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7. Thyrons Zorn

Krautmond im Jahre 151 durischer Ratsherrschaft

(durische Zeitrechnung)

Ella öffnete die Augen. Von tiefschwarzer Finsternis umhüllt, tastete sie um sich. Sie musste sich noch immer in der Kutsche befinden. Etwas hatte sich verändert, sie konnte nur im ersten Moment nicht sagen, was es war. Mit einer Hand lüftete sie den Vorhang von dem Kutschenfenster ein Stück. Silbernes Mondlicht schwappte herein. Jetzt wusste sie, was nicht stimmte, Llew saß ihr nicht mehr gegenüber. Außerdem war das Holpern verstummt. Wie lange hatte sie geschlafen?

Sie schlug die halb hinuntergerutschte Decke zur Seite. Das völlig verunstaltete Leinenhemd, das sie nach wie vor trug, kam darunter zum Vorschein. Ein Kleidungsstück, das weniger abenteuerlich aussah, würde nicht schaden. Auf der Suche nach etwas zum Anziehen durchforstete sie eine Tasche, die sie unter der Bank ihr gegenüber gesehen hatte. Schließlich fand sie einen schwarzen Umhang darin, den sie über warf. Zögerlich öffnete Ella die Tür und kletterte die zwei kleinen Stufen hinunter. In einiger Entfernung registrierte sie mehrere Pferde, die reiterlos grasten.

Die Kutsche hatte mitten auf der Handelsstraße angehalten, ein Stück vor einer Brücke. Sie kannte die Stelle. Auf dem Weg zu Ragin hatten ihre Mutter und Ella sie ebenfalls passiert. Auf dieser Seite des Gebirges stellte die Krenn, ein Fluss, die Grenze zwischen Duria und Cáelán-Ait dar. Die Brücke war die einzige Möglichkeit hinüber zu gelangen.

Sollte sie wieder einsteigen?

Wenn sie unter der Diplomatenflagge die Grenze überqueren wollten – das war die einzige Option zurzeit – wäre es besser, sie hier nicht derartig zugerichtet vorzufinden. Doch da sie Niemanden sah und auch nichts hörte, trieb ihre Neugier sie zielsicher in Richtung Brücke. Der Grenzübergang lag hinter einer Kurve. Auf der anderen Seite der Straße konnte sie die Uferböschung erkennen. Durch den Wind und das Säuseln des Wassers, das zwischen den Steinen am Ufer entlang gedrängt wurde, hatte sie die Stimmen, auf die sie zuschritt, nicht gehört. Die Seherin machte eine Gruppe Menschen auf der Uferböschung aus. Eine seltsame Beklommenheit überkam sie. Jemand aus der kleinen Versammlung erhob eine Fackel. In ihrem aufgeregten, unregelmäßigen Schein zwang einer der Männer, der mit einem großen Zweihänder bewaffnet war, Llew vor ihm auf die Knie zu gehen. Daneben lag der Kutscher, den sie bei Llews und Vanadis Ankunft gesehen hatte, reglos und kopflos im Gras. Kalte Angst griff nach der Seherin, eisig bohrte sie sich in jede einzelne Zelle Ellas Körpers. Der Mann am Ufer hob das Schwert und schlug sofort zu. Sie schrie, doch der dazugehörige Ton schien von weit weg zu ihr herübergetragen zu werden. Er löste sich in ein stimmloses Gurgeln auf. Im selben Moment fiel eine Frau direkt neben Llews leblosem Körper zu Boden.

»Was sollen wir jetzt mit denen machen?«, fragte eine kehlige Männerstimme.

»Rodrik hat gesagt, dass die Leichen verschwinden sollen. Werfen wir sie doch in den Fluss.«

Um Ella wurde es schwarz. Ihre Augenlider wogen zu viel zum Anheben und ihre Gedanken drifteten auseinander, als hätte sie eine Überdosis Schlafmittel eingenommen. Sie war sicher, eine warme Hand auf ihrem Schenkel zu spüren, direkt oberhalb des linken Knies. Llews Stimme streichelte Ellas angsterfüllten Geist mit einem Meer aus beruhigenden Worten, in dem sie wieder und wieder versank. Es gelang ihr, zu blinzeln. Noch war es relativ hell. Ein vorwitziger orangeroter Abendsonnenstrahl drängelte sich an der Seite des Vorhangs in die Kutsche herein. Ihre Decke war zurückgeschlagen worden. Llew saß direkt vor ihr, eine Hand an seiner Brust und eine an Ellas – Schenkel?

