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2. Vhochâls Flüstern

Duria, Herrenhaus bei Rieg

(4 Monde später)

Gerade lösten sich die warmen Strahlen der Abendsonne in rote Bänder am Horizont auf. Durch die Blätter der hohen Pappeln ließ ein letztes goldenes Glitzern einen heißen Sommertag ausklingen. Ella liebte es, das farbgewaltige Schauspiel zu betrachten, um auf diese Weise den Tag in Ruhe zu beschließen.

Sie fühlte sich der kraftvollen Stille weit mehr verbunden, als dem Treiben in dem Anwesen. Hier konnte sie ungesehen beobachten und musste sich nicht die gesamte Zeit den Gepflogenheiten der Gesellschaft unterwerfen, in der sie sich nun wieder bewegen musste.

Ihr Onkel hatte die junge Frau an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag aus dem Konvent abgeholt, in dem sie die letzten Jahre recht abgeschottet verbracht hatte. Bei der mehrtägigen Kutschfahrt durch die bäuerlichen Provinzen war sie ihm näher gewesen, als sie es gewohnt war. Die Felder standen in vollem Korn, der fruchtbare Landstrich barg eine Fülle verschiedener Obstwiesen, kleiner Wäldchen, Viehweiden und blühender Windhecken, mit deren Anblick sie sich abgelenkt hatte. Hier in dem Anwesen seines Geschäftsfreundes musste sie Ragin in einer Weise begegnen, die ihr mehr als nur missfiel. Es beruhigte sie, ihren Onkel, der sich nicht einmal ansatzweise um sie kümmerte, mit anderem beschäftigt zu wissen. Ella hatte ihn nie besonders gemocht. Selbst als sie noch jünger war, und er sich etwas mehr um sie bemüht hatte. Das beiderseitige Desinteresse stand unausgesprochen zwischen ihnen, seitdem sie aus dem Konvent zurück war. Ein Gefühl von Enge überkam sie bei diesem Gedanken. Ihr Herz krampfte sich zu einem starren Gebilde zusammen.

Was sollte sie tun?

Es ertragen wie die Jahre zuvor, seit ihre Mutter sie bei ihm gelassen hatte. Ella würde weiterhin bei Ragin leben müssen. Daher hasste sie die Momente umso mehr, in denen er vorgab, sich um seine Nichte zu sorgen. Ein klares Spiegelbild des Verhaltens durischer Oberschichtler, denen er sich gerne zuzählte. Wie ihr Puder eitrige Pickel verblassen ließ, bestäubten die durischen Aristokraten Raffgier und Hochmut mit vorgetäuschten Freundlichkeiten, die Ellas Wesen zuwider waren, seit sie von ihrem Onkel in die Gesellschaft eingeführt worden war. Ihr Gastgeber war solch ein angesehener Durier. Einer, der sie deutlich wie nie spüren ließ, dass sie anders war. Nicht allein da sie gebürtig aus Cáelán-Ait stammte, sondern passten auch ihre Wünsche für ihr weiteres Leben nicht zu dem, was er von einer durischen Dame erwartete.

Nun drang ihr ein angenehm kühler Lufthauch entgegen. Sie wollte für einen Moment mit geschlossenen Augen die Ruhe genießen, als sie Hufgetrappel und das Knirschen von Kutschenrädern auf dem Kies wahrnahm. Neugierig blickte sie zum Ende der Pappelreihe, wo der Weg aus der Stadt in einem sanften Bogen in den Hof mündete. Für eine nähere Betrachtung war die Kutsche noch zu weit entfernt. Dämmerlicht und Bäume sabotierten zusätzlich das Stillen ihrer Wissbegierde.

Vermutlich handelte es sich um den Mann, von dem ihr Onkel erzählt hatte. Beim Abendessen auf der Terrasse hatte Ella Ragin Gesellschaft geleistet. Er meinte, der Cáeláne würde bleiben, bis die Grenzen passierbar waren. Besser gesagt, seine Anwesenheit sollte dazu beitragen, sie wieder passierbar zu machen.

Die junge Frau zog ihre Beine auf die Fensterbank und den Vorhang ein Stück um sich herum. Sie mochte zwar die gebräuchlichen Anstandsregeln nicht, einem hochrangigen Cáelánen, der sie von unten auf dem Fenstersims sah, mit baumelnden Beinen zu begegnen, wollte sie dennoch vermeiden.

