Die Kohle war längst verglüht. Sie tastete im Dunkeln nach der Schale und steckte sie in ihre Tasche, ebenso die Kristalle. Die Asche wollte sie sicherheitshalber im Kamin entsorgen. Sie stolperte die ersten Schritte unbeholfen durch die Finsternis der kleinen Baumreihe.

Hinter den Buchen angekommen, konnte sie durch das Mondlicht genug erkennen.

»Sieht aus, als hätte ich dich wirklich falsch eingeschätzt.« Sie fuhr herum. Er stand nicht weit hinter ihr an einen Stamm gelehnt. Wegen der darüberliegenden Blätter und Äste konnte sie bei diesem Licht keine Einzelheiten ausmachen. Seine Silhouette schien mit dem Baum eine Art Symbiose eingegangen zu sein. Llew löste sich aus dem Schatten und kam auf sie zu.

»Wie bitte?«, fragte sie abgehackt. Sie spürte ihren Puls in nahezu jeder Ader hämmern.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du die alte Religion praktizierst«, kam die Antwort gerade heraus.

Ihre Hände und Füße fühlten sich seltsam taub an. Sie musste an das Gefühl gestern Abend auf dem Fensterbrett denken. Vorsicht, durchfuhr es sie. Ella versuchte, ihren Körper unter Kontrolle zu bringen. Ansatzweise erfolgreich, drehte sie sich um und ging mit schnellen Schritten Richtung Haus. Dabei versuchte sie, ihr Tempo nicht einer Flucht gleichkommen zu lassen.

»Keine Ahnung, wovon du da sprichst«, sagte sie, bemüht um einen beiläufigen Klang. Es dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sie mit ein paar großen Schritten eingeholt. Er packte sie am Arm und zwang sie zum Stehenbleiben.

»Ich denke doch.« Seine Stimme klang bedrohlich und ließ nicht den geringsten Schluss auf die Absicht dahinter zu. Angst legte sich um ihren aufgewühlten Geist, verdrängte jeden klaren Gedanken. Da Leugnen nichts half, reagierte sie instinktiv mit Wut.

»Was erlaubst du dir«, zischte sie ihn an und registrierte erfreut ihren überheblichen Tonfall. Von diesem unerwarteten Moralschub gestärkt, versuchte sie sofort, mit einem kräftigen Ruck und einer leichten Drehung ihren Arm freizubekommen, doch seine Hand schloss sich nur noch fester darum. Ihrer Wut folgte augenblicklich Panik. Er würde sie mit zum Haus schleifen, Grent davon unterrichten und der würde es mit Vergnügen direkt jemandem vom Zentralen Rat erzählen.

»Sei froh, dass ich nicht vorhabe, es zu melden, und sei nächstes Mal vorsichtiger«, unterbrach er ihre Gedanken. Daraufhin ließ er los.

Die ertappte Seherin starrte ihn an, konnte bei der Dunkelheit in seinem Gesicht nichts lesen. Außerdem bezweifelte sie, ihn bei Licht besser einschätzen zu können. Llews Mimik schien völlig ausdruckslos.

»Ach ja? Und du hör auf, mir hinterher zu schleichen. Es würde sicher jeden interessieren, was der abgesandte Nord-Cáeláne hier des Nachts treibt.« Einen Moment lang musterte er sie prüfend. Lächelnd bemerkte er schließlich:

»Ich dachte, es würde dir gefallen, wenn ich dir im Dunkeln hinterher schleiche.« Er zwinkerte und fügte höflich an:

»Gute Nacht, Ella.«

Dann ging er ohne Eile Richtung Haus, wo ihn nach ein paar Schritten die Finsternis verschluckte. Sie starrte ihm nach.

Er hatte recht. Denn sobald er alte Religion sagte, würde sich niemand mehr dafür interessieren, wie er zu diesem Wissen gekommen war.


Ella schreckte hoch und schlug sofort die Decke zurück. Ein feiner Brandgeruch kräuselte sich in der Schwüle der Sommernacht. Alarmiert stand sie auf. Vom Fenster her spürte sie eine kühle Luftbewegung auf der Haut. Es musste kurz vor Sonnenaufgang sein. Sie strich das Nachthemd glatt, das beim Schlafen hochgerutscht war und trat auf den Flur. Nichts. Der Geruch war verflogen. Zurück im Zimmer fiel ihr die Tasche auf, in der sie die Gegenstände für ihr nächtliches Ritual verstaut hatte. Ella hatte sie auf den Tisch geworfen, ohne sich um den Inhalt zu kümmern. Von ihr ging tatsächlich ein kaum wahrnehmbarer Rauchgeruch aus. Sie musste eine Öllampe entzünden, um sich im Dunkeln zurechtzufinden. Grämlich starrte sie auf die tadellos saubergefegte Feuerstelle. Bis zum Herbst würde hier niemand auf die Idee kommen, den Kamin zu entfachen. Sie sollte wohl etwas mehr Elan in die Vorkehrungen für ihre Unauffälligkeit investieren. Was fing sie nun mit der mitgebrachten Asche an? Sie wickelte den kleinen Kohleklumpen in ein Stück Leinen. Der Küchenofen war das einzige Feuer im Haus, das zu dieser Jahreszeit in Benutzung war. Daran hätte sie denken können.