»Was machst du denn da?« Sie klang erstaunt.

»Dich heilen. Wonach sieht es denn aus?«

Er warf ihr einen belustigten Blick zu. In aller Ruhe legte er einen Verband um ihr Knie. Danach ließ er das Kräuterbündel los, das er anscheinend als Fokus für einen Heilzauber verwendet hatte. Die Seherin wurde das Gefühl nicht los, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben. Llew vermutete hinter ihrer erstarrten Miene wohl etwas anderes.

»Ist nicht das erste Mal, dass ich dich im Hemd sehe«, erinnerte er sie sachlich. »Richtig, ich trage ja noch immer das Hemd«, murmelte Ella, bemüht, den ausgerissenen Gedanken einzufangen.

»Ja, bitte entschuldige, ich konnte heute Morgen in der Aufregung deinen hübschen, roten Zweiteiler nicht finden«, versuchte Llew, sie zu necken.

Die Erinnerung kehrte zurück.

»Könntest du mir bitte deinen schwarzen Umhang leihen?« Llew sah sie verständnislos an. Mit einer Hand tastete sie nach der Tasche unter der Bank und zog den Umhang heraus. »Den hier meine ich.«

»Dachte ich mir, da ich nur den einen habe. Woher wusstest du davon? Du hast doch die ganze Zeit geschlafen.« Er musterte sie mit einer Mischung aus Argwohn und Neugier. Seine angespannten Muskeln verrieten Ella, wie unheimlich er das fand.

»Du glaubst mir doch, dass ich keine Ratsanhängerin bin, oder?«, fragte sie vorsichtig. Er antworte mit einem breiten Grinsen, blieb jedoch wachsam. »Keine Sorge, das gehört zu den Dingen an dir, bei denen ich mir absolut sicher bin.«

»Gut, ich befürchte, jetzt ist ein schlechter Zeitpunkt für Erklärungen. Daher muss ich dich bitten, mir zu vertrauen, wenn ich dir sage, dass uns fünf oder sechs von Rodriks Männern verfolgen, mit dem Auftrag uns zu töten. Wir sollten besser einen Weg finden, unbemerkt zu verschwinden.« Während ihrer Rede wickelte sie sich umständlich in den Umhang.

Mit einem Satz war Llew am hinteren Fenster und spähte vorsichtig an der Seite des Vorhangs nach draußen. Dabei machte er ein Geräusch, das Ella deutlich an ein heranrasendes Sturmtief erinnerte. Schnell schob er den Stoff vor beiden Seitenfenstern zurück, um sich einen Überblick zu verschaffen. Ella wollte gerade auf die Frage nach dem Plan zu sprechen kommen, da zog er sie neben sich. Durch das Fenster deutete er auf eine Kurve, die der Weg vor ihnen machte. Sie fuhren durch einen Wald, der an dieser Stelle besonders dicht bewachsen war. Llew öffnete die Tür einen Spalt.

»Sobald wir dahinten sind, springst du, versteckst dich und wartest auf mich, verstanden?«

»Ich weiß nicht, ob das –«

Er neigte den Kopf leicht zur Seite, um ihr zu verdeutlichen, wie unwichtig ihm ihre Meinung war.


Ella setzte auf dem Waldboden auf. Sie war froh über das viele Moos. In ihren Knien spürte sie bei dem Ruck ein schmerzhaftes Pochen. Sie zog sich ins Unterholz zurück. Die Kutsche fuhr langsam um die Kurve. Wie schlimm wäre ihr Zustand ohne Llew und Vanadis?

»He Mädchen, kannst du mir helfen?« Bevor sie sich beherrschen konnte, hatte sie einen Schrei ausgestoßen. Flehend wiederholte der cáelánische Soldat seine Bitte. Übersät von klaffenden Schwertwunden und blutüberströmt lag er in einem Azaleendickicht, in dem sie sich versteckt hatte.

»Schhh, sei still! Oder willst du uns umbringen?« Sie stellte die Frage zeitgleich mit Llew, der lautlos an ihrer Seite aufgetaucht war. Er hob erstaunt eine Braue. »Du hast mich gehört?«, flüsterte er so leise, dass sie ihn kaum verstand.