Die Kutsche fuhr auf dem Hof vor. Das Licht reichte noch aus, um die Diplomatenflagge zu erkennen. Ella konnte von ihrem Fenster den Haupteingang und ein Stück des Hofes nicht einsehen, der vordere Teil des Gefährtes verschwand hinter der Hausecke. Einer der Angestellten ihres Gastgebers erschien. Er begann damit die Befestigungsschnur zu lösen, die mehrere Taschen und Kisten an der Kutsche sicherte. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr.

Ihre Aufmerksamkeit wanderte zu den Pappeln an der Straßenmündung zurück. Ein riesiger Vogel landete mit ausgebreiteten Schwingen. Er ließ sich in einer der schlanken Baumkronen nieder. Das Restlicht grenzte die Silhouette scharf genug gegen den schwach beleuchteten Horizont ab, um eine Vorstellung seiner Größe zu vermitteln. Ein Raubvogel, vielleicht ein Adler? In diesem Teil Durias eher unwahrscheinlich, grübelte sie.

»Vorsicht!«

Prompt rief sich der gewagte Sitzplatz in Ellas Bewusstsein. Reflexartig krampften ihre Muskeln. Die Warnung versetzte ihren entspannten Kreislauf in rasante Rotation. Ein unangenehmes Gefühl, als wäre sie bei etwas Verbotenem ertappt worden, breitete sich aus. Ihr Blick stürzte drei Stockwerke tief zu Boden; eine schwindelerregende Verbindung. Zittrig und fluchend drehte sie sich mit den Füßen zurück in Richtung Zimmer, um abzuwarten, bis sich ihr Blutfluss beruhigte.

Natürlich hatte die angenehme, tiefe Männerstimme nicht sie damit gemeint. Ella fragte sich einen Augenblick lang, ob es die Warnung oder die Stimme gewesen war, die ihr Blut derart in Wallung gebracht hatte. Schließlich drehte sie den Kopf erneut und lehnte sich ein Stück weiter nach hinten, um besser sehen zu können. Sie hielt sich vorsichtshalber mit der Hand am Fensterrahmen fest. Die Stimme gab Anweisungen, welche Taschen besonders sorgfältig behandelt werden mussten. Ella konnte den passenden Mann dazu kaum erkennen. Er schien recht ansehnlich gebaut zu sein, zumindest seine linke Körperhälfte. Der Rest wurde durch den Taschenberg verdeckt.

Ein warmer Wind scheuchte ihre Haare auf, als sie sich der Neugier folgend, etwas mehr nach außen neigte. Sie wollte nicht mutmaßen. Unter ihr versank der Hof im dunkler werdenden Abendgrau. Sie würde den Sprecher nicht erkennen, ohne einen Sturz vor seine Füße zu riskieren. Milde Böen trugen einzelne Worte zu ihr herauf, deren tiefe Töne eine unvermutete Anziehung auf Ella ausübten. Die Furcht, die Schwerkraft könnte in ähnlich ausdrucksstarker Weise auf sie einwirken, hinderte sie daran, ihre Position ein weiteres Mal außer Acht zu lassen. Sie ermahnte ihre angespannten Fingerspitzen, sich mit dem Fensterrahmen gut zu stellen und lauschte eine Weile andächtig ins schwächer werdende Zwielicht. Seine Stimme klang warm und kräftig. Sie spielte perfekt zusammen mit dem cáelánischen Dialekt, den sie hier bedauerlicherweise selten hörte.

Ella, du bist fixiert, tadelte sie sich und stellte die Hypothese auf, bei Licht betrachtet, würde er ihren Kriterien ohnehin nicht entsprechen.

In der Einrichtung für höhere Töchter, in der sie sich bis vor wenigen Wochen befunden hatte, bestand der meiste Kontakt zu den anderen Schülerinnen. Sobald jedoch jemand Ella einzuzwängen versuchte, sträubte sie sich innerlich dagegen. Das Kontaktverbot hatte nicht gerade zu gehorsam geführt. Stattdessen hatte sie des Abends die durische Landbevölkerung besser kennengelernt. Dort gab es niemanden, der die Mundart ihres ursprünglichen Heimatlandes sprach. Sie vermisste einfach alles, was damit in Verbindung stand. Mit Beginn der Unruhen an der Grenze war ihre Hoffnung, bald dorthin zurückkehren zu können, zu einer winzigen Kapsel geschrumpft, die beständig in ihrer Brust schmerzte. Die Worte des Fremden hatten daran gerührt und hallten tief in ihrem Innern nach.


