Читать книгу Candhun - Diana Klewinghaus - Страница 14
Оглавление6. Entgrenzt
Vanadis mit ihrer Gabe betrachtet zu haben, hatte die junge Seherin endgültig an den Scheideweg gebracht. Es gab kein Zurück. Das bedeutete, sie würde sich hier nicht mehr länger angstfrei aufhalten können. Wenn ihr etwas Derartiges vor einem Durier passierte, konnte das schnell das Ende ihrer Freiheit nach sich ziehen oder gar ihren Tod. Dennoch fühlte sich Ella das erste Mal seit fünfzehn Jahren auf dem richtigen Weg, dem einzigen, den sie von nun an gehen wollte. Was danach auch geschehen mochte, sie würde heute Nacht ihre Gabe ganz und gar wiedererwecken.
Für dieses Vorhaben waren ursprünglich mehrere Anläufe eingeplant gewesen. Doch wenn sie jetzt herausfand, was der Grund für den Mord an Ferun gewesen war, konnte sie vielleicht den Krieg zwischen Duria und Cáelán-Ait verhindern, oder zumindest aufschieben. Sie wusste nicht, wie viel Zeit dafür blieb, daher musste sie gleich handeln.
Krieg, ein Wort, das während der letzten Tage mehr und mehr seiner Abstraktheit verlor. Es begann sich für Ella, seit sie von der Tragödie in Rieg gehört hatte, mit dem wahren Schrecken zu füllen, den es beschwor. Das Ausmaß des Gemetzels in dem Dorf, ausgeweitet auf ganz Altduria, war unvorstellbar grauenhaft. Unvorstellbar war ebenso der Gedanke, in ihr altes Leben zurückkehren und wohl möglich Rodriks Ehefrau werden zu müssen.
Schwarzer Nachtschatten, Beifuß, Birkenrinde. Sie konzentrierte sich wieder auf die Kräutermischung. Alles bereit. Aus Angst, der Mut würde sie sonst verlassen, lief sie sofort los. Zu wissen, was sie nicht wollte, mochte ein guter Anfang sein. Nicht zu wissen, was sie erwartete, flößte Ella eine Furcht ein, die mit ihren bisherigen Erfahrungen nicht im mindesten vergleichbar war.
Schließlich stand sie vor dem See. Es war längst tiefste Nacht geworden. Die Überlegung, wie sie zurückfinden sollte, erschien ihr im Hinblick auf ihr bevorstehendes Wagnis jedoch nebensächlich.
Heute im Garten war sie ihrer Intuition gefolgt, obwohl es Ella sehr erschöpft hatte, ihre Gabe ohne Ritual zu nutzen; vielleicht wegen der jahrelangen Unterdrückung. Was sie nun plante, würde um einiges mehr an innerer Kraft kosten. Nicht auszudenken, was die Konsequenzen für sie sein konnten. Die letzten Steine, die noch auf dem Weg zu ihrem Inneren lagen, würden auf einen Schlag weichen müssen.
Ella zögerte. Sie starrte auf das nächtliche Wasser des Sees zu ihren Füßen. Ein Zittern überfiel ihren gesamten Körper: Sie stand am Scheideweg ihres Lebens. Sicher, hier hatte sie sich Tag für Tag hingewünscht. Die Hoffnung, sie würde ohne Schwierigkeit ihre Gabe erwecken und nach dem Ritual nutzen können, hatte ihr den steinigen Waldboden beleuchtet wie eine immerwährende Fackel. Doch dieses Ziel in greifbarer Nähe zu spüren und die Angst vor möglichen Konsequenzen, stellte eine Herausforderung dar, der sie sich plötzlich nicht mehr gewachsen fühlte.
»Umdrehen und gehen? In welche Welt willst du zurückkehren, Tilhâlhû?«, flüsterte sie. Tilhâlhû, ihr eigener cáelánischer Name übte augenblicklich eine heilsame Faszination auf sie aus. Obwohl er selbst für cáelánische Verhältnisse extrem vorgestrig anmutete und sie ihn als Kind nie gemocht hatte.