»Oder redest du mit dir selbst?«

Er las Ella die Verwirrung scheinbar vom Gesicht ab und legte kurz einen Finger auf ihre Lippen. Seine Augen wanderten in Richtung Handelsstraße. An seiner Haltung sah sie, dass er lauschte. Sie selbst vernahm nichts als das Wimmern des verletzten Soldaten. Jäh jagte eine wütende Wolke Angst durch sie hindurch. Hatte der Krieg schon begonnen? Llew wies sie mit einer Handbewegung an, in den Wald hinein zu gehen. Sie verharrte. Von der Auswirkung ihrer Furcht einmal abgesehen, wie konnte er den jammernden Schwerverletzten ignorieren?

Hufgetrappel von Pferden, die den Weg zurück trabten, kündigte unstrittig ihre Verfolger an. Nach einem weiteren hilflosen Blick auf den Soldaten kam sie der Aufforderung nach.

Ella gab sich große Mühe, geräuschlos zu laufen. Das Laub und die trockenen Äste, die überall lagen, verhinderten diesen Plan. Von Llew hörte sie nichts.

Kümmerte er sich um den Cáelánen?

Eine große Klinge schnellte hinter einem Stamm hervor. Drohend verwehrte ein breitschultriger Krieger ihr die Flucht. Er trug eine nietenbesetzte durische Lederrüstung mit dem Arealwappen. In seinem Gesicht formte sich ein siegreiches Lächeln. Noch bevor Ella den Mund für einen Schrei öffnen konnte, erschlaffte die Miene des Angreifers. Er sackte nahezu geräuschlos auf das Gras am Fuß des Baumes. Neben ihm erschien Llew. Er schob seinen Dolch zurück in den Gürtel.

Jemand rief: »Hierher. Ich hab sie!«

Llew griff nach dem Schwert des Toten. Er hastete sofort mit einigen Sätzen an ihr vorbei. Ella duckte sich mit zitternden Beinen hinter einen Baum. Sie beobachtete, wie Llew mit Dolch und Schwert bewaffnet gegen einen kräftigen Mann mit Kriegsaxt kämpfte. An der Waffe leuchteten bei jedem Schlag fremdartige Runen auf. Stiel und Blatt der Axt waren über und über damit graviert. Eine dunkle Gugel verdeckte das Gesicht des Mannes, nicht seine überdimensionierten Unterarme. Ella verfolgte erstarrt seine unentwegten Angriffe. Für einen Lidschlag kehrte die Szene aus ihrer Vision zurück.

Suchend ließ sie ihren Blick zwischen den Bäumen hindurch wandern. Dort entdeckte sie entsetzt einen weiteren Mann. Dieser war mit einem Zweihänder bewaffnet auf direktem Weg, um seinen Gefährten zu unterstützen. Ella erkannte ihn: Er hatte die Exekution durchgeführt.

Hektisch tastete sie auf dem Boden nach einer brauchbaren Waffe. Sie fand einen schweren Stein. Mit beiden Händen packte sie zu und flehte stumm, dass sie unentdeckt blieb. Der Zweite näherte sich langsam ihrer Position.

Wie ein wildes Tier wirbelte der vermummte Axtkämpfer mit der schweren Kriegswaffe. Er traf Llews Dolch, dieser schlitterte raschelnd durchs trockene Waldlaub. Ella hörte ein Stöhnen, Blut triefte über die ungeschützte Hand des Cáelánen.

»Das Mädchen ist hier irgendwo!«, brüllte der Axtkämpfer. Sie zuckte zusammen. Ihre Gliedmaßen gehorchten nicht, die Seherin konnte sich kaum rühren vor Schreck.

Llew wich rückwärts vor dem Axtkämpfer zurück. Es kostete ihn viel Kraft, die Attacken abzufangen, die ihm zu nahe kamen. Anstrengung spiegelte sich deutlich in seinen Bewegungen.

Der Mann mit dem Zweihänder kam weiter auf ihre Deckung zu. Angespannt pochte ihr Puls durch die enge Brust. Sie drückte sich ängstlich gegen den Stamm des Baumes. Wenige Fußlängen und sie würde die Sicht zugunsten ihrer Deckung opfern müssen. Llew stieß seitlich gegen einen dicken Ast und geriet ins Straucheln. Er rollte sich ab. Die Axt riss dicht neben seiner Schulter Späne aus einer jungen Buche. Beim Aufstehen bemerkte Ella etwas Blitzendes in seiner verletzten Hand. Er gab einen kurzen Schmerzlaut von sich. Eine winzige Klinge schoss durch die Luft. Sie schlug in die zerfurchte Borke einer Eiche und blieb dort, knapp hinter dem zweiten Mann, stecken. Der Näherkommende drehte sich irritiert um, damit bot er Ella den Rücken an. Ohne weitere Überlegungen machte sie zwei Schritte und hieb ihm den Stein mit aller Kraft in den Nacken. Der getroffene Wirbel brach knackend. Ihr Opfer fiel mit einer unvollendeten Drehung vor ihr auf den belaubten Grund. Llew nutzte den Moment und der Muskelberg bezahlte die kurze Unaufmerksamkeit mit dem Leben. Zusammen mit dem Stein, den Ella angewidert fallen ließ, schlug sein schlaffer Körper auf dem Boden auf.

Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, starrte sie auf den getöteten Mann zu ihren Füßen. In diesem Moment fehlte ihr jegliche Reaktion darauf, die sie als angemessen hätte akzeptieren können. Ihr Blut rauschte dröhnend durch ihren Körper, kaum ein anderes Geräusch drang zu ihr durch. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Llew seine Hand mit etwas umwickelte. Zuvor hatte er die Axt an seinem Gürtel befestigt. Die zwei anderen Toten verscharrte er grob unter dem trockenen Waldlaub.

Ella fühlte nichts, nicht einmal Erleichterung darüber, außer Gefahr zu sein.

»Alles in Ordnung bei dir?« Llew war längst bei ihr. Unerwartet aus ihrer Erstarrung gerissen, atmete sie erschrocken ein.

»Ich wurde nicht verletzt«, murmelte sie wahrheitsgemäß, ohne die Augen von dem Toten abzuwenden. Llew nahm ihr Gesicht in beide Hände und drängte sich in ihr Sichtfeld.

»Ich weiß«, seine weichen Worte erschütterten sie mehr als die unwirklich erscheinende Szene.

»Ich wollte wissen, ob alles in Ordnung ist.«

Ella spürte, wie das Chaos der Gefühle an die Oberfläche ihres Bewusstseins floss. Sie wollte vor Llew nicht zusammenbrechen. Um sich seiner Berührung und seines Blickes zu entziehen, machte sie einen hastigen Schritt rückwärts.

»Mir geht's gut«, beeilte sie sich zu sagen.

Er musste zumindest eine Ahnung davon haben, wie es in ihr aussah. Seit heute Morgen, als sie in sein Zimmer geplatzt war, relativierte sich Stück für Stück die Rücksichtslosigkeit, die sie ihm zugeschrieben hatte.

Der Gedanke an den Soldaten im Unterholz drängte sich ihr allzu bildhaft auf. Wer mochte ihn derartig zugerichtet haben?

»Ich denke, die anderen drei sind erst einmal der Kutsche gefolgt oder wovor hast du plötzlich wieder Angst?« Seine ruhige Stimme zerschnitt ihre aufkeimende Panik.

»Doch nicht vor mir?« Da er sich übergangslos dem Einscharren ihres Opfers widmete, entschied sie, dass es sich um eine rhetorische Frage handeln musste. Seine Miene jedenfalls verriet ihr auch diesmal nichts Aufschlussreiches darüber.

»Wir sollten uns beeilen, die anderen werden ganz sicher nach uns suchen und wir müssen aus dem Wald heraus, bevor es dunkel ist. Außerdem sollte uns etwas einfallen, wie wir den Fluss überqueren können.«

Nachdem das alles war, das er sagte, hielt sie diese These für bestätigt. Nur fragte sie sich noch immer, weshalb er dem Soldaten nicht die geringste Beachtung geschenkt hatte. »Warum hast du denn den cáelánischen Milizionär einfach ignoriert?«

»Wen?« Llew warf ihr einen erstaunten Blick zu, der alles andere als undefinierbar war. Er wandte sich zum Gehen. Mit einer Hand in ihrem Rücken deutete er ihr an, wie eilig er es hatte.

Unsicher ergänzte sie:

»Der blutende Mann, direkt neben der Straße?«

»Was genau ist dir gestern Nacht eigentlich passiert?« Die Gegenfrage ärgerte sie nicht nur, fernerhin trat sie mit ihrem nackten Fuß auf einen spitzen Stein. Fluchend beschloss sie, ihre Konzentration erst einmal auf den Weg zu lenken, den es nicht gab. Ella wollte zurzeit weder ihre Verwirrung mit Llew teilen, noch die Erinnerungen an das zerstörte Dorf wachrufen. Sie folgte ihm schweigend durch den Wald und gab sich ihren wilden Gedankenkreisen hin.


Candhun

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