Ella schlief unruhig in der Nacht. Früh verließ sie ihr Zimmer. Sie lief den Gästetrakt entlang und steuerte das Flurende an. Gespräche vermied sie gern bei ihren Spaziergängen in den Morgenstunden. Ihr offenes gutgläubiges Wesen litt bereits unter dem schmeichlerischen Rahmen, dem sie zwangsweise bei Tisch unterlag. Seit dem Ende ihrer Zeit im Konvent durchlebte sie eine Phase des Umbruchs, in der sie sich, mehr denn je, zurückzog.

Konvent wurden in Duria Internate für Töchter reicher Bürger genannt. Selbstverständlich war die Verehrung der alten Götter dort strengstens untersagt. Die Lage und der Name legten allerdings nahe, dass diese an Orten errichtet worden waren, die vor der Ratsherrschaft als Tempelanlagen dienten. Für Ella hatte sich aus der Absurdität ein kaum zu ertragender Zwiespalt ergeben. Ihr wurde beigebracht, was die Gesellschaft von einer durischen Dame erwartete und das stand im grellen Kontrast zu dem, was ihre Eltern sie als Kind gelehrt hatten.

Gedankenverloren nahm sie die letzten Stufen und bog um die Ecke. Fast wäre sie mit einer von Grents Mägden zusammengeprallt. Ella kannte sie kaum, glaubte jedoch, sich an den Namen Ferun zu erinnern. Ihr hellbraunes Haar fiel glatt bis weit über die Schultern herab. Ella sah in ungewöhnlich geformte Augen mit langen Wimpern, deren Schwung wirkte, als hätte ihn ein Maler mit seinem Pinsel gesetzt, um damit ihre auffällige Schönheit zu unterstreichen. Offenbar hatte er für ihre Brüste besonders tief in den Tuschkasten getunkt. Feruns üppige Kurven drückten sich wankend unter der weit aufgeknöpften Bluse ab. Die überrumpelte Magd starrte sie fassungslos an. Mit stark geröteten Wangen stotterte sie eine Entschuldigung in ihre Richtung.

»Schon gut! Es ist nichts passiert.« Ella hasste diese Art der Umgangsformen, die sich nach dem Umsturz in Duria ausgebreitet hatten. Der Putsch hatte vor mehr als vier Generationen das Land über Nacht in eine Zweiklassengesellschaft verwandelt. Natürlich lebte hier inzwischen niemand mehr, der es anders erlebt hatte. Ellas Eltern hatten sie in Cáelán-Ait nach den alten Riten erzogen. In Teilen des Nordens waren rudimentäre Elemente des Alten Weges noch immer Brauch. Sie war bereits in Kindertagen nach Duria zu ihrem Onkel gebracht worden und sehnte sich nach der alten Religion und der damit verbundene Ethik, soweit sie sich daran zurückerinnern konnte. Ragin hätte sie höchstpersönlich an den Zentralen Rat verraten, wenn er es gewusst hätte.

Die Gartentür fiel hinter ihr zu, sie marschierte sogleich Richtung Nordwald los. Diesen Teil der Ländereien hatte sie in den vergangenen Tagen, in denen sie oft Erkundungsgänge unternommen hatte, noch ausgelassen. Wenn dieser Tag ähnlich heiß werden würde wie der letzte, wäre die kühle, frische Luft eines Laubwaldes genau die richtige Abwechslung. Es dämmerte. Am Westhimmel beleuchtete ein fahler Streifen den Horizont.

Seit etwa einem halben Jahr weckte sie dieses Gefühl von Rastlosigkeit. Vielleicht handelte es sich um Albträume, an die ihr keine Erinnerung blieb als ihr körperliches Echo. Sobald sie erwachte, breitete sich Unruhe in ihr aus. Sie glaubte, den Grund zu kennen, wahrhaben wollte sie ihn nicht. Ihre Gabe spülte an die Oberfläche. Unaufhaltsam stieg etwas in Ella empor, wie eine Luftblase, die sich aus den dunklen Untiefen des Meeres erhebt.