Ohne sich weiterhin Raum für Überlegungen zu lassen, zog sich die Seherin bis auf das feine Leinenhemd aus, um nicht durch das Kleid beim Schwimmen behindert zu werden. Dann holte sie die Feuerschale aus der Tasche und transportierte sie mitsamt Inhalt und einigem Aufwand zu dem Ritualstein in der Mitte des Sees, damit Kräuter, Kohle und Zunder trocken blieben. Obwohl die Kraft der Sonne bereits einige Stunden nachgelassen und es sich später am Abend zugezogen hatte, fühlte sich das Wasser lau an. Die Feuerschale ragte zum Glück weit über die Wasseroberfläche und war ebenfalls schwer genug, um dem sanften Wellengang zu widerstehen, den der aufkommende Wind auslöste. Vhochâl schien ihr gewogen. Wind und Nebel galten als Manifestationen ihrer Göttin.
Die Kristalle waren platziert, die Kräuter verbrannten knisternd auf der Kohle und hüllten Ella, die in ihrem Hemd auf dem Stein stand, in duftende Schwaden. Kaum zu ertragende Anspannung lag noch immer auf ihren Muskeln und ließ sie ihre Bewegungen umständlich ausführen. Aufhalten würde sie das nicht. Bedächtig überprüfte sie, ob sie nichts vergessen hatte.
Kräuter und Kristalle waren zur inneren Stärkung und als Opfergabe gedacht. In Grents Garten hatte das wunderbar funktioniert. Doch was die Aberwitzige nun zu tun gedachte, widersprach ihrer üblichen Vorsicht und jeglicher Vernunft.
»Vhochâl, stille Tochter«, flüsterte sie der Göttin entgegen, der sie als Kind aufgrund ihrer Gabe geweiht worden war, »schenk' mir deinen klaren Blick.«
Diesmal wollte Ella die dunkle Göttin direkt um Hilfe bitten. Sie würde ohne ihre Zustimmung keine Einsicht in die Anderswelt erhalten und genau das wollte die junge Seherin erwirken. Einen Blick in Vhochâls Reich der Toten und der Träume. Obgleich sie wusste, dass es ihr verboten und gefährlich war.
Sie wollte alles in ihrer Macht liegende tun, um ihre Heimat zu schützen, und ihr Leben ganz auf den Alten Pfad zu lenken. Dieser Wunsch wuchs von Atemzug zu Atemzug. Sie wollte endlich sich selbst vertrauen können und die Ganzheit spüren wie in jenem Moment, als sie die Vision von Vanadis' Wesen zugelassen hatte. Viel zu lange hatte sie ihr wahres Innres verleugnet. Hoch oben strahlte das Silberlicht eines vollen Mondes hinter den Wolken hervor und ließ den Himmel wie ein riesiges Tempeldach wirken. Am Boden reichte das schummrige Hell gerade so, um den Rauch betrachten zu können, der im stärker werdenden Wind tanzte.
Genau hier wollte sie stehen, tun was sie gerade tat. Kein durisches Bankett, kein höfisches Geplänkel könnte jemals dieses Gefühl von Verbundenheit und Freiheit aufwiegen, das ihr der Wind entgegen trug und ihr das Wasser flüsterte. Jener Gedanke verdrängte den letzten Zweifel der jungen Frau und hinterließ nichts als Gewissheit.
»Gewähre mir Eintritt in dein Reich. Ich bin dein, Lufttochter. Schenk‘ mir deinen klaren Blick!«, wisperte Ella weiter durch den Dunst.
Ob diese Worte für Vhochâl einen Sinn ergaben, oder einem üblichen Gebet für sie ähnelten, war ihr völlig unklar. Sie versuchte sich an alles zu erinnern, was sie über die Göttin als Kind gelernt hatte und es mit ihrem Anliegen zu verbinden.
»Ich bin dein«, wiederholte sie sehr viel lauter.
Während sie sprach, nahm die Wolkendichte mit einem Mal rapide zu. Die fallende Dunkelheit begrenzte ihr Sichtfeld auf wenige Hand breit. Kühle Wellen umspülten Ellas nackte Füße, das leise Plätschern verging im beständigen sprudeln des Wasserfalls am Rande des Kraters. Der Wind frischte weiterhin auf. War das ihre Antwort?