Im Hausflur herrschte Schweigen. Wie spät mochte es sein? Die Angst davor, auf irgendeine Weise ertappt zu werden, kehrte zurück. Nicht dass sie Llew erneut über den Weg lief oder gar Grent. Angespannt ging sie die Stufen am hinteren Flurende hinunter. Sie musste sich ganz selbstverständlich bewegen, schließlich gab es für niemanden Anlass anzunehmen, sie habe etwas zu verheimlichen. Ihr Magen ließ sich von den logischen Überlegungen nicht überzeugen, er zog sich aufgeregt zusammen. Nach dem Durchqueren des Eingangsbereichs, der von zwei großen Wandleuchten gastlich erhellt wurde, stand sie einige atemlose Momente später in der Küche. Allein. Die schwere Ofenplatte strahlte ordentlich Wärme ab, ob die Köchin noch etwas vorbereitet hatte? Ella stellte ihre Lampe neben den Ofen und lauschte. Schnell schraubte sie die Ofentür auf und warf das kleine Bündel hinein. Es waren tatsächlich noch Glutreste vorhanden. Nach einer kurzen Weile bäumten diese sich knackend auf, um das Leinen erst zu versengen und anschließend mit leuchtenden Flammen zu überziehen. Ella schloss die Klappe, sperrte damit die Hitze wieder ein und verschraubte die Tür. Hinter sich vernahm sie ein Knistern. Sie fuhr erschrocken herum. Gleichzeitig stieg ihr Rauch in die Nase. Im Raum blieb es stumm. Brandgeruch breitete sich aus. Ella blickte gehetzt um sich. Das konnte doch nicht aus dem Ofen kommen. Die Anspannung stieg ihr diesmal direkt in den Nacken. Wo kam der Geruch her? Er ließ sich beißend in ihrem Rachen nieder und brachte sie zum Husten. Nirgends war auch nur ein Quäntchen Rauch zu sehen. Stattdessen hüllte sie Panik mit stickigen Schwaden ein, als wäre sie inmitten der züngelnden Gefahr. Nichts zu entdecken! Ein quälender Druck presste ihre Lunge zusammen.

Ella griff ihre Lampe und lief mit hastigen Schritten in die Empfangshalle zurück. Die Weite des hohen Raumes nahm ihr ein wenig das Gefühl von Hektik und Enge. Eine steinerne Freitreppe schwang sich elegant durch die Mitte bis in den ersten Stock und schloss an eine Balustrade an. Dort oben glaubte sie, einen Schatten ausgemacht zu haben. Kam der Geruch aus den Gästezimmern?

Hastig griff sie nach dem Geländer und rannte hinauf. Sie spähte um die Ecke in den langen Gästetrakt im Westflügel. Die vorderen Räume hatte Grent vermutlich an die Cáelánen vergeben. Im hinteren Teil, neben ihrer eigenen Tür, flackerte die Flurbeleuchtung. Doch da war nichts, was auf ein unkontrolliertes Feuer hindeutete. Ein kaum hörbares Knistern ließ Ella erneut zusammenschrecken. Hinter ihr nahm sie eine große Gestalt wahr. Sie fuhr herum, verlor den Halt und fand ihn wieder, in Grents üppige Körpermitte versenkt. Ein Duftgemisch aus Puder, Geranie und Schweiß umwaberte die weiche Fülle, an der sie lehnte. Sofort richtete sie sich auf. Ihre Haare hatten sich schmerzhaft an einem seiner Westenknöpfe verfangen. Er gab einen empörten Grunzlaut von sich und packte das Handgelenk ihrer Rechten, mit der sie sich aus der unangenehmen Lage befreien wollte.

»Die Jungfer Weißbach mitten in der Nacht im Hemd auf dem Flur. Warum derart verstört, meine Liebe?«, näselte er.

Ella versuchte sich etwas mehr aufzurichten, ihr gefesselter Schopf verhinderte das Entkommen aus der demütigenden Haltung.

»Ich ...« Sie entzog ihm die Hand, gleichzeitig rissen einige Haare. Die verbliebene Strähne löste sich ziepend von dem Knopf. »... hatte Hunger.«, beendete sie die plumpe Ausflucht.