»Nein«, flüsterte sie und schob den Gedanken in einen entfernten Winkel ihres Selbst, obwohl sie hätte wissen müssen, wie wenig ihr der armselige Trick der Verdrängung dabei half, aufzuhalten, was tief in ihr seinen Anfang genommen hatte.

Ella lief an der Pferdekoppel entlang, die sich an den riesigen Garten anschloss. Nach einer Stunde zügigen Gehens, etwa in der Mitte der Kornfelder, kurz vor dem Wald, bereute sie es, ein Hemd unter ihrem Kleid zu tragen. Die Sommersonne ragte erst als glühender Halbkreis über dem Horizont empor, doch eine stickige Schwüle sorgte dafür, dass sich die dunstige Antwort ihres Körpers darauf unter den zwei Lagen Stoff sammelte.

Nachdem sie endlich in den erlösenden Schatten des Waldes getreten war, überlegte sie kurz, welchen Weg sie einschlagen sollte. Es führten zwei Pfade von dem Feldweg ab, auf dem sie stand. Der eine verlief nördlich. Von ihm wusste Ella, dass er in einem Dorf namens Rieg endete. Der zweite, in nordwestlicher Richtung, musste nach etlichen Wegstunden auf die Handelsstraße führen, über die sie mit ihrem Onkel hergekommen war. Nach Osten hin wurde die Landschaft felsig und unwegsam, da in dieser Richtung das Krenngebirge lag; eine Bergkette, die vulkanischen Ursprungs sein musste. Sie ragte aus dem flachen Land empor, als hätte sie jemand als Mauer dort errichtet. Ella entschied, dem dritten, nicht vorhandenen Weg zu folgen. Sie bevorzugte gerade eine steinige, menschenleere Strecke.

Da hier niemals jemand entlang zu laufen schien, versuchte sich Ella markante Bäume und Steine zu merken und setzte ein Zeitlimit, nach dem sie umkehren wollte. Nach einer weiteren Stunde nahm sie das Plätschern von Wasser wahr. Geradezu ekstatisch geriet sie daraufhin in Freude über einen kleinen See, den sie hinter einem Buchenblattdickicht erspähen konnte. Er lag unterhalb eines Felsvorsprunges, der etwa ein Dutzend Fuß maß. Moose und Farn bewuchsen die feuchten Steine, von denen das Wasser herabfiel und sprudelnd in den See floss. Von Bäumen und Sträuchern umsäumt, teilte er weit, dunkel und unergründlich den Wald, wie ein kreisrunder Krater.

Näherkommend erkannte Ella, weshalb es keine Uferzone gab: Der See fiel vom Rand an sofort unerwartet tief ab. Angestrengt sah sie in das dunkelblaue, kristallklare Wasser, konnte jedoch keinen Grund sehen. Aus Fels, schoss es ihr in den Kopf. Einen Moment lang stand sie wie verzaubert da, lauschte dem Plätschern des Wasserfalls. Gleichzeitig zelebrierten die Vögel lauthals den Sommertag.

»Gar keine Frage«, murmelte sie und zog Kleid, Hemd und Schuhe aus. Das kühle Nass streichelte ihre aufgeheizten Glieder. Eine Weile schwamm Ella kreuz und quer durch den See. Plötzlich, kaum hatte sie die Mitte erreicht, stieß sie mit dem rechten Knie unsanft gegen etwas Hartes. Ihr Schmerzensschrei scheuchte einen Schwarm Finken mit klatschendem Flügelschlag dem wolkenlosen Himmel entgegen. Ella tastete mit einer Hand nach dem lädierten Knie, versuchte, sich gleichzeitig zu drehen. Sie ruderte wild mit dem freien Arm, um nicht unterzutauchen. Prustend bekam sie das Objekt zu fassen, das ihr die Schmerzen eingebrockt hatte. Es handelte sich um einen riesigen, runden Stein knapp unter der Wasseroberfläche. Sie zog sich an ihm hoch und nahm mit einiger Mühe auf ihm Platz.