»Vhochâl, lass mich durch deine Augen sehen!«
Der würzige Rauch stieg tief hinab in ihre Lungen. Das Rauschen des Wassers verschmolz mit dem des Windes. Sie spürte kühle Tröpfchen aufsteigenden Nebels auf ihrer Haut. Jäh gab es einen Ruck in ihrem Innern. Dem Lidschlag folgend, mit dem sie die Augen für diese Welt schloss, um sie für die der Geister wieder zu öffnen, riss die Wolkendecke. Gleißendes Mondlicht überflutete den See.
Trotz oder gerade wegen des hellen Lichtes, das Ella nun umgab, konnte sie zuerst nichts sehen. In ihren Ohren lag ein Dröhnen, das alle anderen Geräusche überdeckte. Es klang wie ein schmerzerfülltes, kollektives Stöhnen, in dem sie sich aufzulösen begann. Sie fühlte sich schwebend, wie ein Teil dieses infernalischen Schalls. Kurz darauf breitete sich Schmerz in ihren Gliedern aus, als wollte er sie von innen heraus zersprengen. Zuckend sackte sie zusammen und fiel auf die Knie. Das Wasser dämpfte den Aufprall nur schwach. In ihrer Welt begannen blutrote Fäden von dem großen Stein zur Wasseroberfläche zu treiben, die sich dort im Takt der Wellen zu kleinen Strudeln erweiterten. Da Ella den dumpfen Schmerz in ihren Knien nicht von dem im Rest ihres Körpers unterscheiden konnte, bemerkte sie es nicht.
Das Geräusch und die Schmerzen ebbten allmählich ab. Sie konnte einzelne Stimmen ausmachen, die meisten jammerten und klagten. Manche schrien verzweifelt um ihr Leben. Trotz ihrer aufkeimenden Panik öffnete sich Ella für jede von ihnen und erlaubte es ihrem Geist nicht, sich zurückzuziehen. Erst als sie schließlich zuließ, das Grauen und die Todesangst jeder einzelnen dieser Stimmen mitzufühlen, zerbrach der letzte Stein ihrer inneren Mauer.
Ellas Knie brannten, das nasse Hemd klebte frostig und beengend an ihrer Brust. Sie fühlte vollkommene Erschöpfung. Enttäuscht blieb sie am Rand des Steins sitzen. Was war denn passiert? Das Ritual hatte funktioniert. Warum hatte die Vision plötzlich nachgelassen? Sie hatte sich bereits in Riegs kalter Asche gesehen, zumindest glaubte die Seherin, dass es Rieg gewesen war.
Nach einigen endlos erscheinenden Augenblicken – Ella wusste nicht genau, ob das Geräusch der Wellen, die an den Stein klatschten, sie einschläferte, oder ob es das Einzige war, was sie noch wach hielt – ließ sie sich ins Wasser gleiten. Sie zwang ihre schwachen Glieder sie zum Ufer zu bringen.
Sie schaffte es, ihr wachsendes Gewicht am Rand des Sees aus dem Wasser zu hieven. In ihrem Zustand das Kleid anzuziehen, stellte sich als unüberwindliches Hindernis heraus. Es blieb, wie sämtliche Ritualgegenstände, am Krater zurück. Ella tappte matt durch den Wald. Sie folgte wie hypnotisiert den silbernen Streifen, die der Mond an besonders lichten Stellen auf den Waldboden malte. Es gelang ihr nicht, sich auf etwas außerhalb ihres Körpers zu konzentrieren. Sämtliche ihrer Gliedmaßen brannten vor Erschöpfung. Nach einiger Zeit bremste dichter werdendes Unterholz ihre Schritte und nahm ihr die Orientierung. Das Licht wurde schwächer. Sie fühlte sich wie gefangen von der Dunkelheit. Jede ihrer Bewegungen deuchte ihr unverhältnismäßig laut. Plötzlich hörte sie ein Rascheln, das anders klang als die kleinen Geräusche der nächtlichen Waldbewohner. Jemand folgte ihr!