Grent musterte sie.

»Natürlich.« Gab er missvergnügt zurück. »Unter diesen Umständen ist ein geziemender Schlafrock wohl entbehrlich.« Er schüttelte nachdrücklich den Kopf und entfernte sich zu ihrer Erleichterung rasch wieder.


Den nächsten Tag verbrachte sie bis zum Mittagessen auf ihrem Zimmer. Sie grübelte darüber, wie ihr Ritual verlaufen war und ob der Brandgeruch eine Nachwirkung desselben gewesen war. Sollte sich ihre Gabe unkontrollierbar aus der Verbannung befreien?

Zusätzlich musste in der Nacht irgendetwas geschehen sein, denn sie konnte von ihrem Fenster aus sehen, wie den Vormittag über immer neue durische Würdenträger eintrafen. Sie wollte nicht hinunter, spätestens beim Essen würde sie erfahren, was passiert war. Hatte es einen Versammlungsbeschluss gegeben? Das schien ihr nach einem Abend unvorstellbar.

Sie traf auf der großen Terrasse ein, die meisten Gäste saßen bereits und aßen. Tatsächlich waren viele Arealvorsteher dabei. Die Tafel war um einen langen Tisch erweitert worden. Ella ging zum Buffet, um sich einen gefüllten Teller reichen zu lassen. Sie entdeckte Llew, der sich mit Vanadis und einem Durier unterhielt. Er sah zu ihr herüber, schien ihre beobachtende Haltung bemerkt zu haben. Sie spürte, wie sie sich anspannte und befürchtete langsam, das unfreiwillige Rot könne sich dauerhaft zu ihrem Teint gesellen. Wie am Tag zuvor ignorierte er sie von da an wieder. Was für ein dubioser Kerl, dachte sie. Dennoch hatte sie aus irgendeinem Grund das Gefühl, er habe sie heute freundlicher angesehen. Sie dagegen fühlte nach dem nächtlichen Zusammentreffen eine Potenzierung des Unwohlseins in seiner Gegenwart, die sie nach Grents Bemerkung für ausgeschlossen gehalten hatte.

Schließlich, als sie sich zum Essen setzte, konnte sie aus den Gesprächen heraushören, was der Menschenflut zugrunde lag. Rieg, das Dorf gleich hinter dem Wald, war über Nacht niedergebrannt worden. Eine unerklärliche Tragödie, die nicht charakteristisch für die Probleme im Grenzgebiet erschien. Sonst hatten es Plünderer auf einzeln liegende Höfe abgesehen. Sie schikanierten die Anwohner, leerten die Vorratskammern, verwüsteten Felder und Ställe. Mit dem Leben hatten ausschließlich einige wenige Bauern bezahlt, die sich vehement zur Wehr gesetzt hatten. In Rieg dagegen waren alle Dorfbewohner dahingemetzelt und verbrannt worden. Ella ließ bestürzt das Besteck sinken, als sie diese Nachricht unmissverständlich herausgehört hatte.

Rieg, das kleine Dorf nördlich des Herrensitzes, höchstens zwei Wegstunden entfernt, niemand hatte überlebt. Das Gefühl der Beklemmung und der Rauchgeruch aus der Nacht drängten zurück in ihr Bewusstsein. Waren das Teile einer Vision gewesen?

Die Worte wirkten in ihr nach und brannten eine ungekannte Anteilnahme in die innere Welt der jungen Frau, die sich in ihrem Leben mit nicht viel mehr als ihrem eigenen wendungsreichen Schicksal beschäftigt hatte. Es schien sich niemand für die Opfer zu interessieren. Vielleicht erklärte das die Scham, die Ellas Bestürzung verstärkte, nachdem ihr gewahr wurde, wie durisch ihr Umgang mit dem Grenzkonflikt bis zum heutigen Tage gewesen war.

Die Gespräche kreisten um die Grenze, die daraufhin geschlossen bleiben würde, und die Frage, ob die Hilfe der Truppen jetzt endgültig durchgesetzt werden sollte. Bisher hatte Vanadis' Anwesenheit offenbar diesen Schritt, der entgegen dem Willen Cáelán-Aits stand, verhindert. Die Stimmen überschlugen sich inzwischen vor Schuldzuweisungen. Selbstverständlich lag der Ursprung für die Schandtat in der Verantwortung des unzivilisierten Nordens. Die Hektik der entflammten Debatten übertrug sich auf ihr Gemüt und Ella fühlte sich von Grund auf unwohl. Sie verließ die Gesellschaft bei der ersten Gelegenheit.


Candhun

Подняться наверх