Zumindest blutete ihr Knie nicht. Doch pochte es noch immer wie Hammerschläge durch ihre Knochen. In der Hoffnung, den Schmerz zu reduzieren, streckte sie das Bein im Wasser aus und lehnte sich dabei zurück. Den Kopf in den Nacken gelegt, gab sie sich einige Augenblicke den warmen Sonnenstrahlen hin.

Im Begriff sich wieder auf den Rückweg zu begeben, bemerkte sie etwas unter der Wasseroberfläche auf dem Stein. Ihre Entdeckung versetzte ihr einen weiteren Stich gänzlich anderer Natur. Nicht einmal fünf Generationen, dachte Ella. Gedankenverloren saß sie da und starrte durch die glitzernde Oberfläche hindurch auf das altdurische Symbol der Gottheit Vhochâl, das vor langer Zeit dort eingemeißelt worden war. Sie saß auf dem Ritualplatz einer Priesterin oder eines Priesters der alten Religion. Mehr noch. Dieser Platz war ihrer eigenen Göttin geweiht. Ella hielt für einen Moment den Atem an.

Als Kind war sie im alten Glauben erzogen worden. Seitdem sie die Grenze zu Duria überschritten und ihr früheres Leben in Cáelán-Ait zurückgelassen hatte, war der Alte Weg für sie theoretisches Bücherwissen geworden. Eines dieser zahlreichen, heiklen Bücher, die sie unbeobachtet las. Innerhalb der Grenzen Durias war es bis hin zur Todesstrafe verboten, sich mit dem alten Glauben zu befassen. Mit dem Putsch waren nicht nur die einstigen Bräuche und Riten untersagt worden, es war keinem Begabten mehr gestattet, seine Gabe ohne die Aufforderung eines der Mitglieder des Zentralen Rates zu benutzen.

Mit einem Mal begann Ellas Herz zu rasen, während sich ihre Sinneswahrnehmungen verlangsamten. Sie hörte ihren Herzschlag dumpf in ihrem Innern dröhnen, er verschmolz mit dem Plätschern des Wassers und den Vogelstimmen. Aus einer entrückten Sicht nahm sie ihren nächsten Atemzug wahr, als würde sie sich selbst dabei zusehen. Ihre Lungen füllten sich mit dem Geruch nach Wald, dem Duft der Sommerblumen, die farbenfroh den Felshang bevölkerten. Abrupt stieß sie sich mit aller Leibeskraft vom Stein ab. Der Schmerz in ihrem Knie und das kalte Wasser brachten sie unsanft zurück ins Jetzt. Ihr Körper rebellierte gegen den Schock, der ihm zugefügt worden war. Froh nach einigen hektischen Schwimmzügen das Ufer erreicht zu haben, lehnte sich Ella, nackt wie sie war, gegen einen Baum und schloss die Augen, bis sich ihr Herzschlag beruhigte. Sie zog ihr Kleid an, ließ jedoch wohlweislich das Hemd aus, das sie für den Fußmarsch zusammenrollte.

Die meisten Begabten kannten ihre Gabe nicht oder am Ende nicht einmal ihr schlummerndes Potenzial. Sie dagegen wusste, was hinter den Mauern ihres Bewusstseins harrte. Ella hatte in ihrer Kindheit den alten Initiationsritus vollzogen.

Aufgrund der politischen Lage war ihr beigebracht worden, wie sie die Gabe unterdrücken konnte. Nichts von all dem, was da im Verborgenen lauerte und an die Oberfläche drängte, hatte eine Gelegenheit wahrgenommen zu werden. Unbarmherzig ihrer eigenen Natur gegenüber hatte sie jedes verbotene Fünkchen in ihr ausgehaucht, bevor es vollständig zu leuchten begann. Inzwischen war die Mauer, die sie um ihr Selbst errichtet hatte, so groß geworden, dass sie sich davor fürchtete, was sie dort unter Verschluss hielt. Sie wusste, wie sie kontrollieren konnte, die Gabe nicht zu gebrauchen. Würde sie weiterhin die Kontrolle behalten, wenn sie die Begabung nutzte, die sie hatte? Schlimmer noch, was wenn diese Fähigkeiten in einem unpassenden Moment ihren Raum forderten, so wie es eben geschehen war?


Candhun

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