Wer konnte sie hier gefunden haben? Inmitten des riesigen Nordwaldes fernab der Handelsstraße, wo sie sich befand. Sie versuchte ihre Schrittfrequenz beizubehalten und sich auf ihr Gehör zu konzentrieren. Mit jedem Herzschlag pochte die Furcht eindringlicher durch ihre schmerzenden Glieder. Da war es wieder. Zweifelsfrei menschlich. Sie konnte die Entfernung kaum einschätzen, es klang dicht hinter ihr. Sie wagte es weder, stehen zu bleiben, noch den Kopf zu drehen, aus Angst vor dem, was ihr begegnen würde.
Plötzlich hörte sie es direkt neben sich. Vor Schreck presste sie eine Hand auf den Mund, um nicht aufzuschreien. Als wären ihre Füße mit dem Waldboden verwachsen, hielt sie an und starrte wie in Trance auf ein kleines Mädchen, das dort stand. Die Kleine streckte die Hand aus und machte einen Schritt auf Ella zu. Bewegungsunfähig krampfte sie sich zusammen. Panisch registrierte sie die großflächigen Verbrennungen des Kindes, die ein unregelmäßiges, nässendes Muster ergaben. Kleidungsfetzen und vereinzelte Haarbüschel trieben auf der breiigen Masse, die einst seine Haut gewesen war. Ella roch verkohltes Fleisch. Übelkeit traf sie wie ein Schlag in den Magen.
»Komm mit, Ella, ich zeig es dir«, rief eine feine Stimme eifrig aus. Ellas Blick fiel auf die getrübten Augen des Kindes, denen der Tod jeglichen Glanz genommen hatte und die nun stumpf durch Ella hindurch ins Leere blickten. Das rechte Lid war vollkommen verbrannt und rahmte halbseitig den frei liegenden Augapfel mit einer schwarzen Kruste ein. Einen Moment standen sich beide wie leblos gegenüber. Ella überkam das Gefühl, der Wald selbst hätte aufgehört zu atmen, so still war es. Sie begriff, dass sie sich in der Anderswelt befand. Doch hatte sie niemals damit gerechnet, dass es sich so anfühlen würde.
Endlich überwand sie sich und ergriff die kleine Hand, die ihr entgegengehalten wurde. Dann folgte sie dem Mädchen schweigend bis zu einem Waldweg und weiter bis zu etwas, das noch vor kurzer Zeit das Dorf Rieg gewesen sein musste. Die schwarz verkohlten Gebeine der einstigen Häuser streckten sich schwelend und stinkend im fahlen Licht dem Nachthimmel entgegen. In der Luft lag ein seltsames leises Surren. Ella zwang sich weiter zu gehen und drängte die aufsteigende Übelkeit ein zweites Mal zurück. Sie war unglaublich froh darüber, an jenem Morgen nicht den Weg nach Rieg eingeschlagen zu haben, sodass der kleine Geist an ihrer Hand ein Unbekannter blieb.
Auf dem ehemaligen Dorfplatz angekommen, wies das Kind auf etwas, das im Mondlicht funkelnd aus der Asche aufragte. Ella ließ die Hand los und bückte sich danach. Es war das abgebrochene Ende einer verzierten, silbernen Klinge, an deren Spitze ein Stück fast vollkommen verbrannten Papiers steckte. Eine kleine Böe wirbelte in diesem Moment die Asche um die verstörte Seherin herum auf, die grauen Flocken nahmen ihr die Sicht und den Atem. Der kleine Windstoß jagte heulend durch die Ruinen davon. Das Kind war verschwunden. Ella blieb hustend inmitten der kokelnden Trümmer zurück. Angst und Erschöpfung ließen ihrem Körper dieses Mal nicht die Wahl. Sie konnte sich nicht länger gegen die ätzende Säure wehren, die als unaufhaltsame Woge ihren Weg durch die Speiseröhre angetreten hatte.
Der Mond war lange untergegangen. Die Vögel kündigten mit einem schrillen Kreischen den neuen Morgen an. Ella beobachtete, seitdem sie sich endlich wieder auf dem Feldweg befand, einen schmalen Lichtstreifen am Osthimmel. Innerlich betete sie dafür, dass sich die Sonne an diesem Tag etwas mehr Zeit lassen würde, von ihrer Reise zurückzukehren. Durch ihre Schläfen pulsierte ein stechender Kopfschmerz, der sich durch das Krakeelen der Vogelstimmen permanent ausweitete. Das Laufen fühlte sich seltsam eigenständig an, wie abgekoppelt von ihrem Willen. Sie hatte ohnehin das Gefühl, ihr Bewusstsein würde regelmäßig für einen Herzschlag aussetzen. Doch Ella dachte nicht daran, einen Umweg über ihr Bett zu machen, aus Angst nie wieder zu erwachen, um ihre Mission beenden zu können.
Es war noch früh genug, sodass sie auf dem Flur niemandem begegnete. Um keine Dienstboten aufzuscheuchen, klopfte sie nicht an, sondern betrat einfach den Raum, von dem sie nahezu überzeugt war, dass es sich dabei um Vanadis‘ Gästezimmer handelte. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Ella stand im Dunkeln.
»Hallo?«, fragte sie plump in die Stille hinein.
Ihre Stimme klang dünn und krächzend. Ihr Tonfall wirkte auf Ellas Ohren wie Fingernägel auf einer Schieferplatte. Sie hustete, um die Asche von Rieg zu vertreiben, die noch immer einen kratzenden Film auf ihrer Lunge bildete.
Es wurde schlagartig hell. Die Seherin fing Llews bestürzten Blick auf. Er stand kampfbereit mit gezogenem Schwert etwa einen Schritt von ihr entfernt. Das Licht, oder der Schreck, oder eine Kombination aus beidem, sorgten für einen plötzlichen Ruck in Ellas Gliedmaßen, der ihren Kopf fast zum Explodieren brachte. In der Ferne spürte sie einen stechenden Schmerz, der zusätzlich von einer Hand ausgehend ihre Nervenbahnen kreuzte. Llews erschütterte Grimasse verwirrte Ella. Seit Rodriks Befragung war die Seherin fest davon ausgegangen, dieser Mann wäre durch nichts und niemanden zu schockieren. Sie stieß ein leises, albernes Kichern aus, als sie begriff: Sie hatte die gelungene Mischung aus Erstaunen und Entsetzen auf sein Gesicht gezeichnet. Sein Schwert fiel scheppernd zu Boden.
»Mutter Erde! Ella!«
Seine weiche Stimme klang solchermaßen betroffen, dass ihr augenblicklich bewusst wurde, wie übel sie zugerichtet war.
Für eine kurze Bestandsaufnahme blickte sie an sich herab und bemerkte erst jetzt ihre blutigen Knie. Knapp darüber klebte ihr das nasse, Ruß verschmierte Hemd an den Schenkeln. Aus ihrer rechten Hand, die sie zu Faust geballt hatte, tropfte Blut. Sie versuchte erstaunt, die Finger von dem Gegenstand zu lösen, der sich darin befand und von dem sie nicht mehr wusste, was es war. Einfach öffnen ließ sich ihre Hand nicht. Ella zitterte am ganzen Körper. Langsam überlegte sie, was der Grund dafür sein mochte.
Llew hatte sich im Gegensatz zu Vanadis, der durch eine Zwischentür in diesem Moment das Zimmer betrat, wieder unter Kontrolle. Er packte Ella und setzte sie auf den nächstbesten Stuhl. Durch ihren Schockzustand hindurch genoss sie die schützende Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Verspätet entschied sie sich gerade für Müdigkeit, Kälte und Anstrengung, gerechterweise zu gleichen Teilen, als Grund für ihr Zittern.
»Oh vielen Dank«, sagte sie ernst und fügte bittend hinzu, »Könntest du mir vielleicht helfen? Ich glaube, da steckt eine Klinge in meiner Hand«.
»Ja, das sehe ich«, entgegnete er.
Vanadis hinter ihm stieß ein undefinierbares Geräusch aus. Ella beobachtete fasziniert Llews Bewegungen, als er ihr sanft die Finger der rechten Hand aufbog und mit einem kurzen Ruck die kleine abgebrochene Klinge entfernte, an der immer noch der Papierfetzen hing. Er suchte ihren Blick, wohl um abzuschätzen, wie sehr er ihr wehgetan hatte. Doch die Seherin, die die Szene unabhängig von ihrem Körper wahrnahm, strahlte ihn nur dankbar an. Llew schüttelte den Kopf. Er sah sich Hilfe suchend zu Vanadis um.
»Das ist halb so schlimm«, hörte sie die Worte des Grauen dumpf wie hinter einer Wand. »Das hat sie öfter.«
Vanadis, der damit aus aktueller Sicht deutlich richtig lag, war gerade noch schnell genug, um sie ein weiteres Mal vor einem harten Aufprall zu bewahren.
Die Seherin blinzelte vorsichtig, sie spürte schmerzhaft jeden Muskel ihres Körpers. Gleichzeitig fühlte sie sich unendlich müde und schwer. Sie war froh, dass wenigstens der Kopfschmerz nachgelassen hatte, an den sie sich zu erinnern glaubte. Bei der Decke, unter der sie lag, handelte es sich nicht um ihre eigene. Außerdem bewegte sich ihr Bett. Sie wollte die Decke ein Stück zur Seite schlagen, um besser sehen zu können. Eine wunderbar tiefe Männerstimme hielt sie auf.
»Vermutlich ist es besser, wenn du dich noch eine Weile ausruhst. Ich hatte bisher noch nicht die Gelegenheit, mich um dich zu kümmern.«
Die Tatsache, dass ein Mann mit einer solchen Stimme sich um sie kümmern wollte, gefiel ihr auf Anhieb gut. Dennoch gab sie sich nun etwas ernsthafter Mühe, ihre Lage in den richtigen Kontext einzuordnen. Kurz darauf gelang es ihr. Ella klappte die Decke ruckartig hinunter. Sie lag quer auf der Sitzbank einer Kutsche. Auf der anderen Seite saß Llew. Er beobachtete sie aufmerksam. Seine Miene schien ihr jedoch um einiges entspannter als bei ihrem plötzlichen Auftauchen.
»Wo ist Vanadis und wohin fahren wir denn?« Da Llew selten eine ihrer Fragen zufriedenstellend beantwortet hatte, betrieb sie erst einmal nicht den Aufwand über weitere nachzudenken.
»Vanadis sorgt dafür, dass der Zentrale Rat einen seiner Inquisitoren exkommuniziert«, seine Stimme klang nahezu ausdruckslos. Doch Ella spürte deutlich sein Bedauern, nicht dabei sein zu können.
»Das Klingenstück, das du gefunden hast, ist ein eindeutiger Beweis für Rodriks Anwesenheit bei dem Brand in Rieg. Das dürfte reichen, um ihn seiner Stellung zu entheben, auch wenn es nicht den Schluss auf Vorsatz oder direkte Beteiligung zulässt.«
»Rodrik war es selbst?«
In diesem Moment spürte Ella unfassbare Erleichterung, die letzten Tage über nicht gewusst zu haben, in welcher Gesellschaft sie sich aufgehalten hatte und wie gefährlich ihre Lage gewesen war.
»War es das, was Ferun wusste?«, fragte sie vorsichtig.
»Nein«, Llew schüttelte den Kopf.
»Das Stück Papier gehörte zu einer Liste mit Namen einflussreicher Grenzlandfamilien, die Kontakte zum Untergrund besitzen.«
»Untergrund?«, unterbrach ihn Ella, die den Faden verlor. Seine beachtlich detaillierten Ausführungen machten ihr Mut, hierbei könnte es sich um das vernünftige Gespräch handeln, das sie erhofft hatte. Dennoch fixierte sie argwöhnisch seine Mundwinkel, die nach dieser Frage verräterisch zuckten.
»Nur aus Interesse – das war also ein sehr abgelegenes und kontemplatives Kloster, in dem du warst?«
Damit wurden ihre Illusionen von einer ernsthaften Unterhaltung mit einem Schlag zunichtegemacht. Entrüstet wollte sie sich aufsetzen. Llew nahm ihre Bewegung wahr, bevor sie sie ausführen konnte, und drückte sie mit einer Hand auf ihr provisorisches Bett.
»Wir sind auf dem Weg zu Diurán, einem Freund von mir.«
Er zog die Hand zurück und sah sie prüfend an. Eine Erklärung zu bekommen, besänftigte sie ein wenig. »Er hilft dem Untergrund. Das sind Menschen, die auf dem Alten Pfad wandern und den Zentralen Rat stürzen wollen. Wir haben gehofft, es ohne einen großen Krieg zu schaffen, aber der ist nicht mehr aufzuhalten.«
»Ich verstehe nicht. Ich dachte, du und Vanadis seid hier, um einen Krieg zu verhindern?«, fragte Ella schüchtern, die Angst bekam, ihren hart erkämpften Durchblick wieder zu verlieren.
»So war es auch. Wir dachten, Grent hätte etwas gegen einige Mitglieder des Zentralen Rates in der Hand, etwas mit dem er sie erpresste. Das wollten wir benutzen, um Druck auf den Zentralen Rat auszuüben, damit er die Familien im Grenzland in Ruhe lassen würde, von denen er wusste, dass sie die alten Riten praktizieren.«
Sie dachte an ihr Zusammentreffen mit Llew im Garten nach ihrem Ritual. Er hatte herausfinden wollen, wem sie loyal gegenüberstand: dem Untergrund oder dem Zentralen Rat. Offenbar gab es nur diese beiden Möglichkeiten für jemandem, der wie sie die Gabe ausübte. In einigen Arealen Durias stand die Todesstrafe auf unaufgefordertes Praktizieren traditioneller Riten. Ein Grund für sie, nicht im Konvent damit begonnen zu haben. Der Konflikt zwischen den Anhängern des Rates und den Cáelánen, die ihre alte Religion verteidigten, war um einiges blutiger verlaufen, als sie es in dem behüteten durischen Konvent mitbekommen hatte. Sie spürte Übelkeit aufsteigen, ob wegen der jüngsten Erkenntnisse, oder ihres körperlichen Zustandes, blieb ungeklärt. Ella vergrub für einen Moment ihr Gesicht in den Händen und fokussierte sich auf ihre Atmung. Falls Llew sie noch immer für blasiert oder einfältig hielt, hatte er schlichtweg recht damit. Nachdem die Erneuerung ihres Weltbildes teilweise abgeschlossen war, nuschelte sie in ihre Handflächen:
»Du bist ein Spion des Untergrundes.«
Sie erhielt ein belustigtes Schnauben als Antwort.
»Du meinst, die Plünderungen, das war der Zentrale Rat?« Die vormals blinde Seherin versuchte, sich zu sammeln. Dabei löste sie ihre Hände vom Gesicht. Der Spion lächelte, dieses Mal lag kein Spott darin. Er hatte vermutlich begriffen, dass Ella von den gegebenen Umständen nichts gewusst haben konnte.
»Ja, der Zentrale Rat versucht seit einigen Jahren, seinen Einflussbereich auf das cáelánische Grenzareal auszuweiten«.
»Aber Rodrik war das nicht genug«, schloss Ella und sah Llew fragend an.
»Er will, dass ganz Cáelán-Ait dem Einflussbereich unterstellt wird und sich dabei eine möglichst mächtige Position verschaffen«, ergänzte er bestätigend. »Dann wäre es in Duria und Cáelán-Ait Sache des Rates, über die Ausübung der Gabe zu bestimmen. Die Areale innerhalb der altdurischen Grenzen wie sie vor dem Putsch existierten, wären komplett zentralisiert. Das ist genau das Szenario, gegen das der Untergrund kämpft.«
»Aber dafür brauchte er Grents Druckmittel«, Ella verstand. Sie konnte es kaum fassen, sämtliche vernachlässigten Details der letzten drei Wochen ergaben jetzt einen Sinn. »Nur, dass Grent nicht einzelne Zentralratsmitglieder erpresst hat, sondern Grenzlandfamilien. Und zwar damit, sie trotz Beweisen nicht an den Zentralen Rat auszuliefern – im Gegenzug für irgendetwas«, folgerte sie. »Warum habt ihr gedacht, dass es Ratsmitglieder wären?«
»Grents Einfluss auf den Rat hat sich in den letzten zwei Jahren rasch ausgeweitet, es wäre eine logische Erklärung gewesen.«
Ella straffte ihre Mundwinkel zu einem traurigen Lächeln, sie fügte dem Bild ein Detail hinzu: »Rodrik fand das heraus. Er hat dafür gesorgt, dass aus diesem Etwas Informationen über den Untergrund wurden und jemand aus Rieg wollte das nicht zulassen.« Ihre Stimme erstarb. Das Bild des kleinen verbrannten Mädchens erschien vor ihrem geistigen Auge. Und dafür haben sie alle bezahlt, fügte sie in Gedanken hinzu.
»Bei Alsuns tausend Türmen!«
Dieses Mal kam ihr Ausbruch so plötzlich, dass Llew nicht damit gerechnet hatte. Es gelang ihr, sich ohne Hinderung aufzurichten.
»Vanadis und du, ihr habt das mit Rieg gewusst und du hast Rodrik in Grents Arbeitszimmer direkt mit diesem Verdacht konfrontiert«, Ella starrte Llew erschrocken an, »er hätte dich töten können!«
Eine ernst zu nehmende Veränderung seiner Mimik blieb aus, dadurch führte er ihr die Heftigkeit ihres Ausbruchs doppelt vor Augen. Sie bedauerte, dass es zu spät war, sich schlafend zu stellen. Llews kaum merkliches Lächeln und ein seltsames Funkeln hinter den dichten Wimpern ruhten noch eine Weile auf seinem Gesicht. Er betrachtete sie stumm. Ella spürte ihren Herzschlag bis in die kleinste Kapillare pochen. Die Worte des Cáelánen klangen ungewohnt rau durch die Stille, die ihrem erschütterten Ausruf gefolgt war.
»Ich frage mich, auf welche Weise du in diese Geschichte verstrickt bist.«
Ihr fiel nichts Kluges dazu ein. Da eine Antwort ausblieb, fuhr er fort:
»Zuerst dachte ich, Grent oder Ragin hätten dich auf mich angesetzt.« Ella gluckste belustigt, die Vorstellung von ihr als Spitzel und die Erinnerung an Llews Geste in der Waschküche, als ihm aufgegangen war, dass sie überhaupt nichts wusste, lösten augenblicklich ihre Anspannung.
Dann schickte die Erwähnung ihres Onkels Ella eine weitere Erkenntnis. Ragins Geschäfte hatten es ihm ermöglicht, Grent in Duria und Cáelán-Ait Informationen über die Familien zu beschaffen.
»Wie lange laufen denn die Bemühungen des Zentralen Rates, etwa fünfzehn Jahre?« Sein Nicken löste eine Flut an Gedanken in ihr aus. Ihre Mutter hatte sie zu diesem Zeitpunkt zu ihrem Bruder gebracht. Dieser konnte Ellas Eltern an ihrem alten Wohnort im Delta später nicht mehr finden. Zumindest nach seiner Aussage. Ihr Onkel Ragin, der mit einem Mädchen ihres Alters in seinem geschäftigen Leben nichts anzufangen wusste, hatte sie in den Konvent geschickt. Erst an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, vor einem knappen Monat, hatte sie diesen Ort endlich verlassen können. Waren ihre Eltern dem Rat zum Opfer gefallen, oder gehörten sie dem Untergrund an?
Als ihre geistigen Kreise sie von ihren Eltern über Ragin und ihr gesamtes Leben in den letzten fünfzehn Jahren wieder zu der holpernden Kutsche brachten, kehrte mit aller Macht die Erschöpfung zu ihr zurück.
»Weißt du eigentlich, dass ich gebürtig aus Nord Cáelán-Ait stamme? Ich bin nicht einmal Grenzländerin.« So müde, wie sie war, war das das Einzige, was sie zu ihrer Verwicklung in das Geschehen sagte. Sie drehte sich herum und zog die Decke über den Kopf. Mit einem leisen Gefühl von Befriedigung darüber, dass es dieses Mal Llew war, der verwirrt zurückgelassen wurde, schlief sie ein.